15 · Tommie Goerz ·
Maria und Josef
Ob sie sich freuen würde?
Ob sie ihn überhaupt wiedererkennen würde nach so vielen Jahren? Und ihm gut gesonnen sein würde? Ihm vielleicht sogar für ein paar Tage Unterkunft gewähren würde? Er hoffte es, aber er wusste es nicht. Er reiste durchaus mit gemischten Gefühlen. Es war, das musste er sich eingestehen, eine Fahrt ins Ungewisse. Und er würde es ihr nicht verdenken können, wenn sie ihn abwiese, nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war. Das lag zwar schon über zwanzig Jahre zurück, aber es war heftig gewesen.
Über Umwege war er aus Madrid gekommen und unterwegs in den Norden. Jenseits des Gotthards war plötzlich Winter gewesen, Schnee hatte bis weit herunter ins Tal gelegen. In Zürich war er in den Zug nach München gestiegen und am Bodensee entlanggefahren. Kaltgrau hatte die große Wasserfläche dagelegen. Dann war er nach Nürnberg weitergereist, und jetzt saß er in der S-Bahn, in wenigen Minuten würde er Forchheim erreichen. Dort müsste er sehen, wie er weiterkäme, sein Geld war inzwischen fast aufgebraucht, aber er besaß noch eine Dose Bier. Tief hing das Grau des Himmels überm Land und regnete sich langsam aus, Tropfenspuren zogen schräg über die Scheibe, und draußen wurde es schon wieder dunkel. Er sah sein Spiegelbild in der Scheibe, es sah nicht gut aus. Die letzten Jahre hatten ihn sichtbar gezeichnet. War es überhaupt einmal richtig hell gewesen hier, heute, bei diesem Wetter?, fragte er sich. Man konnte es sich kaum vorstellen. November und Dezember waren schon immer die grässlichsten Monate gewesen. Nur dunkel, nass und kalt.
Über die Bordlautsprecher des Zuges wurde Forchheim angekündigt. Er nahm seine kleine Sporttasche und schob sich in Richtung Ausstieg. Zwei Minuten darauf stand er in der kleinen fränkischen Stadt auf dem Bahnsteig. Es nieselte, es war zugig. Ihn fröstelte. Halb sechs. Er leerte seine letzte Dose Bier und warf sie in einen der Abfalleimer. Metall klapperte auf Metall. Jetzt musste er noch irgendwie nach Streitberg kommen, vielleicht zehn, fünfzehn Kilometer von hier, und von dort aus rüber nach Niederfellendorf. Das war dann nicht mehr weit, nur auf die andere Seite der Wiesent. Ob Maria überhaupt noch dort wohnte? Über zwanzig Jahre schon hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt – und trotzdem: Sie würde ihn sicher nicht abweisen, jetzt in der Weihnachtszeit.
Oder doch?
Mit der Hand zog er sein Jackett zusammen, es war kalt.
Maria hatte sich einen Tee gekocht, Chai, sie mochte diesen Duft, er machte es ihr so gemütlich. Dazu hatte sie sich ein paar Kerzen angezündet – ›drei‹, dachte sie unvermittelt und musste innerlich schmunzeln, ›wie passend am dritten Advent‹ –, hatte die Stehlampe in der Ecke angeknipst und sich mit Tee, Decke und Buch unter die Lichtinsel in den Sessel gekuschelt. Das würde ein schöner Abend werden. Durch die große Glasfront sah sie hinaus über den dunklen Garten und hinunter auf die Lichter von Streitberg. Die Straße glänzte nass im gelben Licht der Laternen. Nur selten fuhr unten ein Auto vorbei, Sonntagabend war wenig Verkehr. Kein Geräusch drang von draußen herein, das langsame Ticken der Standuhr streckte die Zeit. Kurz nach acht zeigte das Zifferblatt. Sie schlug ihr Buch auf. Wo hatte sie gestern aufgehört? Sie streifte die Schuhe von den Füßen, zog die Beine an und schob die Decke über die Füße.
Das Leben konnte so schön sein!
Es klingelte.
Maria seufzte. Sie wollte jetzt keinen Besuch – und überhaupt, wer sollte das sein? Die Grieshabers sicher nicht, die waren auf den Kanaren wie jeden Winter, sie würden erst im Februar zurückkommen, vielleicht auch erst im März. Wenn sie hier waren, kamen sie manchmal am Abend um ein Ei, um etwas Mehl oder Zucker zu borgen, Dinge, die sie einzukaufen vergessen hatten, aber sie waren ja auch schon alt. Doch jetzt? Sonntag um diese Zeit? Auch die Webers waren nicht daheim, und sonst gab es keine Nachbarn, das war ja das Schöne hier oben. Hier war man so herrlich für sich.
Es klingelte wieder, länger, drängender. Wie unverschämt man klingeln kann!
»Ach Mensch!«, stöhnte sie unwillig und legte ihr Buch zur Seite.
»Maria!«
Im Licht der Eingangsbeleuchtung stand ein Typ, unrasiert, nass, kleine Tasche, und ging sofort auf sie zu. Er roch nach Alkohol, Bier, unangenehm.
Sie kannte ihn nicht, war ihm noch nie begegnet.
»Maria! Schön, dass du da bist. So ein Glück! Mein Gott, wie lange haben wir uns nicht gesehen!«
Er ging ganz einfach ins Haus. Schob sie zur Seite, warf seine Tasche in den Gang und steuerte direkt in Richtung Wohnzimmer.
»Bist du allein?«
Schon saß er in ihrem Sessel und hatte die Beine ausgestreckt.
»Hast du ein Bier?«
Maria war völlig perplex. Und hilflos. Sie fühlte sich ohnmächtig und überrumpelt.
»Entschuldigen Sie«, stammelte sie, nachdem sie sich halbwegs gefangen hatte. »Wer sind Sie überhaupt? Was wollen Sie hier?«
Die ersten Worte machten ihr Mut, ihre Stimme wurde wieder fester.
»Darf ich Sie bitten, wieder hinaus …« Sie zeigte mit der Rechten zur Tür.
»Aber Maria!«, gab der Typ von sich. Herablassung schwang in seiner Stimme. Er streckte die Arme aus. »Ich bin der Josef, kennst du mich nicht mehr? Der Josef Wagner. Du warst doch in meiner Klasse, damals, drüben in Streitberg! Du wirst mich doch nicht … nachts … bei so einem Wetter … Nein!«
Er lachte ein rauchiges Lachen. Der Kerl war unangenehm und sah auch unangenehm aus. Nein, sie kannte ihn nicht, sie kannte keinen Josef Wagner. Oder doch? Vage tauchte ein Bild vor ihr auf. Josef Wagner? Ja: Josef Wagner, so hatte der geheißen! Dieses Arschloch aus Oberfellendorf, aus der Volksschule damals! Der? Ihr Kopf arbeitete fieberhaft. Aber der war doch längst … oder nicht? … oder täuschte sie sich? Sie hatte keine Erinnerung, viel zu lang war das alles schon her.
»Hol mir ein Bier!«, unterbrach der Typ ihre Gedanken. Sein Ton war ungut, er machte ihr Angst.
»Nein. Sie werden sofort meine Wohnung verlassen.« Sie versuchte es resolut und war fast überzeugt, dass es ihr gelungen war. Sie hatte dabei erneut zur Tür gezeigt.
»Ein Bier!«, forderte der Typ jetzt lauter, unbeeindruckt von ihrem Versuch der Abweisung. Warum nur hatte sie ihn hereingelassen?
»Ich hab keins im Haus«, entschuldigte sie sich kleinlaut. »Ich trinke keins.« Hundert Dinge schossen ihr durch den Kopf.
»Dann Schnaps«, forderte er lapidar. Er hatte bereits die Kontrolle. Vollständig. Sie spürte, wie sie verlor.
»Nein.« Das war ein letzter Versuch.
»Schnaps!«, brüllte er jäh los. »Und mach mir jetzt keine Zicken!«
Eingeschüchtert ging sie zur Küche, schon wie in Trance. Ein beschissenes Gefühl. Maria hatte Angst. Wie kam sie hier bloß wieder raus?
Der Kerl folgte ihr.
Maria nahm eine Flasche aus dem Schrank, reichte sie ihm. Ihre Hand zitterte. Der Typ sah aufs Etikett.
»Dreck«, sagte er, »Likör …«, und schüttelte nur den Kopf. »Weibergesöff. Hast du nichts Richtiges?« Und knallte die Flasche auf die Spüle.
»Im Keller«, sagte sie und wurde immer kleiner.
»Ich komm mit.«
Er suchte in den Schubladen, zog eine nach der anderen auf, knallte sie wieder zu, dann fand er ein großes Messer, prüfte demonstrativ die Klinge und nahm es an sich. »So, jetzt zum Schnaps. Und keine Zicken, verstanden?«
Seine Stimme war jetzt brutal.
»Halt, warte!«, befahl er plötzlich und trat auf sie zu. Er war ihr ganz nah, sie roch seinen sauren Atem. Der Typ stank.
Er fasste ihr zwischen die Beine, sie stöhnte kurz auf, zuckte zusammen, dann beherrschte sie sich, aber zitterte. Dem Typ schien das zu gefallen.
Maria drehte sich von ihm weg, wollte nur fort. In den Keller, Schnaps holen, damit er zufrieden war. Aber zur Flucht war der Keller nicht gut, das war ihr klar. Nur – hatte sie überhaupt eine Chance?
»Halt, halt! Nicht so schnell, warte!« Er trat von hinten an sie heran, legte seinen Arm um sie, sie spürte den Kerl im Rücken. Er schob seine Hand unter ihren Pullover, unter ihr Hemd, auf die Haut, auf den Bauch, dann wanderte die Hand nach oben an ihre Brust. Drückte. Schob sich unter den BH, drückte wieder. Knetete. Es tat weh.
»Hmm …!«, grunzte er genüsslich und leckte hinter ihrem Ohr. Es war widerlich.
»Bitte nicht!«, wimmerte sie und schämte sich vor sich selbst. Dieser Widerling! Warum konnte sie ihm nichts entgegensetzen? Warum war sie plötzlich so klein?
Sie machte einen Schritt von ihm weg, seine Hand rutschte ab, sie drehte sich um und schlug ihm ins Gesicht. Mitten hinein. Und erschrak. In seiner Rechten sah sie das Messer. Dann sah sie ihn ausholen …
Als sie zu sich kam, lag sie im Wohnzimmer auf dem Teppich, entblößt, ihr Gesicht klebte. Blut und … – sie kannte diesen Geruch. Dieses Schwein!
Er saß auf dem Sessel, ebenfalls entblößt, breitbeinig, grinste. Er spielte an seinem Schwanz, eine Schnapsflasche in der anderen, nahm einen Schluck. Sein Heinrich stand stocksteif.
»Komm her«, sagte er, als würden sie sich sehr gut kennen und als wolle er sie trösten.
»Komm auf den Knien!«, fügte er an. Ein Befehl.
Da wusste Maria: Hier komme ich nicht mehr raus! Das war’s mit dem Leben. Der lässt mich nicht mehr laufen.
Manchmal weiß man das.
Sie krabbelte auf ihn zu.
›Warum tue ich das?‹, fragte sie sich. ›Warum lasse ich das mit mir geschehen, wenn ich doch ohnehin keine Chance …?‹
»Zieh deine Hose aus!«, befahl er.
Sie gehorchte.
»Knie dich her!«
Er fasste an ihre Brüste, nahm seinen Schwanz in die Hand, zog ihren Kopf heran.
Es klingelte.
»Was soll das denn? Erwartest du Besuch?«
Sie sah ihn flehend an. »Nein.«
Es klingelte wieder. Länger. Drängender.
Der Typ stand auf, zog sich die Hose hoch.
»Warte!«, herrschte er sie an. »Und keinen Laut!«
Er zeigte ihr das Messer. Dann ging er hinaus zur Tür.
»Was wollen Sie?«, hörte sie ihn fragen.
»Entschuldigen Sie die Störung … wohnt hier nicht mehr Maria Löwen?«
Josef! Josef Peetz! Ihr Josef Peetz! Ihr Josef! Sie hatte die Stimme sofort erkannt. Nach all den Jahren. Wie sehr hatte sie immer gehofft, dass er eines Tages …
»Nein!«, bellte der Typ den Besucher an.
»Aber hier auf dem Schild …«
»Hauen Sie ab!«
»Maria?«, rief der Besucher fragend in die Wohnung.
»Josef …«, antwortete sie dünn aus dem Wohnzimmer. Zittrig.
Dann hörte Maria Gerangel, das Dumpfe von Schlägen, hörte Stöhnen, wieder Schläge, Gerangel, scheinbar endlos. Nach einer Ewigkeit war es still.
Schritte.
Dann stand ein Mann in der Tür.
Josef.
»Maria!«
»Josef!«
Sie hatten in dieser Nacht noch viel zu tun.