18 · Petra Rinkes und Roland Ballwieser ·
Alle Jahre wieder
»Entschuldigung, ist die Liege hier noch frei?«
Barbara schrak hoch. Sie nahm die Sonnenbrille ab. Der Mann machte ein zerknirschtes Gesicht. »Oh, das wollte ich nicht. Ich habe Sie erschreckt. Tut mir furchtbar leid.«
»Macht nichts. Ich bin wohl kurz eingeschlafen. Die Liege ist frei. Bitte.«
Barbara stand auf. Ihr war heiß. Sie ging zum Pool und schwamm ein paar Runden. Dann legte sie sich im Wasser auf den Rücken und schaute in den tiefblauen Himmel über Dubai. Und zu Hause versank gerade alles im Schneematsch. Herrlich!
Sie kletterte aus dem Pool und trocknete sich ab. Der Mann auf der Liege neben ihr sprach mit dem Kellner, dann wandte er sich ihr zu. »Ich habe mir erlaubt, einen Drink für Sie zu bestellen, quasi als Entschädigung.«
Wollte der Typ sie anmachen? Okay. Er sah gut aus, und kultiviert schien er auch zu sein. Und so weit weg von zu Hause fühlte sie sich frei.
Als der Cocktail kam, waren sie bereits in ein angeregtes Gespräch vertieft. Peter war aus Würzburg, geschieden und geschäftlich in Dubai.
Sie verabredeten sich zum Abendessen.
Zurück auf dem Zimmer rief Barbara ihre älteste Tochter Claudia an. Von dem Urlaubsflirt erzählte sie nichts, aber ihre gute Laune hörte man ihr offenbar an.
»Du klingst richtig gut, Mama. Das freut mich. Amüsier dich, tschüß.«
Schön, dass Claudia nicht sauer auf sie war. Keine Szenen wie all die Jahre zuvor. Nun gut. Dann wollte sie tun, was ihre Tochter gesagt hatte. Sich amüsieren.
Als sie das italienische Restaurant des Dubai Palm Resort betrat, erwartete Peter sie schon.
»Sie sehen toll aus. Ich freue mich auf den Abend mit Ihnen.« Er reichte ihr die Speisekarte.
Dieser Mann schien tatsächlich Interesse an ihr zu haben. Dabei hatte sie das Thema Männer für sich längst abgehakt. Doch Peter war aufmerksam und strahlte etwas unheimlich Beruhigendes aus. Barbara fühlte sich wohl, so wohl wie schon lange nicht mehr. Noch vor der Hauptspeise erzählte sie ihm, warum sie über die Festtage in Dubai und nicht bei ihren Kindern und Enkeln in Nürnberg war. So offen hatte sie schon lange nicht mehr mit jemandem gesprochen. Nicht mit ihrem Exmann, und schon gar nicht mit einem der vielen Psychoärzte, zu denen ihre Familie sie jahrelang geschleppt hatte. »Ich hasse diese Tage. Schon immer. Schon seit ich ein kleines Mädchen war. Warum, weiß ich bis heute nicht. Aber ich kann nicht einmal das Wort aussprechen.«
Barbara sah Peter prüfend an. Jetzt würde er sicher gleich unter einem Vorwand verschwinden, jetzt, wo sie sich als Spinnerin geoutet hatte.
Aber nein. Er schaute ihr in die Augen und trank einen Schluck Wein. »Erzählen Sie.«
Und sie erzählte. »Schon als kleines Mädchen wusste ich, dass etwas mit mir nicht stimmt. Alle anderen freuten sich auf diese Zeit, nur ich kämpfte mit Übelkeit und Tränen, schon wenn ich an einem geschmückten Baum auch nur vorbeilaufen musste. Zu allem Überfluss gingen meine Eltern mit mir jedes Jahr zur Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes. Sie wollten mir damit sicher eine Freude machen. Wenn wir uns dann mit den Massen Richtung Hauptmarkt schoben, sträubte sich alles in mir. Dabei war ich erst fünf Jahre alt. Richtig schlimm wurde es, wenn wir unter diesem gigantischen Rauschgoldengel durchliefen. Ich steckte mitten zwischen den Erwachsenen, konnte kaum atmen, und wenn ich um Luft ringend nach oben blickte, dann war da dieses goldene Monster ohne Arme. Anklagend sah es zu mir herunter. Gerade so, als wäre ich höchstpersönlich dafür verantwortlich, dass man es dort oben aufgeknüpft hatte.«
Barbara schenkte sich Wasser nach.
Peter legte für einen kurzen Moment seine Hand auf ihren Arm. Die Hauptspeise kam, Rinderfilet an Mangojus. Sie aßen schweigend.
Nach dem Essen bestellte Peter Kaffee. »Und weiter? Wie ging es weiter?« Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich meine, wenn du es mir erzählen willst.«
Barbara schüttelte den Kopf. Sie lenkte das Gespräch in eine harmlosere Richtung, und Peter ließ es dabei bewenden. Sie tranken noch ein Glas an der Bar und hörten dem Jazzpianisten zu.
Als Barbara auf ihr Zimmer ging, war sie ein wenig beschwipst und auch ein bisschen verliebt. Sie träumte von Peter in dieser Nacht. Mein Gott, so einen Traum hatte sie schon ewig nicht mehr gehabt.
Am nächsten Morgen brauchte sie etwas länger, um sich für das Frühstück fertig zu machen. Immer wieder blieb sie verträumt stehen und dachte an Peter. Mit ihm würde sie gerne ins Bett gehen. Aber Vorsicht, meldete sich ihre Skepsis, der ist so nett. Vielleicht ist alles nur gespielt. Von seinem Beruf hatte er noch nichts erzählt. Merkwürdigerweise wich er da immer aus. Ein Heiratsschwindler? Barbara musste lachen, jetzt ging die Fantasie aber mit ihr durch. Sie war schließlich nicht in einem Groschenroman. Aber trotzdem, irgendetwas stimmte da nicht.
Das Handy klingelte. Ihre jüngste Tochter Nina.
»Hallo Mama, na alles klar? Was machst du denn so?«
Barbara hatte überhaupt keine Lust, ihr von Peter zu erzählen. Eigentlich wollte sie überhaupt nicht mit Nina reden. Sie versuchte es kurz zu machen.
Aber Nina ließ nicht locker. »Was treibst du denn den ganzen Tag? Hast du jemanden kennengelernt? Erzähl doch.«
Was sollte diese Frage? Merkte man ihr etwas an? Oder …? Plötzlich schoss ein Gedanke in Barbaras Kopf und setzte sich darin fest. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken. »Nein, ich genieße es, alleine zu sein und meine Ruhe zu haben. Aber Nina, sei mir nicht böse, ich habe keine Zeit mehr, das Frühstück wartet. Grüß die Kinder von mir.« Nachdem sie aufgelegt hatte, setzte sie sich auf ihr Bett und versuchte, den Verdacht zu verscheuchen – ohne Erfolg.
Konnte es sein, dass ihre Töchter mit Peter in Verbindung standen? Sie musste mehr über seinen Beruf herausfinden. Er konnte so unheimlich gut zuhören. War das ein Zufall?
Im Frühstücksraum sah sie ihn sofort. Er stand gerade vom Tisch auf und ging mit seinem Handy am Ohr auf die Terrasse. Nach fünf Minuten kam er wieder herein. Er machte keinen so entspannten Eindruck wie am Abend zuvor. Als er Barbara sah, nahm er seine Kaffeetasse und kam zu ihr an den Tisch.
»Darf ich mich zu dir setzen?«
Barbara nickte. »Ärger?«, fragte sie und deutete auf das Handy, das Peter noch immer in der Hand hielt.
»Ach, unwichtig.« Er machte eine wegwerfende Geste.
Später am Pool fragte er Barbara, warum sie sich gerade Dubai und das Palm Resort ausgesucht hatte.
»Man hat mir versichert, dass es hier keine Feiertagsdekoration geben wird, kein Jingle Bells an der Hotelbar und keinen Gänsebraten mit Rotkohl auf der Speisekarte.«
»Und wenn sie am 24. doch einen Weihnachtsbaum aufstellen? Was wäre dann?«, fragte Peter.
»Dann würde ich sofort abreisen und müsste mich wieder für Wochen in meiner Wohnung verbarrikadieren, wie die ganzen Jahre vorher.«
»So schlimm?«
»Ja. So schlimm.«
Barbara setzte sich auf. Sie hatte das Thema eigentlich nicht mehr anschneiden wollen, aber dieser Mann hatte etwas an sich, das bei ihr alle Dämme brechen ließ. Sogar jetzt noch, wo sie diesen schrecklichen Verdacht mit sich herumtrug. Aber wenn sie recht hatte mit ihrer Vermutung, dann sollte er wenigstens etwas tun für sein Honorar. Und so erzählte sie ihm von ihrem Leidensweg.
Am einfachsten war es als Teenager gewesen. Wenn sie sich damals an den Feiertagen in ihrem Zimmer einschloss, ließ man das als Aufsässigkeit einer Pubertierenden durchgehen. Doch dass sie einige Jahre später, als Mutter zweier süßer Mädchen, nicht zur Weihnachtsfeier im Kindergarten oder der Schule erschien, wurde nicht mehr akzeptiert. Wenn die Kinder auch noch überall erzählten, dass sie allein mit ihrem Papa unter dem geschmückten Baum saßen, dann strichen alle den beiden bemitleidenswerten Geschöpfen tröstend über die Köpfchen.
Richard hatte ihre »Weihnachtsmacke«, wie er es nannte, am Anfang ihrer Beziehung interessant gefunden, später nervig und am Schluss unerträglich. Er verstand nicht, dass sie das auch mit Hilfe von Ärzten und Psychologen nicht in den Griff bekam.
An der Stelle ihres Berichtes schaute Barbara Peter auffordernd ins Gesicht, aber er lächelte sie nur an, sonst nichts. Sie erzählte weiter.
Als ihre Töchter in die Pubertät kamen, äußerte sich deren Protest gegen die Mutter in wahren Weihnachtsorgien. Schon Ende Oktober begannen sie ihre Zimmer festlich zu schmücken, und wenn sie ihre Mutter besonders ärgern wollten, sangen sie Alle Jahre wieder. Irgendwann ging es einfach nicht mehr, Barbara zog aus und ließ sich scheiden. Erst seit ihre Töchter selbst Familien hatten, hatte sich das Verhältnis entspannt, wenigstens in den Sommermonaten. Im Winter blieb es nach wie vor schwierig. Die Enkel wollten mit Oma zum Christkindlesmarkt, Plätzchen backen und Weihnachtslieder singen. Barbara hatte es satt, sich wochenlang tot zu stellen und den ganzen Advent über nicht ans Telefon zu gehen. Deshalb hatte sie sich dieses Jahr nach Dubai geflüchtet.
Sie starrte ins Leere.
Eigenartigerweise hatten ihre Töchter ihr sogar zugeredet. Endlich akzeptierten sie ihr Problem – hatte sie gedacht.
Da hatte sie wohl falsch gedacht. Einen Psychoklempner hatten ihr die beiden hinterhergeschickt. Nina surfte doch immer so viel im Internet. Dabei war sie wohl auf Peter gestoßen, einer mit der ultimativen Therapie für die irre Mutter. Wie diese Therapie aussah, war Barbara zwar noch ein Rätsel, aber irgendwann würde er die Maske abstreifen müssen. Schade, er gefiel ihr wirklich gut.
Sie stand von der Liege auf. »Gehen wir schwimmen?«
Peter lächelte sie an, stand ebenfalls auf und stupste sie leicht an die Schulter. Sie verlor das Gleichgewicht und landete prustend im Pool.
Peter sprang ihr nach. »Entschuldige, das war einfach zu verführerisch, und so ein kleiner Schock tut manchmal sehr gut.«
Barbara spritzte ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht. »Keine Schockbehandlungen mehr, Herr Doktor, verstanden?«
Peter antwortete nicht, er wirkte erschrocken und bekam einen Hustenanfall.
Die nächsten Tage war Barbara viel mit Peter unterwegs. Sie hatte beschlossen, sich auf das Spiel einzulassen.
Gemeinsam streiften sie durch Dubai-Stadt, gingen tanzen, unternahmen Ausflüge. Peter war immer charmant und schien ihr Zusammensein zu genießen.
Zweimal ertappte sie ihn dabei, wie er ziemlich plötzlich ein Telefonat beendete, als sie dazukam. Sie war sich fast sicher, er hatte gerade ihren Töchtern Bericht erstattet. Barbara hatte eine riesige Wut auf Claudia und Nina. Dabei fand sie Peter attraktiv und sehr sympathisch. Wirklich schade.
Als sie am 24. Dezember aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Sie hatte schlecht geschlafen, wie immer in dieser Nacht. Daran hatte Dubai nichts ändern können.
Sie setzte sich im Bett auf, und plötzlich wusste sie, was sie tun würde. Sie wollte wenigstens ihren Spaß haben. Mal sehen, wie Peter darauf reagierte.
Es klopfte. Der Boy überreichte ihr einen Brief.
Liebe Barbara,
ich bin heute geschäftlich unterwegs, möchte dich aber für heute Abend zu einem besonderen Essen einladen. (Keine Angst, nichts, was du fürchten musst.) Ich hole dich um acht Uhr ab.
Peter
Na also. So etwas hatte sie sich schon gedacht. Heute Abend würde er also die Katze aus dem Sack lassen. Ihre Töchter hatten wirklich keine Kosten und Mühen gescheut. Mal sehen, welches Schauspiel sich ihr an diesem Abend bieten würde. Neugierig war sie ja schon. Wenn die Vorbereitungen schon so lange dauerten.
Barbara verbrachte den Tag am Pool. Gegen sieben Uhr ging sie auf ihr Zimmer und zog sich um. Punkt acht klopfte es. Peter sah sehr gut aus in seinem Anzug. Braun gebrannt, mit grauen Schläfen, ein Traummann eigentlich.
Allerdings wirkte er ziemlich aufgeregt. Na, sie war ja schließlich auch kein Routinefall, dachte Barbara. Sie lächelte ihn an und küsste ihn bei der Begrüßung ganz leicht, fast wie aus Versehen, auf den Mund.
Peter wurde ein bisschen rot. »Ich habe ein kleines Essen organisiert, nur für uns zwei«, sagte er. Er klang wirklich nervös.
Barbara lächelte. Als im Lift drei andere Gäste zustiegen, schmiegte sie sich sehr nahe an ihn.
Die Kellner lächelten Peter verschwörerisch zu, als sie in das von Kerzenlicht erhellte Separee geführt wurden. Sie setzten sich an den gedeckten Tisch und stießen mit Champagner an.
Peter räusperte sich. »Ich hoffe, du findest dieses Arrangement hier nicht zu kitschig, aber ich habe die Zeit mit dir in Dubai –«
In diesem Augenblick kam der Hotelmanager an den Tisch, beugte sich zu Peter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Peters Augen weiteten sich vor Schreck. »Oh, no«, konnte er gerade noch sagen, da begann ein wahnsinniges Spektakel. Aus dem Lautsprecher dröhnte Oh Tannenbaum, gesungen von einem Kinderchor. Hinter ihnen öffneten sich Vorhänge, die einen blinkenden Weihnachtsbaum freigaben, darum herum schwebten Engel in jeglicher Größe und Farbe. Der Kellner erschien im Weihnachtsmannkostüm mit einer gebratenen Gans, die er mit Schwung auf den Tisch stellte.
Das war es also, dachte Barbara. Dann sah sie alles nur noch durch einen Schleier.
»Sie haben also keine Ahnung, was Ihre Mutter dazu gebracht hat, diesen Mann zu erstechen?«
Nina und Claudia schüttelten die Köpfe.
»Das Opfer, Dr. Peter Renoth, war Hoteltester«, fuhr der Polizist fort. »Soweit wir wissen, hat der Hotelmanager einen Tipp bekommen und wollte für Herrn Renoth alles besonders gut machen. Und da es der 24. Dezember war, hat er für den deutschen Gast das bestellte Candlelight-Dinner als festliches Weihnachtsessen arrangiert.«
»Weihnachten!«, riefen Nina und Claudia wie aus einem Mund.
»Ja, und auf einmal hat Ihre Mutter das Tranchiermesser genommen und mehr als zehnmal auf Peter Renoth eingestochen, bevor sie überwältigt werden konnte. Seitdem hat sie kein Wort gesprochen. Sie ist derzeit in einer Nervenklinik in Dubai-Stadt untergebracht. Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen gerade an Weihnachten eine solche Nachricht überbringen muss«, schloss der Polizist.
Die beiden Frauen sahen sich stumm an. Von der Straße her hörte man einen Leierkasten. Er spielte Alle Jahre wieder.