16 · Bernd Flessner ·
Schneeballen
»Was ist das?«
»Die Schneeballen, die wir dir mitbringen sollten.«
»Ich hoffe, es sind die echten!«
»Es sind die echten, also die mit Puderzucker«, antwortete Klara und reichte ihrer Tante eine braune Papiertüte ins Bett, die das Logo einer Bäckerei aus Rothenburg ob der Tauber schmückte.
»Ich weiß gar nicht, warum die heutzutage Nougat, Pistazien oder noch Scheußlicheres auf die Schneeballen schmieren!«, sagte Sieglinde Haffner, als sie die Tüte in Empfang nahm. »Was glauben die Bäcker eigentlich, woher der Name stammt? Die heißen Schneeballen, weil sie wie Schneebälle aussehen. Und dafür sorgt der Puderzucker. Das ist doch wohl nicht so schwer zu verstehen?! Aber nein, sie kleben Pistazien oder Mandeln auf die Dinger!«
Sieglinde Haffner, die von ihren Nichten und Neffen Tante Linde genannt wurde, öffnete die Tüte, indem sie ihr mit einer langsamen Bewegung den sorgsam gefalteten Kopf abriss. Dann kippte sie die Tüte mit beiden Händen, sodass sie bequem hineinsehen konnte.
»Viel zu viel Zucker! Die Bäcker sind wohl verrückt geworden? Wollen die mich umbringen?«
»Bestimmt nicht, Tante Linde«, versuchte Axel sie zu beruhigen. »Diese Schneeballen sind eben noch echte Schneeballen. Die sehen wirklich noch aus wie Schneebälle. Das hast du selbst gesagt. Dazu braucht man eben viel Puderzucker.«
»Und was ist mit meinem Diabetes? Den hast du wohl vergessen?«
»Ich nicht«, entgegnete Axel vorsichtig. »Aber du. Denn du wolltest die Schneeballen ja unbedingt haben. Dabei weißt du genau, dass du sie eigentlich nicht essen darfst.«
»Papperlapapp! Schneeballen hat es bei uns immer gegeben. Die gehören nun mal dazu. Die Nürnberger haben ihre Lebkuchen, wir haben die Schneeballen. Sollen mir die Pfleger doch mehr Insulin spritzen!«, sagte die grauhaarige, verhärmte Frau, wobei sie den Blick nicht auf ihren Neffen gerichtet hatte, sondern mit großen Augen wie hypnotisiert in die braune Tüte starrte.
»Wie sind eigentlich die neuen Pfleger?«, fragte Klara, die die Gelegenheit nutzte, um das Thema zu wechseln.
»Noch schlechter als die letzten«, antwortete ihre Tante, nach wie vor von der Tüte magisch angezogen. »Alles ungehobelte Kerle. Haben keinerlei Benimm. Gestern haben sie dieser blöden Frau Wendler vor mir das Essen gebracht. Ich hab’s genau gehört. Ihr Zimmer kommt aber nach meinem. Sie hat die Nummer 20, ich 19. Also müssen sie mir das Essen zuerst bringen. Oder etwa nicht?«
Tante Linde hob ihren Kopf und setzte den Blick einer strengen Oberstudienrätin auf. Einen Blick, den sie perfekt beherrschte, denn sie hatte 35 Jahre an verschiedenen Gymnasien unterrichtet. »Oder etwa nicht?«
»Natürlich, das müssen sie«, gab Axel schließlich nach.
»Und sie müssen auch sofort kommen, wenn man sie ruft«, dozierte die Tante und streckte den rechten Arm zum roten Notrufknopf aus.
»Nicht!«, entfuhr es Klara. »Das ist doch nicht nötig!«
»Ist es, mein Kind, ist es. Schaut auf die Uhr! Fünf Sekunden … zehn Sekunden …«
Während Klara mit den Augen rollte, verkroch sich Axel in dem blauen Sessel, auf dem er immer saß, wenn sie Tante Linde besuchten. Er dachte an die vergangenen Wochen, an die beiden Brüche ihrer osteoporosegeschädigten Rückenwirbel, an die Operation in Erlangen und die Suche nach einem geeigneten Kurzzeitpflegeplatz. Wenigstens um die Finanzierung hatte sich die Familie nicht kümmern müssen, denn die Lücke, die Pflegeversicherung und Krankenkasse ließen, schloss Lindes Pension. Geld war nicht das Problem.
Ohne dass sie zuvor Schritte gehört hatten, flog plötzlich die Tür auf. Eine Pflegerin und ein Pfleger, beide im roten Arbeitsdress des Heims, erschienen und wandten sich umgehend der Pflegebedürftigen zu.
»Was passiert, Frau Haffner, was passiert?«, fragte die noch junge Pflegerin mit starkem osteuropäischen Akzent.
Der junge Mann sagte kein Wort, löste seinen Blick von der Patientin und sah abwechselnd Klara und Axel an. In seiner Miene, in seinen Augen glaubten sie lesen zu können, dass er nicht ernsthaft mit einem Notfall gerechnet hatte. Stumm tauschten sie Ansichten und Urteile aus und wurden sich in Sekunden einig, während die kleine Pflegerin akribisch die Lage der Patientin und das Bett kontrollierte.
»Was habe ich euch gesagt, fast eine Minute«, maulte die Tante und ignorierte die beiden Pflegekräfte.
»Entschuldigen Sie bitte, es war ein Versehen«, sagte Klara zu den Uniformierten.
»War es nicht!«, widersprach Linde. »Es sei denn, du meinst das Versehen dieses Etablissements, zwei dermaßen Unfähige eingestellt zu haben.«
»Also nichts?«, fragte der Pfleger lakonisch und mit teilnahmslosem Blick.
»Nein, Herrgott noch mal!«, schimpfte die Tante. »Und jetzt entfernen Sie sich bitte wieder!«
Klara stand von ihrem Stuhl auf und begleitete die grundlos Herbeigerufenen nach draußen. So leise wie möglich zog sie die Tür hinter sich ins Schloss.
»Tut mir leid, aber Sie kennen ja meine Tante.«
»Schon in Ordnung«, sagte der Mann, lächelte fast, drehte sich um und schlenderte den Gang hinauf. Die kleine Pflegerin folgte ihm und stellte Fragen, die nur dem Tonfall nach als solche zu verstehen waren.
Als Klara ins Zimmer zurückkehrte, begrüßte Linde ihre Nichte vorwurfsvoll: »Was sollte das denn? Hast du etwa vor, dich diesen Elementen anzubiedern? So etwas haben die Haffners nicht nötig!«
»Nein, Linde, ich war nur höflich. So, wie du es immer wieder einforderst. Höflichkeit ist doch die beste Waffe. Deine Worte.«
Die ohnehin großen Augen der Tante schienen ihren Kopf abrupt verlassen zu wollen, zogen sich aber schnell wieder zurück. Dafür begann ihr geschlossener Mund samt der abfallenden Mundwinkel zu arbeiten. Sie schien etwas zu kauen, es waren aber nicht die von ihr geliebten Süßigkeiten, sondern pure Gedanken. Nach einigen Sekunden wurden ihrer Züge wieder weicher.
»Siehst du, Klara, das ist der Unterschied zwischen uns und denen. Wir stammen eben aus einem anderen Stall, aus einem bürgerlichen. Der Benimm wurde uns in die Wiege gelegt. Wir sind höflich, wir sind pünktlich. Von Haus aus. Kultur suchst du bei denen vergeblich. Die Sprache Goethes oder Thomas Manns ist ihnen fremd und wird ihnen immer fremd bleiben.«
Axel kam aus der Deckung und setzte sich wieder offensiv auf das Polster. Spontan war eine Entgegnung auf seine Zunge gerutscht, die er dann aber mit viel Mühe zurückhielt. Für einen Moment krallten sich seine Hände in die Seitenlehnen des Sessels. Ganz verzichten wollte er aber auch nicht und servierte seiner Tante, quasi als Ersatz für die unterdrückte Erwiderung, eine gut verpackte Frage. »Auf diese Pfleger kannst du wirklich pfeifen. Aber zum Glück hast du ja Manfred. Der kümmert sich bestimmt ausgiebig um dich. Wie oft … kommt er eigentlich vorbei?«
Wieder begann Lindes Mund zu arbeiten, spuckte aber schnell eine Antwort aus: »Wisst ihr, Manfred muss viel zu viel arbeiten. Er würde ja gerne öfter kommen, das hat er mir selbst am Telefon gesagt, aber Siemens kann keine Stunde auf ihn verzichten.«
»Nicht mal am Wochenende?«, warf Axel ein.
»Manfreds Arbeit könnt ihr nicht mit dem vergleichen, was ihr so macht«, konterte die Tante und hob sich dabei ein paar Zentimeter aus dem Bett. »Manfred hat schließlich studiert.«
»Wir auch, Linde, wir auch«, meldete sich Klara zu Wort.
»Anglistik, Politologie und so ein Zeug«, spottete Linde. »Das kann man ja wohl nicht mit Medizintechnik vergleichen. Wir reden hier von einem richtigen Studium, von konkreten Inhalten und von Prüfungen, die diesen Namen auch verdienen. Ihr habt ja keine Ahnung, wie viel mein Sohn hat lernen müssen. Keine Ahnung habt ihr. Ganz zu schweigen von seiner Stellung und von den vielen Neidern, die an seinem Stuhl sägen. Nein, er kann es sich einfach nicht erlauben, auch nur eine Stunde zu fehlen.«
»Dem kann ich folgen«, nickte Klara. »Außerdem müsste er ja auch noch die lange Autofahrt auf sich nehmen. Fast dreißig Minuten. Und das mit seinem neuen BMW Z3. Dafür kommt wahrscheinlich Petra umso öfter.«
»Petra ist krank«, seufzte die Tante betroffen. »Schwer krank sogar.«
»Das wusste ich gar nicht«, wunderte sich Axel und machte ein entsprechendes Gesicht. »Was hat sie denn, wenn ich fragen darf?«
»Burnout. Eine schlimme Sache. Sie kann einfach nicht mehr. Sie ist völlig ausgelaugt und macht irgendwo eine Kur. Manfred hat mir gesagt, wie bitter nötig sie diese Kur hat. Bitter nötig.«
»Damit ist sie natürlich entschuldigt«, brummte Axel.
»Natürlich ist sie das«, zischte Linde und zog sich am Griff des Bettgalgens hoch, der über ihr hing. »Ihr geht es ebenso schlecht wie mir, wie sollte sie sich da um mich kümmern können? Aber das braucht sie auch gar nicht, denn ihr seid ja da. Und ihr habt viel Zeit. Bei euren Berufen.«
»Stimmt, das hatte ich fast vergessen«, kommentierte Klara.
Es klopfte. In der Tür erschien eine Pflegerin mit einem Tablett.
»Ihr Mittagessen, Frau Haffner. Soll ich es auf den Tisch stellen, oder wollen Sie wieder im Bett essen?«
»Am Tisch selbstverständlich! Was gibt es denn?«
»Hühnerfrikassee mit Reis und Salat«, antwortete die Pflegerin betont freundlich, als habe sie eine Überraschung zu verkünden.
»Ich dachte, es gibt heute Sauerbraten?«, maulte die Tante.
»Den gibt es auch, aber Sie hatten das Frikassee angekreuzt«, erwiderte die Pflegerin.
»So? Hatte ich das?«
»Ja, am Dienstag.«
»Eine völlig idiotische Regelung, dass man sein Essen Tage vorher auf einem Zettel ankreuzen muss. Woher soll ich am Dienstag wissen, was mir am Sonntag schmeckt. Außerdem kann ich keinen Spargel vertragen.«
»Sie haben Glück, das Frikassee ist ohne Spargel, dafür aber mit frischen Champignons«, lächelte die Pflegerin.
»Ohne Spargel?«, empörte sich die Achtzigjährige, während Axel und Klara ihr mit nun schon routinierten Griffen in den Rollstuhl halfen. »Hühnerfrikassee ist immer mit Spargel. Da können Sie jeden Koch fragen. Das ist einfachstes Grundwissen der gutbürgerlichen Küche.«
»Sitzt du bequem?«, fragte Klara.
»Nein, aber das lässt sich nicht ändern. Liegt am Rollstuhl«, antwortete die Tante und ließ sich an den kleinen Tisch in der Mitte ihres Zimmers schieben. Ein großes, ein helles Zimmer, wie es nur bessere und natürlich auch teurere Heime zu bieten hatten. An den in Gelb gehaltenen Wänden hingen Reproduktionen von Picassos Kind mit der Taube und van Goghs Schlafzimmer in Arles. Das Fenster nahm die halbe Außenwand ein und gewährte einen beeindruckenden Blick über den hauseigenen Park, in dem einige gut vermummte Bewohner zutrauliche Enten fütterten.
»Versuchen Sie es wenigstens einmal«, wurde Linde von der Pflegerin ermuntert, die ihr den Teller hinstellte und das Besteck reichte. »Guten Appetit!« Dann stahl sie sich aus dem Raum.
Mit kritischer Miene und von der rechten Hand geführter Gabel sondierte Linde das Frikassee, wählte ein Stück Fleisch aus, isolierte es auf dem Tellerrand, drehte es, betrachtete es von allen Seiten und führte es schließlich zum Mund, um es im Zeitlupentempo zu bearbeiten.
»Viel zu trocken. Wer soll das denn essen? Hier wohnen doch nur alte Menschen. Das kann doch keiner von denen kauen. Haben doch alle ein Gebiss.«
»Du aber nicht«, flüsterte Klara hinter ihrem Rücken, sodass nur Axel es verstehen konnte. Ihr Vetter hob kurz die Schultern.
Die Tante nahm sich nun die Soße vor, mischte sie mit ein paar Reiskörnern und jonglierte sie im Mund.
»Zu viel Curry. Die Soße ist fast grün vor Curry. Habt ihr schon mal so ein Frikassee gesehen? Zu viel Curry ist ungesund. Davon kann man Asthma bekommen. Oder Schlimmeres. Aber die blöde Frau Wendler, die frisst jetzt bestimmt meinen Sauerbraten.«
Demonstrativ würgte sie einige Bissen hinunter, dann legte sie die Gabel geräuschvoll auf die Tischplatte.
»Du musst aber etwas essen«, ermahnte Klara ihre Tante, »damit du wieder zu Kräften kommst. Umso eher kannst du wieder nach Hause.«
»Hast du auch ordentlich gelüftet?«
»Hab ich«, versicherte Klara.
»Und Staub gesaugt? Auch im Abstellraum? Und im kleinen Ern?«
»Alles erledigt«, nickte Klara.
»Wie man ein Haus richtig pflegt und sauber hält, das weiß ja heute keiner mehr. Darum habe ich auch keine Putzhilfe. Denen müsste ich nämlich hinterherputzen. Einmal habe ich es versucht, aber das junge Ding konnte nicht mal Blumen gießen. Hast du meine Blumen gegossen?«
»Auch das, Tante Linde. Alle Blumen sind in Schuss.«
»Das will ich auch hoffen! Keine Post?«
»Nein, die hätten wir doch mitgebracht«, sagte Axel, verließ den Tisch und machte ein paar nervöse Schritte durch den Raum.
»Wehe, ihr öffnet auch nur einen Brief!«
»Warum sollten wir das tun?«, entgegnete Klara.
»Aus purer Neugier. So wie meine Putzfrau. Oder wie Manfred und Petra. Bestimmt haben die schon Briefe geöffnet.«
Klara schwieg, rollte aber erneut mit den Augen. Ihr Vetter durchquerte das helle Zimmer noch ein paarmal und baute sich dann vor der Tante auf, der das Hühnerfrikassee plötzlich doch zu schmecken schien.
»Es ist gleich halb eins, wir müssen gehen«, sagte Axel. »Auch wir wollen noch zu Mittag essen.«
»Aber ihr seid ja gerade erst gekommen«, beschwerte sich die Tante.
»Wir waren genau um elf bei dir, Tante Linde. Und wir müssen jetzt wirklich los«, bekräftigte Klara. »Wir kommen so bald wie möglich wieder. Soll ich dir noch etwa Wasser einschenken?«
»Nein. Ihr müsst doch gehen.«
Klara und Axel tauschten Blicke.
»Wir gehen jetzt, Tante Linde. Weiterhin gute Besserung«, sagte Klara und reichte ihr die Hand, die die Tante nach kurzem Zögern auch annahm.
»Bis nächste Woche«, schloss sich Axel an. »Wird schon werden.«
»Bei diesen Pflegern?«
»Auch bei diesen Pflegern, Tante Linde. Die sind doch alle ganz in Ordnung. Gib ihnen einfach eine Chance. Ade!«
»Tschüss, Tante Linde!«
Sie warfen einen letzten Blick auf die Tante, auf ihren teuren Plüschbademantel, auf ihre grauen Haare, auf ihre schmalen Schultern, auf ihre rechte Hand, die eine volle Gabel zum Mund führte. Leise schlossen sie die Tür hinter sich.
»Puhh!«, stöhnte Axel auf dem Gang. »Das war mal wieder grenzwertig. Wie halten das bloß die anderen aus?«
»Gar nicht«, antwortete Klara. »Wir sind die Letzten.«
»Was soll das heißen, wir sind die Letzten? Was ist mit Karl und Gerlinde? Oder mit André und Frieda?«
»Karl und Gerlinde waren immerhin einmal da. André und Frieda haben schon lange aufgegeben. Die lassen sich nur noch jedes halbe Jahr blicken.«
»Und Manfred? Hat der wirklich so viel zu tun?«
»Alles Quatsch. Der drückt sich. Und das weiß sie im Grunde auch, da bin ich mir sicher. Aber ihr mustergültiger Sohn ist eben ein Heiliger, jedenfalls nach außen. Insbesondere für die Familie. In Wahrheit ist Manfred längst randvoll mit ihren Vorwürfen. In den geht nichts mehr rein. Der kann nicht mehr und ist wahrscheinlich froh, dass er überhaupt so lange durchgehalten hat«, analysierte Klara nüchtern. Ihre Hände waren damit beschäftigt, eine Zigarette aus einem glänzenden Etui zu ziehen und das Feuerzeug in Stellung zu bringen. Aber bis zur Tür waren es noch etliche Meter.
»Dann weißt du doch bestimmt auch, was es mit Petras Burnout auf sich hat?«
»Burnout? Besser wäre wohl ›Drinkout‹. Die Kur ist nämlich eine Entziehungskur. Kein Wunder, sie ist mit Manfred verheiratet, und Linde ist ihre Schwiegermutter. Die plötzliche Flucht ihrer beiden Vorgängerinnen hätte ihr eine Warnung sein sollen.«
»Verstehe«, sagte Axel, der erst vor einem halben Jahr nach einem längeren Aufenthalt in den USA wieder in seine alte Heimat zurückgekehrt war. Während der nächsten Schritte fiel kein Wort. Klara spielte mit der Zigarette, Axel mit Szenarien, die ohne sein Zutun in seinem Kopf entstanden.
»Ich hab sie nur so in Erinnerung«, dachte er schließlich laut. »Aber dass sie im Alter noch giftiger werden würde? Unglaublich. Und unerträglich. Ich weiß nicht, ob ich noch so einen Besuch durchstehe. Auch wenn wir zehnmal die Letzten sind.«
»Musst du auch nicht«, hauchte Klara.
»Wie soll ich das verstehen?«
Klara blieb stehen und sah ihren Vetter herausfordernd an: »Wie früher? Unser Geheimnis?«
»Wie früher! Unser Geheimnis!«, versprach Axel, in dem die Neugier aufloderte.
Klara zögerte, sah ihm in die vertrauten Augen.
»Unser Geheimnis!«, schwor Axel.
»Gut. Der Puderzucker ist kein Puderzucker. Jedenfalls nicht nur. In ihrem Zustand wird niemand etwas merken. Es wird ganz natürlich aussehen. Diese Schneeballen sind ihre letzten Schneeballen.«
Klara machte einige schnelle, große Schritte. Sie erreichte die Eingangstür und stieß sie kraftvoll auf. Axel folgte ihr, ließ sich aber sichtlich Zeit. Draußen blies seine Kusine blaue Wolken durch die Nase in die kalte Dezemberluft.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragte er vorsichtig.
»Ein gemeines Zeug mit einem unaussprechlich langen Namen. Gehört zu den Benzodiazepinen. Ein weißes, geschmackloses Pulver. Eine Neuentwicklung. Das hat mich überhaupt erst auf die Idee gebracht. Sie schläft ein, und das war’s.«
»Wo hast du es her?«
»Aus dem Schweizer Pharmalabor. Du weißt schon. Die PR-Aktion letztes Jahr, von der ich dir erzählt habe. Es ist mir dort zufällig in die Hände gefallen. Von mir aus nenn es Schicksal.«
Axel senkte seinen Blick und starrte eine Weile auf das Natursteinpflaster. Moos hatte hier und da eine Fuge erobert; ein schwarzer Kaugummi hatte sich mit einem der Steine vereinigt. Bilder und Erinnerungen rasten durch seinen Kopf, Sätze detonierten und verhallten. Als sich Klara eine zweite Zigarette anzündete, hob er seinen Kopf und fragte mit einem verhaltenen Lächeln: »Hast du auch eine für mich?«
»Aber klar. Nimm meine. Seit wann rauchst du wieder?«
»Seit jetzt«, antwortete Axel, zog kräftig daran und blies den Rauch wie seine Kusine durch die Nase in die kalte Luft.