21 · Dirk Kruse ·
Schöne Bescherung
Ein Duft von Zimt und Tannengrün erfüllte das Zimmer. Vier Kerzen brannten auf dem Adventskranz. Ab und an flackerte eines der Flämmchen munter auf, wenn Stefan, der am Tisch saß, eine Mandarinenschale ausdrückte. Die ätherischen Öle spritzten in kleinen Tröpfchen wie aus einem Parfümzerstäuber ins Kerzenlicht und verwandelten es einen kurzen Moment lang in einen Miniaturflammenwerfer. Es roch nach bitterer Orange und ein wenig verbrannt. Es roch nach Weihnachten, dachte er. Aus dem Radio erklangen leise Weihnachtslieder.
Heute kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben …
Es lief die Sendung Wir warten aufs Christkind. So war es schon in seiner Kindheit Brauch an Heiligabend gewesen. Er konnte sich noch sehr gut an die Aufregung und das wohlige Kribbeln im ganzen Körper erinnern, an diesem besonderen Nachmittag, der sich hinzog wie sonst keiner im Jahr. Die Zeit für die Bescherung wollte einfach nicht kommen. Da sorgten dann die Lieder und Hörfunkgeschichten für Ablenkung, um die mörderische Spanne vom Mittagessen bis zum Dunkelwerden zu überbrücken. Und als er selber eine Familie gründete und zuerst Kevin und keine elf Monate später Laura auf die Welt kam, hatte er diese Tradition mit seinen Kindern fortgeführt.
Trommel, Pfeife und Gewehr, Fahn’ und Säbel und noch mehr …
Stefan schluckte. Sein Hals fühlte sich auf einmal ganz rau an. Er griff nach dem Henkelbecher in Form des rotnasigen Rentiers Rudolf und trank von dem lauwarm gewordenen Früchtetee. Eine Weihnachtsmischung mit Hagebutten-, Zimt- und Nelkengeschmack aus dem Discounter um die Ecke, wo er auch den fertig geschmückten Kranz gekauft hatte. Kein Vergleich zu den wahren Kunstwerken aus frischem Grün, Schleifen, Kerzen, Kugeln und Sternen, die Sabine immer in der Vorweihnachtszeit zauberte. Geschmack hatte sie, das musste er ihr lassen. Darum war seine Frau auch so voller Spott gewesen, als er im vergangenen Jahr mit den kitschigen Rentier-Bechern vom Weihnachtsbasar zurückgekommen war. Aber seine vierjährige Tochter hatte nicht eher geruht, bis er einen kompletten Familiensatz erworben hatte. Er konnte Laura nur schwer einen Wunsch abschlagen.
Ja, ein ganzes Kriegesheer, möcht’ ich gerne haben …
Gedankenverloren ließ Stefan den Rest der dunkelroten Flüssigkeit im Becher kreisen. Er liebte Weihnachten und alles, was dazugehörte: täglich den Adventskalender öffnen, Nikolausstiefel vor die Tür stellen, das Aroma frisch gebackener Plätzchen, die selbst gebastelten Sterne seiner Kinder, ihre hingebungsvoll gemalten Wunschzettel, das geschmückte Haus, die Weihnachtsbeleuchtung in der Siedlung, Glühweinschwaden auf dem Christkindlesmarkt, diese ganze heimelige Vorweihnachtsstimmung. Selbst der Trubel in der Innenstadt gefiel ihm. Er nahm sich Zeit, um Geschenke zu kaufen, und ließ sich von der Hektik nicht anstecken. Und Sabine, wenn auch pragmatischer und weniger verklärt, liebte Weihnachten ebenso. Allzu viele Gemeinsamkeiten hatten er und seine Frau zugegebenermaßen ja nicht, aber darin waren sie sich einig: Weihnachten war das Fest der Familie und wurde mit großer Hingabe gefeiert. Dazu gehörte eine heimische Fichte – am besten selbst geschlagen im Wald, das Schmücken des Christbaumes, das Singen von Weihnachtsliedern, Würstchen mit Kartoffelsalat an Heiligabend, eine knusprige Gans am ersten Weihnachtsfeiertag und natürlich: eine schöne Bescherung.
Bring’ uns, lieber Weihnachtsmann, bring’ auch heute, bringe …
Nur bei einer Frage waren sie sich lange nicht einig gewesen. Wer denn nun an Heiligabend die Geschenke bringen sollte: das Christkind oder der Weihnachtsmann? In Sabines Elternhaus hatte immer das Christkind die bunt eingewickelten Päckchen ins verschlossene Weihnachtszimmer gebracht, während sie mit ihren Eltern im Nachmittagsgottesdienst war. Bei ihm daheim kam mit einbrechender Dunkelheit der Weihnachtsmann persönlich im langen Mantel, dicken Winterstiefeln, roter Mütze und einem Sack voller Geschenke auf dem Rücken. Aus dem holte er zuerst sein Goldenes Buch heraus, las die darin verzeichneten guten und schlechten Taten von ihm und seinem Bruder vor, strich sich bedächtig über seinen langen weißen Bart, sprach ein paar ermahnende Worte, ließ sie beide noch ein Gedicht aufsagen oder ein Lied singen und übergab dann die Präsente. Sabine behauptete, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung des Coca-Cola-Konzerns und eigentlich ein verkappter Nikolaus sei, gab dann aber doch nach, weil sie den pädagogischen Effekt mit dem Sündenregister gut fand. Dem Studenten vom Weihnachtsmannservice schickte sie immer schon Tage vorher eine Mail mit Kevins und Lauras kleinen Verfehlungen. In Erziehungsfragen war sie die Konsequentere, während er die Dinge lange laufen ließ, bis es ihm irgendwann zu bunt wurde und er dann unvermittelt heftig lospolterte.
Musketier und Grenadier, Zottelbär und Panthertier …
Mit einem Zug trank Stefan den Becher leer und stellte Rudolf auf den Tisch. Automatisch langte er in die Packung mit dem Gewürzspekulatius, legte den Keks dann aber wieder zurück. Er hatte keinen Appetit. Und mit Sabines Weihnachtsgebäck konnte diese billige Industrieware sowieso nicht mithalten. Dabei müsste er mehr essen. In den vergangenen Monaten hatte er acht Kilo abgenommen und war von einem schlanken zu einem hageren Mann geworden. Aber er konnte sich einfach nicht dazu zwingen. Zwei Bissen von einem Hamburger oder einem Käsebrot, und er hatte genug. Sein Magen war wie zugeschnürt. Abwesend zupfte er eine Nadel aus dem Adventskranz und hielt sie in die Flamme. Es knisterte leise. Als er die Tannennadel zurückzog, war sie halb verkohlt und glomm noch immer. Er befeuchtete Daumen und Zeigefinger mit seinem Speichel und fasste den Glutpunkt an. Ein schwaches Zischen, dann war er erloschen. Feinwürziges Raucharoma drang in seine Nase. Auch das ein typischer Weihnachtsgeruch.
Ross und Esel, Schaf und Stier, lauter schöne Dinge …
Stefan erhob sich vom Tisch und trat an die kurze Küchenzeile, die aus einem alten Kühlschrank, einer Nirostaspüle und einem Hängeschrank bestand. Er warf die zerquetschten, angekokelten Mandarinenschalen in den Mülleimer, stellte den benutzten Becher zu dem übrigen schmutzigen Geschirr und verstaute die Spekulatius-Packung im Schrank. Dann ging er ans Fenster und sah in den Hinterhof hinunter. Im kahlen Kastanienbaum hing eine Lichterkette mit eisblauen LED-Leuchten. Am Fenster der Wohnung gegenüber blinkte ein Stern made in China sich hastig wiederholende Muster in Blutrot, Kalkweiß und Giftgrün, die mehr an eine Diskothek als an besinnliche Weihnachtsbeleuchtung erinnerten. Der Himmel über dem Mietsblock war grauverhangen. In einer halben Stunde würde die Dämmerung anbrechen. Langsam wurde es Zeit.
Doch du weißt ja unsern Wunsch, kennest unsere Herzen …
Er holte die Geschenke unter dem Bett hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Für Kevin ein Set mit Playmobil-Piraten und das schwarzrote Trikot seines Lieblingsfußballvereins. Für Laura ein pinkfarbenes Glitzernachthemd und einen Plüschteddy in der gleichen Farbe – Hauptsache pink. Er hatte sogar an Lillifee-Weihnachtspapier gedacht. Das für Kevin war mit winterlichen Motiven aus Entenhausen bedruckt. Mit geübtem Auge schnitt Stefan die Geschenkpapiere zu, wickelte die Gaben sorgfältig ein und versah sie sogar noch mit passenden Schleifen. Er war schon immer geschickt mit seinen Händen gewesen. Andächtig betrachtete er die fertigen Weihnachtspräsente. Eine Träne fiel aufs pinkfarbene Papier und hinterließ einen Wasserfleck. Sabine hatte kein Recht, ihm die Kinder vorzuenthalten. Vor einem halben Jahr war seine Welt und alles, was er darin sicher glaubte, vollständig zusammengebrochen. Seine Frau hatte ihm aus heiterem Himmel eröffnet, dass sie einen anderen Mann liebe und mit ihm zusammenziehen werde. Da die Kinder bei ihr blieben, verlangte sie von ihm auszuziehen – aus dem eigenen Haus! Da hatte er zugeschlagen, aus Wut und dem Gefühl der Demütigung heraus. Als er aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, waren die Würfel längst gefallen. Seine Sachen durfte er sich an einem Wochenende holen, an dem Sabine mit den Kindern zu ihrem Vater gefahren war. Weil er seiner Familie nachstellte und den Liebhaber bedrohte, verhängte das Gericht eine Kontaktsperre wegen Stalking. Kevin und Laura durfte er bis auf Weiteres nicht sehen. Jetzt lebte der Neue mit seiner Frau und seinen Kindern in seinem Haus, während er allein in dieser Bruchbude hier saß und seinem Prozess wegen Körperverletzung entgegensah, der Mitte Januar beginnen sollte.
Kinder, Vater und Mama, auch sogar der Großpapa …
Mittlerweile war es fast dunkel geworden. Stefan wusste genau, was sich in diesem Moment ein paar Kilometer weiter in seinem Haus abspielte. Er hatte vor Augen, wie Sabine Kaffee kochte und den Weihnachtsstollen anrichtete, während ihr Vater versuchte, den aufgedrehten Kindern eine Geschichte vorzulesen, um die Zeit bis zur Ankunft des Weihnachtsmannes zu verkürzen. Und sein Nachfolger deckte den Tisch, entzündete statt seiner die Lichter am Christbaum und wanzte sich an die Kinder heran. Stefans Kiefer mahlten fest aufeinander. Gewissenhaft legte er die Weihnachtsgeschenke in einen Jutesack, band sich den watteweißen Bart vors Gesicht, setzte die rote Mütze mit dem weißen Kunstpelz auf, zog den langen roten Mantel an und schlüpfte in seine Stiefel. Er pustete die Kerzen aus, schaltete das Radio ab, schulterte den Sack und ging durch das Treppenhaus hinunter. Die Luft draußen roch nach Schnee, und tatsächlich rieselten ein paar vereinzelte Flocken zu Boden. »Fröhliche Weihnachten!«, rief ihm eine Frau zu, die auf dem Gehsteig gegenüber mit ihrem Hund Gassi ging. Sonst war niemand auf der Straße zu sehen. Als sie um die Ecke gebogen war, öffnete Stefan den Kofferraum seines Wagens und legte den Jutesack hinein. Dem Weihnachtsmannservice hatte er schon heute Mittag abgesagt. Noch einmal schaute er sich prüfend um. Dann wickelte er das Sportgewehr aus der Decke und steckte die Waffe zu den Geschenken.
Alle, alle sind wir da, warten dein mit Schmerzen.