10 · Jeff Röckelein ·
Dresdner Stollen

»Guten Morgen, Frau Hertrich!«

»Ja, der Herr Barnickel! Grüß Sie Gott. Auch wieder mal im Land? Gut schaun S’ aus.«

»Was will mer machen, die Konkurrenz ist groß.«

»Na, des woll’n mer doch hoffen. Was darf’s denn heute sein?«

Frau Hertrich ist Anfang vierzig und deutlich jünger als ich, eine fröhliche, herzliche, dunkelblonde Augenweide. Vor zwei Jahren fiel ihr Mann eines Morgens in seiner Backstube einfach tot um, eine nicht erkannte Mitralinsuffizienz, und seitdem führt sie das Geschäft mit einem Gesellen und einem Lehrmädchen weiter. Immer, wenn ich dienstlich nach Kronach muss, kaufe ich bei ihr ein, unter anderem deswegen, weil sie drei Sorten dunkles Brot im Angebot hat und sechs Sorten Semmeln, die man auch nach zwei Tagen noch essen kann. Und weil es hier riecht wie in den alten Zeiten, nach Sauerteig, Mehl und Brotdampf, nach Brezenlauge, Käskuchen und Bienenstichmandeln, und weil ihr Geselle eine Schwarzwälder Kirsch zaubert zum Niederknien. Wenn der Laden leer ist, darf geschäkert werden, was sag ich – muss geschäkert werden, denn: siehe oben.

»Könnten Sie mir die Hälfte von dem Dresdner Stollen dort geben?«, frage ich und setze mein Professor-Brinkmann-Gesicht auf, von dem ich hoffe, dass es mein Wettbewerbsvorteil ist, mein »Alleinstellungsmerkmal«, wie man heute sagt.

»Die Hälfte können Sie haben, aber ein ›Dresdner‹ Stollen ist das nicht.«

»Er sieht aber aus wie einer.«

»Tja, die Männer. Hauptsache, es sieht nach was aus.«

»Wie sonst soll man an den Inhalt rankommen, wenn nicht übers Aussehen, schöne Frau?«

Franziska Hertrich hat ein blauweiß kariertes Dirndlkleid an, dazu eine weiße Bluse und eine hellblaue Halbschürze mit weißem Muster: zarte senkrechte Blumengirlanden von der Taille bis zum Saum. Der rechteckige Ausschnitt des Oberteils ist mit einer schwarzen Bordüre gesäumt, die von blauen Schleifchen durchbrochen wird. Mittig unter dem Busen ist ein schwarzer Latz appliziert und darauf ein blauweißes Stoffherz, das von über Kreuz gespannten Silberkettchen gehalten wird. Im V-Ausschnitt der Bluse, und genau an der richtigen Stelle, hängt ein kleiner, goldgefasster Rubin an einer filigranen Goldkette. Die Rubine in den Ohrsteckern komplettieren das Ensemble, der Lippenstift ist dezent darauf abgestimmt. Heute trägt sie wieder Pferdeschwanz. Sie lacht.

»Gilt denn problemlösendes Handeln nicht als das Männerding schlechthin, junger Mann?«

Junger Mann! Sie schneidet mit dem Wellenschliffmesser den Stollen durch.

»Sie meinen das beherzte Zupacken, Frau Hertrich?«

»Das auch. Aber vorheriges Denken soll ja nicht schaden, damit man nicht gleich mit der Kettensäge kommt, wenn’s eine feine Klinge auch tut.«

»Und warum ist das jetzt kein ›Dresdner‹?«

»Wegen der Wende-Vereinbarungen natürlich.«

Ja, Frau Lehrerin.

»Seit 1996 dürfen sie nur dann so heißen, wenn sie aus der Region Dresden kommen.«

»Aus Sachsen, wo die schönen Mädchen wachsen.«

»Warum wollen S’ denn unbedingt in die Ferne schweifen, Herr Barnickel?«

Ihre blauen Augen weiten sich vor schelmischer Verwunderung, glitzern und sehen mich an. Ihre Brauen heben sich um drei erwartungsvolle Millimeter, und ihre Mundwinkel fragen, was sie eben fragen. Aus Professor Brinkmann wird wieder Heiner Barnickel, und der magische Moment geht vorbei.

»Und wie heißt das Ding jetzt?«

»Das Ding, mein Herr, heißt jetzt ›Christstollen‹.«

»Vermutlich, weil der große Wendekanzler auch ein großer Christ ist, oder?«

Es ist dieses natürliche Lachen – nicht zu laut, nicht anbiedernd, keine affektierte Koloratur, kein vulgärer Nachhall, das weder aus dem Bauch noch aus der Kehle kommt, sondern vermutlich von irgendwo hinter den silbernen Kettchen, wo sich die Seele dieser schönen Frankenwäldlerin befinden muss.

»Machen Sie die noch selbst?«

»Die Stollen? Aber naa. Wo denk’n S’ denn hin.«

 

Ja, wo denke ich hin?

 

Der Bratwurstbrater von der anderen Straßenseite kommt in seiner blauweiß gestreiften Jacke und der langen, nicht mehr ganz sauberen Schürze herein. Er bringt einen Henkelkorb und eine Duftwolke von seinen Thüringer Rostbratwürsten mit und braucht »dreißich Semmela«, denn heute ist Markttag in der Oberen Stadt.

»Darf ich dem Andrejs schnell seine Semmela geben?«, fragt sie mich.

»Ich bitte darum.«

 

In den Sechzigerjahren haben wir die Dresdner Stollen noch selbst gemacht, leichte, mittlere und schwere. Wir haben Ende November damit begonnen und die an Weihnachten nicht verkauften im Kellergewölbe gelagert. Man konnte sie ohne Weiteres noch an Ostern essen.

Ich war Lehrling in der Feinbäckerei Eberth in Schwarzenbach gewesen. Es gab damals keine Auszubildenden, sondern nur »Stifte«. Unsere Backstubenbesatzung bestand aus dem »Masster«, zwei »Beggn«, einem »Kondidder« und mir als »Stift«. Kehren, putzen und sauber machen; Semmeln, Brezen und Hörnla ausfahren; Milch, Quark und Butter holen, den anderen bei der Arbeit zuschauen, den Mund halten und sich rechtzeitig unsichtbar machen – »Lehrjahre sind keine Herrenjahre«, wussten der Volksmund und meine Mama. Die Hackordnung änderte sich normalerweise erst mit der Gesellenprüfung oder mit der Beförderung zum Oberstiften, falls ein neuer Lehrling eingestellt wurde. Das Gesetz war bereits in Kraft, wonach unter Sechzehnjährige erst ab sechs Uhr arbeiten durften und nicht schon um halb vier antreten mussten wie die Gesellen. Deshalb war ich am Nachmittag, wenn »die Beggn« schon in ihrem Zimmer unterm Dach schliefen, noch mit dem Abschaben der Backbleche dran. Im dritten Jahr war ich dann in der Lage, den Backzettel mit dem Arbeits­pensum des nächsten Tages zu lesen, und musste deshalb, nach dem »Blecherbutzen«, die jeweiligen Zutaten abwiegen. Sie kamen, Häufchen für Häufchen, auf je einen Doppelbogen Zeitungspapier und wurden auf dem langen Backtisch in der richtigen Reihenfolge aufgereiht, die überstehenden Seitenränder links und rechts hochgezogen, bis man eine Zeile mit lauter wackeligen Us vor sich hatte.

Für die Dresdner Stollen waren das beispielsweise: Mehl, Hefe, Sultaninen, Orangeat, Zitronat, Mandelstifte, Zucker, Salz. Die anderen Zutaten – Eier, Milch, Arrak, Butter, Honig, Puderzucker, manchmal auch Marzipan und Persipan – wurden erst unmittelbar vor dem Ansetzen des Teiges bereitgestellt.

In der Backstube herrschte ein unsentimentaler Ton. Nach dem Krieg hatte Georg Eberth den altdeutschen Steinbackofen mit Kohlenfeuerung herausgerissen und durch einen gasbeheizten Konvektionsofen mit sechs Etagen ersetzt, die per Hand mit dem Brotschieber oder mit Backblechen beschickt wurden oder, etwa bei den Semmeln und Weißbroten, mit Abziehapparaten. In jedem Fall musste es hopphopp gehen, um die Hitze im Innern konstant zu halten, zum Beispiel bei den Laugenbrezen: Der »Masster« sah durchs Etagenfenster, wann sie die richtige Farbe hatten, rief »Ánpacklappénn!«, ein Kommando von kompromissloser Eindeutigkeit und zugleich synkopischer Musikalität, holte die Bleche eines nach dem anderen mit dem Schieber heraus und warf sie auf den mit einer Holzplatte abgedeckten fahrbaren Teigkessel in der Mitte der Backstube – ohne sich darum zu kümmern, ob da einer von uns stand, um sie entgegenzunehmen und auf den Steinboden zu legen. Die Anpacklappen waren dicke Jutelumpen oder bestenfalls Asbesthandschuhe, die über Kopf auf dem Hängegestell vor der Ofenfront lagen. Hatte man die Hände nicht schnell genug geschützt oder beim Anfassen der heißen Bleche nicht aufgepasst, waren Brandwunden unvermeidlich. Hatte es einen erwischt, goss man nach damaliger Praxis Salatöl darüber oder hielt, wenn keines greifbar war, den Arm unters kalte Wasser – was als falsch galt. Blasen gab es so oder so.

Das Kommando »Ánpacklappénn!« entsprach wohl in etwa dem Ruf »Alaaarm!« auf einem Kriegsschiff. Gebellte Kommandos, höchste Konzentration, wer am nächsten beim Ofen war, ließ alles liegen und stehen, die anderen gingen aus dem Weg und zogen die Köpfe ein. Der Ruf erschallte auch, wenn das Brot raus musste. Der »Masster« – und nur er oder, in seiner Abwesenheit, der dienstälteste Geselle, durfte einschießen und ausbacken – holte die Laibe mit dem Holzschieber heraus und warf sie dem Mann mit den Anpacklappen zu, der sie auffangen und sofort ablegen musste. Und wehe, einer fiel zu Boden.

Ohrfeigen waren damals kein Problem. Man kam zu nachtschlafender Zeit in die Backstube, vergaß, »Gudmoing« zu sagen, und schon hatte man eine sitzen. Es gab »a Schelln« als freundliche Ermahnung, sozusagen, oder, in der unwirschen Variante, »a boa Drümmerlabbnschelln«, wie sie beispielsweise mir widerfuhren, als ich einmal den Tortenträger zum Lieferwagen tragen sollte, wobei der nicht richtig eingerastete Verschlussdeckel nach vorn herunterklappte und den Kasten in Schräglage kippte, sodass Käsesahne-, Prinzregenten- und Sachertorte aufs Pflaster platschten. Die weichen Konsonanten in »Drümmerlabbnschelln« sprechen der Wirklichkeit Hohn – die alte fränkische Überlebenstechnik, die Härten des Lebens zu kaschieren oder doch zumindest dialektisch aufzuweichen. Nur an den »Ánpacklappénn!« war die altfränkische Lautverschiebung spurlos vorübergegangen.

In meinem dritten Lehrjahr kam die Moni und wollte Verkäuferin lernen. Sie stammte aus »Rabbichgrün« (»Rappoltengrün« auf der Landkarte) und fuhr jeden Morgen mit dem Bus her und abends wieder heim. Die Moni hatte einen brünetten Pferdeschwanz und eine Stupsnase, war vierzehn, ein kleines, schnippisches Landei, das sich vor dem Männergetöse in unserer Backstube unter die Fittiche der Meisterin flüchtete, wo sie sich auch vor Herrn Eberths Grobheiten sicher wähnte. Ich war vom ersten Tag an in sie verliebt und versuchte bei jeder Gelegenheit, um sie herumzugockeln, was natürlich keinem verborgen blieb und mir ein giftiges »Du lässt die Moni in Ruh, damit das klar ist!« seitens der Meisterin und eine Frühwarnschelln von ihrem Mann einbrachte.

Eines Abends begleitete ich sie trotzdem zur Bushaltestelle, und es wurde schnell deutlich, dass ich so gar nicht ihr Typ war. Mit sechzehneinhalb wusste ich noch immer nicht, wohin ich meine langen, unkoordiniert herumschlackernden Arme tun sollte; ich kam wie der typische Magermilchkrüppel daher, mit eingefallenem Oberkörper und eckigen Schultern. »Lulatsch«, sprach unser Turnlehrer, »zum Max Schmeling wird’s zwar nicht ganz reichen, aber wir könnten ja versuchen, dir übers Boxen wenigstens den aufrechten Gang beizubringen.« Und weil auch meine Mama bei ihrem Jüngsten ein gewisses Optimierungspotenzial erkannte und den Herrn Förtsch mochte, ging ich ein halbes Jahr lang jeden Freitagabend in die SG Boxen, die dieser ehrenamtlich leitete: Seilhüpfen, Gymnastik, Kraftraum, Sandsack, Schattenboxen und zum Schluss eine Runde Sparring. »Deine Reichweite ist gut«, sagte er, »und dein Schlag auch. Du bist bloß noch zu wackelig auf den Beinen und insgesamt zu lahmarschig.« Das war dann auch der Grund, warum mich der Edgar Kimmel eines Abends mit einem Uppercut derartig auf die Matte schickte, dass ich genug hatte. Stattdessen bastelte ich in Eigenregie an meinem Gang herum. Mal wollte ich als Johnny Weissmüller daherkommen, Brust raus (wenn eine dagewesen wäre), Kreuz durchgedrückt (dito), dann wieder rotzig wie Horst Buchholz in Die Halbstarken oder wiegend wie Errol Flynn als Herr der Sieben Meere. Und von Mädchen verstand ich schon überhaupt nichts, da ehemaliger Ministrant und einschlägig katholisch verbogen.

Die Moni hingegen hatte bereits klare Vorstellungen. Beim zweiten oder dritten Mal erklärte sie, ihr Traum sei es, sich einen Ami zu schnappen und mit ihm in die USA zu gehen. Daraufhin probierte ich es mit der oberlässigen James-Dean-Pose, steckte die Daumen in den Bund meiner »Röhrenhosen« und kaute schmatzend einen Wrigley’s nach dem anderen. Eine unsägliche Nummer, schon klar. Aber ich war halt weiterhin in die Moni verliebt und schmachtete und pubertierte vor mich hin.

Wenn die Verkäuferinnen morgens mit dem Zug, Bus oder dem Rad zur Arbeit kamen und abends wieder gingen, zogen sie sich zuerst im »Stübla« im ersten Stock um. Die Hitze aus unserer Backstube waberte bis nach vorne in den Laden und erforderte eine leichtere Bekleidung.

Eines Samstagmorgens im Dezember kam die Moni zu spät, weil sie den ersten Bus verpasst hatte, weswegen Herr Eberth sie nach Ladenschluss allein nacharbeiten ließ: Vitrine ausräumen, Gläser sauber machen, den Boden wischen, den Bürgersteig fegen. Was dann geschah, hat sie mir heulend am Montagabend erzählt. Nachdem seine Frau um halb drei zum Friseur gegangen war, sei Eberth plötzlich ins Stübla gekommen, wo sie gerade in Strumpfhosen vor ihrer Tasche stand, habe die Tür hinter sich verschlossen und den Spruch für witzig gehalten: »Baby, zieh dich aus, ich bin der Peter Kraus.« Dann sei er von rückwärts an sie herangetreten und habe ihr an die Brust und an den Hintern gefasst.

Georg Eberth war einer der wenigen, die als Sechzehnjährige eingezogen worden waren, zur Marine, und aus dem Krieg zurückkamen, im Gegensatz zu meinem Vater. Ein mittelgroßer Mann mit zu kurzen Beinen, inzwischen gelichtetem Haar und einem deutlichen Bauch, von dem auf dem Kriegsfoto im Hausflur noch nichts zu sehen war. Wenn er jetzt seine Schürze zuband, fummelte er eher auf der Südhalbkugel herum als am Äquator. Auf der linken Backe, unterhalb des Auges, hatte er einen großen blauen Fleck wie Leute, in deren Nähe etwas explodiert ist. Man muss ihn in seiner Backstube erlebt haben, wie er manchmal mit bloßen Händen in den Ofen griff und ein gekipptes Brot zurechtlegte. Ich dachte immer: Der hat kein Gefühl mehr; der spürt es nicht einmal, wenn er mir eine knallt. Und vermutlich war er überhaupt einer der vielen Gefühlskrüppel, die es damals in allen Familien gab. Daher vielleicht die beständig unfrohe Miene seiner Frau.

Moni sagte, er habe nach Schnaps gerochen. Und als er ihr zwischen die Beine griff, fing sie an, um sich zu treten und zu schreien. Er hat dann von ihr abgelassen und gedroht, dass er sie wegen Diebstahls aus der Ladenkasse anzeigt, falls sie irgendjemandem etwas erzählte. Sie war völlig ratlos, was sie tun sollte, und es sei auch nicht das erste Mal gewesen, dass er sie begrapscht habe.

Ich weiß nicht mehr, ob das Begrapschen der weiblichen Lehrlinge seinerzeit als genauso zur Handwerks­ausbildung gehörig betrachtet wurde wie bei uns Stiften die Schelln. Ich glaube, eher nicht. Jedenfalls hatte ich plötzlich das Gefühl, hier sei ein Maß voll und ich als Retter bzw. Ritter gefordert. »Minnedienst« hieß das früher, glaube ich. Also habe ich Moni erklärt, ich würde mich der Sache annehmen. Sie solle die Weihnachtswoche noch durchhalten und sich dann auf jeden Fall bis nach Dreikönig krankschreiben lassen, wegen irgendwas Gynäkologischem oder Ansteckendem. Danach werde sie schon weitersehen.

Am Freitag, dem 18., habe ich am Spätnachmittag mit dem Abwiegen der Zutaten begonnen. Am darauffolgenden Donnerstag war der 24., und wir hatten jede Menge Vorbestellungen für schwere Stollen. Deshalb war Arbeitsbeginn am Samstag bereits früh um zwei, und ich sollte um vier antreten. Ich wog die Zutaten ab und verteilte die Häufchen wie immer. Dieses Mal gab es zwei Reihen: auf dem rechten Backtisch die für die Stollen, auf dem linken die für die Brote. Als die Zeilen mit den schlappen Us ausgerichtet waren, hängte ich Schürze und Käppi an den Haken.

Vorne war Frau Eberth gerade dabei, die Kasse zu machen, und ihr Mann lehnte an der Ladentür, schaute auf die Straße hinaus und rauchte. Ich holte tief Luft, setzte mich in Bewegung und fing an zu singen: »Sugar-Sugar-Baby, oh-oh-Sugar-Sugar-Baby.« Die Meisterin starrte mich offenen Mundes an und glaubte wohl, sich verhört zu haben und nicht richtig zu sehen. Von der tiefer liegenden Backstube zum Laden waren es fünf Stufen und höchstens zehn Schritte, und da stand ich auch schon neben ihr, fasste sie um die Taille und setzte zu einem Hüftschwung an: »Mmmm, sei doch lieb zu mi-hir.«

Auf das, was folgte, war ich vorbereitet. Ich wartete gar nicht erst ab, bis er um die Verkaufstheke herumgefegt kam, um mich totzuschlagen, sondern ging ihm einen Schritt entgegen, verlagerte mein Gewicht auf den linken Vorderfuß, zog den linken Ellenbogen leicht vor, spannte die Bauchmuskeln an und fuhr ansatzlos meine rechte Gerade aus, waagerecht aus der Schulter und mit Hüftschwung, zackzack, vor und zurück, wie es uns Herr Förtsch gezeigt hatte. Volltreffer. Es knirschte. Eberth schrie auf, ging in die Knie, hielt sich die Nase, blutete und jammerte. Eine zweite Runde erachtete ich für unnötig. Ich nutzte die Gunst des Augenblicks, rannte zur Hintertür hinaus, sprang auf mein Fahrrad und fuhr über den Wiesenweg heim nach Wallenfels. Der Mama erzählte ich, ich müsse nun meine Lehre endgültig abbrechen, weil der Amtsarzt das Hautekzem, das sich hartnäckig zwischen meinen Fingern eingenistet hatte, tatsächlich als Mehlallergie diagnostiziert habe. Deshalb dürfe ich auch ab sofort die Backstube nicht mehr betreten und müsse mir einen neuen Beruf suchen.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass Eberth gleich angestürmt kommen und sich wie eine Wildsau aufführen, die Mama beschimpfen oder doch zumindest die Polizei vorbeischicken würde, aber nichts dergleichen geschah. Ich blieb von da an einfach zu Hause, und weil das mit der Mehlallergie tatsächlich stimmte, was wir schon seit Längerem vermutet hatten, bewarb ich mich, mit Zustimmung der Mama, im Januar bei der Polizei in Nürnberg, bestand im März die Einstellungstests, und heute bin ich als Hauptkommissar bei der Kripo Bamberg zuständig für Einbruchsdelikte und schweren Diebstahl.

Auch die Moni brauchte nicht mehr zurück. Dienstag vor Weihnachten war es anscheinend so weit, wie mir der Geselle Hans berichtete. Erboste Kunden brachten Brote und Stollen in den Laden und wollten ihr Geld wiederhaben; der Konkurrent Welscher am anderen Ende von Schwarzenbach freute sich über den unerwarteten Ansturm, und an allen Ecken wurde getuschelt und gemunkelt.

Mittwochabend sperrte Eberth offenbar seinen Laden zu, ließ die Rollos herunter und legte den Hörer neben das Telefon. Zwischen Weihnachten und Neujahr blieb sein Geschäft geschlossen, und auch nach Dreikönig war der Rollladen am Vordereingang noch unten. Mitte Januar wurde Georg Eberth, Seefahrer, Bäcker- und Konditormeister, Haustyrann und Schellenober, auf dem Schwarzenbacher Friedhof beerdigt. Graue Männer vom Bestattungsinstitut »Friede« trugen seinen Sarg, Pfarrer Sauerbrey hat ihn begleitet. Es hieß, er habe sich im Suff auf dem Dachboden erhängt.

Das hatte ich zwar nicht beabsichtigt, aber ich bin auch nicht in Tränen ausgebrochen. Meine Tat schien mir in der damaligen Situation die angemessene Abrechnung im Namen und mit den Mitteln aller Geknechteten dieser Erde zu sein. Ist man mit knapp siebzehn schon ein Spartakus oder Zorro? Was weiß man denn da von Schuld und Sühne. Allerdings hatte sich mir diese Jesuserzählung unserer Religionslehrerin, wo vom Hinhalten der linken und der rechten Backe die Rede ist, schon nach der ersten Schelln als höchst dubioser und wirklichkeitsfremder Lehrsatz dargestellt. Da erschien mir das Alte Testament denn doch plausibler. Am einleuchtendsten fand ich jedoch, wie uns unser Naturkundelehrer die Welt erklärt hatte: »Normalerweise gilt in der Physik: actio = reactio. Hier bei uns gilt: actio = 2 reactio. Heißt: Wenn du mir eine runterhaust, hau ich dir zwei runter.« Wir lernten: Es gibt keine Verzeihung. Nirgends. Von niemandem. Oder hat etwa der Papst zum Beispiel den Protestanten, Juden und Moslems verziehen, dass sie keine Katholiken sind? (Wobei: Man müsste mal nachforschen, ob der zwölfte Pius dem Hitler Adolf nicht doch verziehen hat.)

Beim Brot hatte ich das Eineinhalbfache der vorgegebenen Salzmenge abgewogen und noch Glaubersalz darunter gemischt. Bei den Stollen hatte ich die Mengen von Salz und Zucker vertauscht und das Zitronat mit zerkrümeltem Grünen Türken versetzt, den mir mein Bruder besorgt hatte, der als Zivilangestellter bei den Amis in Bamberg arbeitete.

Franziska Hertrich, geborene Eberth, war damals gerade zwei Jahre alt.

 

»Wo waren wir stehen geblieben? Ach so, beim Stollenmachen. Der Aufwand für die paar, die wir verkaufen, der rechnet sich ja nimmer. Sie können sich gar nicht vorstellen, Herr Barnickel, was da für eine Arbeit drinsteckt. Und wenn Sie nur einen winzigen Fehler bei der Zutatenmischung machen oder sich beim Abwiegen vertun, dann ist das Geschäft auf Jahre hin kaputt. Soll der Stollen für Sie sein, oder soll ich ihn als Geschenk einpacken?«

»Ein halber Stollen als Geschenk? Wen könnt ich denn damit beglücken?«

»Dann mach mer’s doch so, Herr Barnickel: Ich pack Ihnen den schön in Zellophan ein, mit aner Schleifn drum herum, so, und da steck mer noch an klann Dannenzweich nei und hängen a Schoggoladenherzla dran, so, und des ist jetzt mein Weihnachtsgschenk für Sie. Bitte sehr, der Herr.«

 

Die Moni hat sich ein paar Jahre später tatsächlich einen Sergeant aus der Kronacher Garnison geangelt. Von ihrer Tante erfuhr ich, dass Mrs. Moni Fairbanks inzwischen Familie hat und in Minnesota lebt.

Ich selbst habe mich nach meiner Verbeamtung durch ein paar Beziehungen geschleppt und ein ewiges Theater wegen meiner ständig wechselnden Dienstzeiten erduldet. »Nie bist du da, wenn man dich braucht!«, »Immer muss ich überall allein hingehen!«, »Wenn’s nach dir ginge, dürfte man alle Frauen in den Zoo stecken.« Oder: »Jetzt guckt er schon wieder Sportschau!« Und: »Warum gehen wir nicht endlich mal ins Theater oder wenigstens in ein Kino?« Grauenhaft. Irgendwann war ich es leid, mich fortwährend rechtfertigen und mit Gefühlen befassen und überhaupt reden und sogenannten Verkehr haben zu müssen. Wenn es einem gelingt, ohne die übliche Verwahrlosung allein zurechtzukommen, dann hat ein Leben als Hagestolz sehr wohl seine Reize.

 

Die hat Frau Hertrich allerdings auch.

 

Tja, Herr Hauptkommissar. A Dannenzweich und a Schoggoladenherzla, und das Fest der Liebe steht auch noch vor der Tür. Man sollte sie verhaften, die Dame, wegen Einbruch, schwerem Diebstahl, vorsätzlicher Schönheit und heimtückischer Gefühlsverwirrung aus niederen Beweggründen. Und gleich in Sicherungsverwahrung nehmen, wegen der Schwere der Schuld.

 

»Feuerdunnerkeil«, pflegte mein Großvater, der Flößer, zu fluchen, wenn er nicht mehr weiterwusste. Feuerdunnerkeil!