14 · Christian Klier ·
Klotz und die Stimme Gottes
»Du weißt, warum ich dich festnehme?« Klotz sah dem Jugendlichen mit dem Che-Guevara-T-Shirt streng in die Augen.
»Weil ich ein illegaler Graffitikünstler bin?«
»Weil du ein fürchterliches Weichei bist!« Der Hauptkommissar packte den Burschen am Nacken und schlug seinen Kopf gegen das Verkehrsschild, an das er ihn vor wenigen Minuten gekettet hatte.
»Aua! Das tut weh!«
»Aua! Das tut weh!«, imitierte Klotz sein Opfer. »Lass dir endlich mal Eier wachsen, du jämmerlicher Warmduscher!« Er deutete auf das Schild des japanischen Restaurants, vor dem sie sich befanden. »Unter rein kreativen Aspekten finde ich deine Arbeit gar nicht so schlecht.«
Über dem Eingang stand in schwarzen Lettern »Sushi & Friends«. Allerdings sah das große S in »Sushi« ziemlich verunstaltet aus. Der Sprayer hatte es mit rotem Sprühlack durchgestrichen und darüber ein M fabriziert.
»Aber wie das halt so ist mit der Kunst«, führte Klotz weiter aus und bemerkte, dass er inzwischen noch etwas mehr lallte. »Es kommt viel weniger auf das Was an. Wesentlich bedeutender ist das Wie. Und da, mein junger Freund, hast du auf ganzer Linie verschissen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Man sprüht nicht mit Latexhandschuhen und Atemmaske! Das ist was für Sissis! Für Pussys und Muschis, Mann! Du willst ein Anarcho sein? Der letzte Grattler bist du! Sprayen mit Atemmaske, das ist wie alkoholfreies Bier trinken, das ist ein Widerspruch in sich. Das ist wie Fahrrad fahren mit Helm, wie … Wie Geschlechtsverkehr mit Kondom ist das! Wie, wie …«
»Bungee-Jumping mit Seil?«
»Was fällt dir ein?!« Klotz verpasste dem aufmüpfigen Möchtegernrebellen eine Ohrfeige. Dann wurde ihm schwindlig. Nie mehr Weihnachtsfeier!, dachte er und erinnerte sich vage an das viele Bier und die unzähligen Obstler, die er getrunken hatte. Er übergab sich auf die Converse Chucks seines Opfers.
»Steh auf, Liebling. Ein neuer Tag beginnt. Ein weiterer Tag, an dem ich dich liebe.«
Er hörte ein Lachen und hob den Kopf. Während er sich den Auswurf vom Mundwinkel wischte, blickte er in das freudige Gesicht des Jugendlichen, der erneut zu sprechen begann: »Steh auf, Liebling. Ein neuer Tag beginnt. Ein weiterer Tag, an dem ich dich liebe.«
Was sollte das? Und warum sprach der Typ mit Leonies säuselnder Stimme?
»Steh auf, Liebling. Ein neuer Tag beginnt. Ein weiterer …«, Klotz riss die Augen auf und starrte an eine weiße Stuckdecke, »… Tag, an dem ich dich liebe.«
Seine Hand bewegte sich zu dem sprechenden Wecker und drückte auf einen Knopf. Leonie, dachte Klotz und richtete sich auf. Er sehnte sich nach ihrer Wärme, nach ihrer Weichheit. Sie war das einzig Gute in seinem Leben, und sie war vor allem eines: Sie war nicht hier. Und das am 25. Dezember. Weihnachten, das Fest der Liebe, von wegen!
Die ganze Situation war diesem Graffitikünstler zu verdanken. Wegen ihm war er hierher in die Fränkische Schweiz versetzt worden, in dieses saukalte Gößweinstein mit dem meterhohen Schnee. Das war die Strafe, und da war nicht dran zu rütteln, hatte ihm Polizeipräsident Huber deutlich gemacht. Entweder Gößweinstein oder die Suspendierung. Schön, hatte Klotz gedacht, schön, dass es immer eine Alternative gab! Und da er ab und an nun mal ein Feigling war, hatte er sich für Fränkisch-Sibirien entschieden. Tja, Werner, sprach er mit sich selbst in Gedanken, während er in das Badezimmer wankte. Das kommt davon, wenn man um halb drei Uhr morgens den Sohn des Oberstaatsanwalts bei dessen Nebenstraßenkünsteleien stört und dabei nicht mehr so ganz nüchtern ist. Wenn man den hochaggressiven Täter mittels Handschellen und -greiflichkeiten außer Gefecht setzt. Von wegen Zivilcourage! Armes Deutschland! Klotz erblickte im Spiegel sein müdes Gesicht, in dem die Bartstoppeln in allen möglichen Grautönen vor sich hinsprossen.
Er saß keine fünf Minuten im Frühstücksraum der Pension Gisela, da klingelte sein Handy. Auf dem Display erschien der Name seines neuen und einzigen Kollegen am Ort. Klotz beschloss, das Läuten auszusitzen. Kam gar nicht infrage, dass er hier mit seiner Arbeit früher anfing als nötig. Wahrscheinlich rief der Assistent wieder nur wegen irgendeines Touristen an, der seinen Wagen falsch geparkt hatte. Eine wirklich tolle Arbeit war das hier in Gößweinstein. Und so aufregend und abwechslungsreich. Klotz biss trotzig in sein Schinkenbrot.
Plötzlich spürte er das energische Tippen eines Fingers auf seiner Schulter. Er drehte sich um und sah in die mürrische Miene von Hugo Knödel. Demonstrativ hielt der Kollege sein Handy in die Luft, um es dann an sein rechtes Ohr zu legen. »Hallo, hallo? Spreche ich mit Hauptkommissar Klotz? Ach nein? Mit seiner Mailbox? Ja, guten Morgen, Mailbox! … Nein, das macht natürlich nichts, dass der Herr Hauptkommissar erst mal frühstücken muss. Warum auch, es geht ja nur um einen klitzekleinen Mord. Richten Sie dem Kommissar schöne Grüße aus, und er soll bitte darauf achten, dass er nicht zu wenig Kalorien zu sich nimmt, alles andere würde eine Gefahr für seine Gesundheit darstellen.«
Knödels Name verhielt sich indirekt proportional zu dessen Erscheinung. Sein Körperbau nahm sich durch und durch leptosom aus, um nicht zu sagen schlaksig. Neben einer Bierwirtsphysiognomie, wie sie Klotz zu eigen war, erschien Hugo Knödel wie ein Stan Laurel für Arme. Fehlte lediglich die schwarze Melone, einen Anzug trug Knödel nämlich schon.
Klotz, der nicht nur aussah wie Oliver Hardy, sondern sich meist auch so benahm, stopfte ungerührt sein Schinkenbrot in sich hinein. Als er fertig war, schüttete er eine halbe Tasse Kaffee hinterher. Schließlich begann er zu sprechen.
»Wer ist der, dessen Seele das Glück zuteil wurde, diesen verfluchten Ort zu verlassen?«
»Der Pfarrer«, antwortete Hugo Knödel trocken und griff mit den Fingern nach einer Scheibe Emmentaler, die sich auf Klotz’ Frühstücksteller befand.
Klotz und Knödel traten auf die Balthasar-Neumann-Straße hinaus. Nach wenigen Schritten hatten sie die Basilika erreicht. Neben der tausendjährigen Schlossanlage galt der massige Barockbau aus dem 18. Jahrhundert als das Wahrzeichen des Ortes. Für einen Moment bekam Klotz Sehnsucht nach der Schlichtheit der Nürnberger Burg, als er die Schnörkel und goldenen Verzierungen der Kirchenfassade erblickte. Dann folgte er Knödel am Gebäude entlang in Richtung Chor. Als sie am Ende der Kirche angekommen waren, zog Knödel einen großen, altertümlich wirkenden Schlüssel hervor und schob ihn in eine Tür, die sich inmitten des verwitterten Sandsteinmauerwerks befand.
Es war schon lange her, dass Klotz eine Sakristei von innen gesehen hatte. Hier roch es nach Weihrauch und nach altem Holz. Am Boden lag Pfarrer Gierling, bekleidet mit einem weißen Priestergewand. Die purpurfarbenen Bänder, die sich längs des Saumes von oben nach unten zogen, wiesen goldene Ornamente auf. Aber das war es nicht, was Klotz’ Aufmerksamkeit auf sich zog. Vielmehr interessierte er sich für ein silbrig glänzendes Kruzifix, das auf der Höhe des Herzens in dem Gottesmann steckte.
»Ein Auferstehungskreuz«, erläuterte Knödel, der Klotz’ Blickrichtung gefolgt war.
»Aha. Dabei haben wir doch noch gar nicht Ostern. Da wird er sich wohl noch ein wenig gedulden müssen, der Herr Pfarrer, bis er von den Toten wiederauferstehen darf.«
Klotz ging in die Knie und legte dem Pfarrer zwei Finger an die Halsschlagader. Diese Geste hätte er sich sparen können, konstatierte er nach wenigen Sekunden und stand wieder auf.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Knödel unsicher.
Klotz warf seinem Assistenten einen wütenden Blick zu. »Was soll diese Frage? Haben Sie etwa die Angehörigen noch nicht informiert?«
»Welche Angehörigen?«
»Ja, was weiß ich?! Dann geben Sie halt seiner Haushälterin Bescheid.«
»Die hat ihn doch gefunden.«
Klotz erhob sich, trat dem Kollegen entgegen und baute sich vor ihm auf.
»Knödel! Haben Sie denn überhaupt schon irgendetwas in die Wege geleitet? Gerichtsmedizin, Kriminaltechnik, und so weiter und so fort? Wir brauchen hier Fachleute, Mann!«
»Ich habe doch Sie informiert, reicht das nicht?« Knödel sah Klotz an, als sei dieser einer amerikanischen Krimi-Vorabendserie entsprungen.
»Das ist nicht lustig, Knödel! Haben Sie denn wenigstens mit dem Chef von Priester Gierling gesprochen?«
»Sie meinen, mit dem Bischof von Bamberg?«
»Zum Beispiel! Den rufen Sie jetzt an, schnell!«
»Und warum machen Sie das nicht?«
»Weil ich Buddhist bin, Sie hinterletzte Inkarnation von Inkompetenz!«
»Ach so. Daher diese Gelassenheit.«
Plötzlich hörten sie ein unterdrücktes Niesen. Klotz und Knödel drehten sich um. Der Vorhang neben dem großen Fenster bewegte sich noch. Klotz gab Knödel ein Zeichen, dann zählte er tonlos bis drei.
*
Laut Personalausweis befand sich Herr Paul Wilhelm Christmeier in seinem neunundachtzigsten Lebensjahr. Abgesehen von einer kurzen, kriegsbedingten Abwesenheit in den frühen Vierzigern lebte er auch schon genauso lange in seinem schönen Gößweinstein. So weit, so gut, dachte Klotz und wunderte sich, dass der Alte angesichts der erdrückenden Beweislast – man hatte ihn ja quasi in flagranti erwischt – den Mord einfach nicht gestehen wollte. Klotz und Knödel waren mit dem Tatverdächtigen in den Gasthof zum Löwen gegangen. Sie saßen dem Alten gegenüber und begannen langsam, an diesem zu verzweifeln.
»Herr Christmeier, so kommen wir nicht weiter.«
»Was? Sie müssen schon lauter reden. Ich hör nicht mehr so gut.«
»So geht das nicht!«, brüllte Klotz.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, es war Gott selbst, der den Befehl gab, Priester Gierling zu töten.«
Der Mann war offenbar stocktaub. Aber um die Stimme Gottes zu vernehmen, dafür reichte es noch. Was für ein Wahnsinn! Wo bin ich hier nur hineingeraten?, fragte sich Klotz und rief der Bedienung zu, sie solle ihm schnell ein dunkles Bier bringen.
»Chef«, schaltete sich Knödel nun ein, »ich will ja nichts sagen, aber wir haben jetzt grad mal viertel neun.«
»Das ist mir scheißegal!«, raunzte Klotz den Kollegen in der gleichen Lautstärke an, mit der er Christmeier bedacht hatte.
»Ach ja, stimmt. Sie sind ja Buddhist. Da sieht man das natürlich alles etwas lockerer«, entgegnete Knödel, während er an seinem Krawattenknoten herumnestelte.
»Knödel! Was machen Sie überhaupt noch hier? Sind Sie etwa unterbeschäftigt?«
Der Angesprochene räusperte sich, dann stand er auf. »Gut, ich werde jetzt mal das Erzbistum Bamberg über den Tod von Pfarrer Gierling in Kenntnis setzen.«
»Tun Sie das. Und vergessen Sie den Rest nicht.«
Knödel machte ein fragendes Gesicht. Klotz versuchte, das Bild des Dalai Lama vor seinem geistigen Auge entstehen zu lassen. Wenn er jetzt nicht augenblicklich in die innere Mitte zurückfand, dann würde er bald vollends ausflippen in diesem Irrenhaus hier. Nach einer halben Minute angestrengten Meditierens kam ihm glücklicherweise die Bedienung zu Hilfe, indem sie ein schaumiges Dunkles auf den Tisch knallte. Klotz griff sofort nach dem Getränk. Er setzte erst wieder ab, als zwei Drittel davon in seinem Schlund verschwunden waren.
»Jetzt weiß ich, was Sie meinen«, Hugo Knödel lächelte zufrieden. »Kriminaltechnik und so weiter und so fort.«
»Geht doch, Knödel!« Klotz unterdrückte ein Rülpsen. »Dann machen Sie mal, husch, husch!«
»Also, Herr Christmeier. Sie behaupten, Gott habe zu Ihnen gesprochen. Was hat er denn genau gesagt, der liebe Gott?«
»Es war während der Predigt heute Morgen. Der Pfarrer redete über die Menschwerdung von Gottes Sohn, und dass das ein großartiges Ereignis sei. Und plötzlich hörte ich die Stimme Gottes. Sie sagte zu mir: Sieh ihn dir an, den Pfarrer Gierling. Ich sage dir, er ist der fleischgewordene Satan! Geh hin und töte ihn! Tu dies nach der Messe in meinem Namen, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
»Amen«, schloss Klotz Christmeiers Vortrag ab. »Und Sie haben das wortwörtlich so gehört?«
»Ja. Ziemlich genau so.«
»Und was ist dann passiert?«
»Als die Messe vorbei war, habe ich mich in ein Seitenschiff begeben und gewartet, bis die Kirche leer war. Schließlich ging ich in den hinteren Teil des Gebäudes. Ich hab dem Rudi noch ein frohes Fest gewünscht, dann bin ich in die Sakristei. Aber da lag er schon, der Pfarrer Gierling, mit dem Kruzifix im Herzen. Ich brauchte …«
»Moment mal«, unterbrach ihn Klotz. »Sie haben da gerade einen Rudi erwähnt.«
Christmeier blickte den Hauptkommissar an, als sei dieser schwer von Begriff. »Der Rudi, der Rudi Hartmann, ja, was ist mit dem?«
»Kam Ihnen der entgegen? Oder von wo kam der her?«
»Ja, ja, der kam mir entgegen. Wieso?«
»Rudi Hartmann kam also von der Sakristei?«
Christmeiers Blick veränderte sich, seine Stirn begann, Falten zu werfen. Man hatte den Eindruck, als habe der Mann soeben damit begonnen, intensiv nachzudenken. Mein Gott, was für ein Dorftrottel, dachte Klotz resigniert, und wartete darauf, dass endlich eine imaginäre Glühbirne über Christmeiers Kopf erschien. Als Klotz mit seinem Bier fertig war, um gleich darauf ein zweites zu bestellen, war es so weit.
»Sie meinen, es könnte sein, dass der Rudolf Hartmann …«
»Ich meine gar nichts. Aber Sie sagen ja, dass das Kruzifix schon in dem Pfarrer steckte, als Sie die Sakristei betraten.«
»So ist es. Das schwöre ich bei Gott.«
*
Man muss hier nur über die Straße gehen und irgendeine Tür aufmachen, schon sitzt man in einer Wirtschaft, dachte Klotz und trat in den Flur des Gasthofs Rose. Bevor er sich auf die Suche nach Knödel machte, ging er auf die Toilette. Zwei Dunkle am Morgen, das war selbst für Klotz’ biererprobte Blase zu viel.
Sein Assistent saß in einer Ecke des Lokals, andächtig über eine brennende Kerze gebeugt, die sich inmitten eines lieblosen Arrangements von Tannenzweigen befand.
»Und, war er’s?«, fragte Knödel und sah auf.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines. Nämlich dass ihr hier am Ort nicht mehr alle Sprungfedern an der Latte habt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, schauen Sie sich zum Beispiel diesen Christmeier an! Die ganze Zeit über muss ich den anschreien, damit er was versteht, und als ich das Verhör beende, steht er auf und zieht zwei Hörgeräte aus seiner Hosentasche. Steckt sich die Teile völlig ungerührt hinter die Ohren. Ich frag ihn noch, warum er die Geräte nicht während des Verhörs getragen hat, wo er doch so schlecht hört, da lächelt er mich schief an und sagt, dass er sich die Dinger nur zu wichtigen Anlässen in den Gehörgang stopft. Prost Mahlzeit und fröhliche Weihnachten, sag ich da!«
»Sie haben ihn gehen lassen?«
»Hätt ich ihn vielleicht am Heizkörper anketten sollen?«
Hugo Knödel starrte wieder in seine Kerze.
»Und Sie, haben Sie diesen Bischof erreicht?«, wechselte Klotz das Thema.
»Leider nein. Dafür habe ich mit dem Stellvertreter eines Dekans gesprochen.«
»Na prima. Der Stellvertreter eines Dekans. Was ist das denn für ein seltsamer Laden, diese katholische Kirche? Alles nur Stellvertreterjobs. Sogar der Papst ist nicht mehr als …«
»Wollen Sie jetzt hören, was ich herausgefunden habe, oder wollen Sie weiter herumstänkern und schlechte Stimmung verbreiten?«
Klotz schwieg und machte eine entschuldigende Geste.
»Also. Pfarrer Gierling übt erst seit einem halben Jahr das Priesteramt in Gößweinstein aus. Vorher war er in der Diözese Rottenburg tätig, aber irgendetwas hat er sich dort zuschulden kommen lassen. Deshalb wurde er hierher strafversetzt.«
»Rottenburg«, Klotz rieb sich das Kinn. »Kommt da nicht auch dieser Kannibale her?«
»Nein. Das war Rotenburg, mit einem langen o, und das befindet sich in Hessen. Das Bistum Rottenburg hingegen liegt in Baden-Württemberg.«
»Zum Glück liegen die Orte des Grauens alle außerhalb Bayerns«, sprach Klotz mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber.
»Aber Bayern ist vom Bösen umzingelt«, konterte Knödel.
Klotz sah seinem Assistenten verblüfft in die Augen. »Was genau Pfarrer Gierling verbrochen hat, konnte Ihnen dieser Stellvertreter nicht sagen?«
Knödel schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit der Spurensicherung und so weiter?«
»Sind unterwegs.«
*
Es war fünf vor neun, als Klotz zum wiederholten Male an diesem Tag die Balthasar-Neumann-Straße überquerte. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte Leonies Nummer. In groben Zügen schilderte er ihr die Situation und bat sie, mehr über Pfarrer Gierling und den Grund seiner Versetzung nach Gößweinstein herauszufinden. Leonie versprach, sich augenblicklich um die Angelegenheit zu kümmern.
»Ich vermiss dich, Leonie. Das ist alles so fürchterlich hier. Und dann dieser Schnee und die Eiseskälte überall.«
»Ich vermiss dich auch. Sehr sogar …«
Er betrat die Basilika und staunte nicht schlecht, als er vor der Sakristei einer Gruppe von Leuten begegnete, die gerade dabei waren, sich die typischen weißen Schutzanzüge der KTU überzuziehen. Die Jungs waren offensichtlich ganz schön auf Zack, und das an Weihnachten. Respekt!
Klotz stellte sich den unbekannten Kollegen vor und referierte die Sachlage. Er wies darauf hin, dass jemand vom Erkennungsdienst unbedingt bei Paul Christmeier und Rudolf Hartmann vorbeischauen müsse. Falls sich auf der Mordwaffe Fingerabdrücke befänden, so solle man diese zunächst mit denen der beiden älteren Herren abgleichen.
Kurz bevor er die Sakristei wieder verließ, bot er den Kriminaltechnikern an, Glühwein und Lebkuchen für sie zu besorgen. Man lehnte ab, weniger dankend als vielmehr angewidert. Ja, ja, dachte Klotz, als er durch das helle, sonnendurchflutete Hauptschiff Richtung Ausgang schlenderte, Weihnachten, das hatte inzwischen wohl weniger mit Besinnlichkeit und innerer Einkehr zu tun. Nein, dieses Fest der Feste war zu einem Großereignis der Völlerei und des allgemeinen Besäufnisses geworden. Ob das schon immer so gewesen war?, sinnierte er weiter, als er plötzlich unsanft angerempelt wurde.
Der Jugendliche, der ihm gegenüberstand, mochte vielleicht dreizehn, höchstens vierzehn Jahre alt sein. Sein Körperbau war schmächtig, seine Haare leuchteten feuerrot. Schüchtern hob er den Blick.
»Ent… Entschuldigung. Das war keine Absicht.«
»Wer bist du und was machst du hier?« Schlagartig wurde dem Hauptkommissar klar, dass Knödel und er ganz vergessen hatten, das Kirchengelände abzusperren. Da würde er sich gleich drum kümmern.
»Ich heiße Daniel Wächter. Um zehn ist doch die nächste Messe. Ich bin der Kruziferar hier.« Der Junge spähte für einen Moment über Klotz’ Schulter. »Ist irgendwas mit Pfarrer Gierling?«
»Ist die Kreuzfahrerzeit nicht schon längst vorbei?«
Die Miene des Jungen wurde noch ein wenig angstvoller, als sie es ohnehin schon war. »Ist Pfarrer Gierling etwa …?«
»Pfarrer Gierling ist tot.«
»Oh, mein Gott!« Der Bub nahm sein Gesicht in beide Hände. »Das… das ist nicht wahr!«
Klotz nahm den Ministranten beiseite. Er versuchte ihn zu trösten, soweit es ihm möglich war.
»Am besten, du gehst nach Hause und versuchst ein wenig zur Ruhe zu kommen.«
Der Teenager sah ihn aus verweinten Augen an. »Ja, okay. Dann gehe ich jetzt.«
Klotz nahm seinen Arm von der Schulter des Jungen. Der drehte sich um und ging zurück zum Hauptportal. Als er einen Türflügel geöffnet hatte, fiel Klotz noch etwas ein. »Daniel!«, rief er dem Jungen hinterher.
»Ja?«
»Wenn es dir wieder etwas besser geht, würde ich mich gerne mit dir über Pfarrer Gierling unterhalten. Geht das?«
»Klar.« Daniel wischte sich mit dem Ärmel eine Träne von der Backe und versuchte ein Lächeln.
»Gut, bis dann. Du findest mich hier oder in der Pension Gisela.«
»Auf Wiedersehen, bis dann.«
*
Klotz verweilte einige Minuten vor einem Schaukasten, der Jesus, Martha und Maria zeigte. In der anheimelnden Atmosphäre einer längst vergangenen Puppenhausromantik standen die drei biblischen Figuren um einen gedeckten Tisch und schienen zu diskutieren. Klotz fiel auf, dass Jesus besser kein gelbes Gewand tragen sollte. Diese Farbe stand ihm nicht.
Er ging weiter und kam schließlich bei einer Pinnwand an, auf der verschiedene Bekanntmachungen aushingen. Vom Kirchenchortreffen über eindringliche Spendenaufrufe bis zur Einladung zum Bibelkreis war hier alles zu finden, was die katholische Kirchengemeinde von Gößweinstein ausmachte.
Plötzlich fiel sein Blick auf einen unscheinbaren Aushang. Eine simple Anweisung. Nachdem er die wenigen Zeilen gelesen hatte, lief Klotz schnurstracks zur Kanzel.
Dort fand er das Mikrofon. Er folgte dem Verlauf des Kabels, das daran hing, um mehrere Säulen herum. Das unscheinbare Gummiseil schlängelte sich an der Decke um den Stuck, bis es schließlich hinter der Tür der Sakristei verschwand. Als er den Raum betrat, blitzte gerade der Fotoapparat eines Kriminaltechnikers auf. Um Gierlings Leiche herum waren verschiedene Ziffern postiert, und mittels eines Pinsels sicherte jemand Fingerabdrücke, die sich an einem Pult befanden. Klotz drückte sich an der Wand entlang, das Kabel fest im Blick. Es endete an einem Tisch, auf dem etwas stand, das durch einen purpurnen Seidenstoff verdeckt war. Er fasste eine Ecke des Tuches und zog es von dem Gegenstand.
»Nicht!«, rief einer der Spurensicherer. »Hier darf nichts verändert werden!«
Klotz antwortete nicht. Beinahe andächtig legte er das feine Laken neben das Gerät. Es sah aus wie ein Verstärker. Der Hauptkommissar begriff, dass dies die Sendestation sein musste. Er sah sich die Apparatur genauer an. Da waren mehrere Eingänge für Mikrofone. Micro 1 on/off, Micro 2 on/off, Micro 3 on/off. In dem ersten Eingang steckte das Kabel, das von der Kanzel kam. Die beiden anderen waren leer.
In dem Moment, in dem Klotz die Schublade unter dem Tisch herauszog, unterbrach ihn eine laute Stimme.
»Ihr könnt aufhören, Leute. Wir haben den Mörder. Er ist sogar geständig. Außerdem sind die Fingerabdrücke auf dem Kruzifix mit denen von Rudolf Hartmann identisch.«
Klotz drehte sich um und sah Assistent Knödel neben einem Beamten vom Erkennungsdienst im Türrahmen stehen.
»Trägt Hartmann zufällig auch ein Hörgerät?«, fragte Klotz.
»Ja, warum?«
»Und was hat er genau gesagt?«
»Dass er die Stimme Gottes gehört hat. Seine Aussage deckt sich mit der von Christmeier.«
»Und da geht der einfach so hin und bringt den Pfarrer um?«
»Na ja, ganz so einfach ist das nicht. Zum einen scheint mir Hartmann nicht der Hellste zu sein, und zum anderen habe ich im Gespräch mit ihm herausbekommen, dass der alte Mann nicht besonders gut auf den Klerus zu sprechen ist.«
»Warum das denn?«
»Hartmanns Frau hatte wohl vor über vierzig Jahren mal ein Verhältnis mit einem Geistlichen. Das hat Hartmann aber erst letztes Jahr herausbekommen. Seinen ältesten Sohn plagten schon seit Längerem Zweifel, ob er wirklich das leibliche Kind von Hartmann sei. Dieser Sohn hat einen DNA-Test machen lassen. Dadurch kam die Wahrheit dann ans Licht. Seiner Frau hat Hartmann verziehen, sagt er, aber ein unüberwindlicher Groll gegen die Kuttenträger ist geblieben. Da kam ihm die Stimme Gottes gerade recht.«
»Warum geht der überhaupt noch in die Kirche?«
»Es ist Weihnachten, Herr Klotz.«
»Hätt ich beinahe vergessen, Knödel. Danke, dass Sie mich daran erinnern.«
Klotz steckte den Anschluss des Mikrofons in die zweite Buchse der Sendestation hinein.
»Hat hier irgendjemand ein Hörgerät mit Bluetooth-Funktion?«, rief er in die Gruppe der Techniker und Gerichtsmediziner. Es meldete sich ein junger Spurensicherer, dem man auf den ersten Blick gar nicht ansah, dass er ein Hörgerät trug.
*
»Meine Güte, sind die Dinger heutzutage klein. Unglaublich!«
Hugo Knödel staunte und gab dem Kollegen das Gerät zurück.
»Vergessen Sie bitte nicht, den Apparat auf Empfang zu stellen, Herr Dallinger«, ermahnte Klotz den jungen Mann.
»Keine Sorge, ich hab das Teil voll im Griff.«
»Also, wir machen das so: Knödel, Sie sind der Pfarrer. Gehen Sie auf die Kanzel und sprechen Sie in das Mikrofon.«
»Was soll ich denn sagen?«
»Egal, irgendwas. Am besten, Sie lesen die Weihnachtsgeschichte. Ein wenig Trost tut uns allen gut in diesen Tagen. Da vorne liegt, glaube ich, eine Bibel.« Klotz deutete zum Altarraum. »Und Sie, Herr Dallinger, setzen sich bitte so weit wie möglich nach hinten. Zumindest so weit, dass Sie Herrn Knödel mit ihrem normalen Gehör nicht mehr verstehen können.«
»Also nicht sehr weit.« Der Kollege setzte einen ironischen Gesichtsausdruck auf.
»Machen Sie so, wie Sie denken. Sie haben freie Platzwahl. Ich werde mich in die Sakristei begeben und versuchen, Knödels Predigt an der einen oder anderen Stelle zu manipulieren. Hoffen wir, dass die Sache hinhaut.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr!«
Das Ergebnis des Tests war verblüffend. Dallinger schwor, dass er stellenweise noch nicht einmal einen Unterschied zwischen den Stimmen bemerkt habe. Da sei kein Knistern oder Krachen gewesen, als Klotz in die Sakristei umgestellt und den biblischen Text mit seinen Worten entfremdet hatte.
»Ganz schön harter Tobak, Herr Klotz. Wenn es nicht um die Aufklärung eines Mordfalles ginge, würde ich sagen, Sie sind ein Ketzer erster Güte.«
»Bin ich aber nicht. Glauben Sie mir, ich bin wohl gottesfürchtiger als so mancher, der hier wöchentlich den Gottesdienst besucht.«
»Er ist nämlich Buddhist – und auch ansonsten ein durch und durch ausgeglichener Mensch«, erläuterte sein Assistent.
»Schnauze, Knödel! Sie reden nur, wenn …«
Klotz’ Handy klingelte. Auf dem Display erschien ein wohlbekannter Name. »Hallo, Leonie. Und, hast du was herausgefunden? … Missbrauch? … Da hätte ich auch früher drauf kommen können … Ich danke dir … Ja, ich dich auch.«
*
»Herr Klotz, da ist jemand, der Sie sprechen möchte.«
Klotz sah den beiden schwarz gekleideten Bestattern dabei zu, wie sie einen Zinksarg vom Kirchenraum in die Sakristei trugen.
»Herr Klotz, hören Sie?« Er blickte zum Hauptportal, wo ein Uniformierter winkte. »Da ist ein Daniel Wächter. Sagt, er sei hier als Ministrant tätig.«
»Lassen Sie ihn durch.«
Der Junge schien gefasster als bei ihrer ersten Zusammenkunft. Während Klotz ein Gespräch versuchte, schritten die beiden nebeneinander durch das Hauptschiff.
»Wie geht es dir, Daniel?«
»Geht schon.«
»Darf ich dich etwas fragen?«
»Deswegen bin ich ja da.«
»Mochtest du Pfarrer Gierling eigentlich?«
Der Junge schwieg. Sie waren stehen geblieben.
»Guck mal, da, diese Pinnwand.«
Daniel schaute den Hauptkommissar verständnislos an. Klotz zog den Bub zu der Anschlagtafel.
»Schön, all diese Dinge, die die Kirche so anbietet. Freizeiten, Bibelkreise, Ministrantendienst. Da kann man sich engagieren. Das finde ich gut.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Schau mal hier. Kannst du mir mal vorlesen, was da steht? Ich hab meine Lesebrille nicht dabei.«
»Sie wollen wirklich, dass ich Ihnen das vorlese? Sind Sie sich da ganz sicher?«
»Ja, ja. Nur zu.«
»Gut, okay. Wenn Sie ein Hörgerät mit Bluetooth-Funktion besitzen, dann können Sie während des Gottesdienstes die Funktion ›Empfang‹ einschalten. So empfangen Sie das Wort Gottes direkt über Ihr Hörgerät.«
Klotz machte eine Kunstpause. Dann blickte er Daniel tief in die Augen.
»War Pfarrer Giering eigentlich ein guter Mensch? Was glaubst du, Daniel?«
Der Blick des Jungen wurde wässrig, seine Unterlippe zitterte. Gleich würde er etwas sagen, dachte Klotz, etwas Entscheidendes.
Doch das tat Daniel nicht. Stattdessen fing er an zu laufen, sprintete zum Hauptportal und rüttelte an der Tür. In der Hast jedoch bekam er die Tür nicht auf. Irgendetwas klemmte. Jetzt rannte der Teenager in die entgegengesetzte Richtung durch das Hauptschiff. Drehte immer wieder den Kopf, um zu kontrollieren, ob ihn der Hauptkommissar verfolgte. Doch Klotz stand ruhig in seiner Ecke, die Hände in den Manteltaschen. Der Junge saß in der Falle.
Plötzlich stolperte Daniel. Er flog über den Sarg, den die Bestatter inzwischen befüllt und zurück in das Kirchenschiff getragen hatten.
Es dauerte nicht lange, und Klotz hatte den Jugendlichen erreicht. Sanft legte er eine Hand auf die Schulter des Jungen, der immer noch auf dem Boden lag.
Es wurde Zeit, dass sich die Stimme Gottes meldete.
»Du weißt, warum ich dich festnehme?«