22 · Jan Beinßen ·
Santa-Express
»Siehst du einen freien Platz?«
»Nein, Katinka, der Speisewagen ist rappelvoll.«
»Genauso wie der ganze Zug. Hier drängen sich so viele Menschen wie sonst nur auf dem Christkindlesmarkt, und bei jedem zweiten Schritt stolpert man über Tüten und Taschen voller Geschenke.«
»Zwei Tage vor Weihnachten kannst du nichts anderes erwarten.«
»Tu ich aber. Ich fordere wenigstens ein Quäntchen Besinnlichkeit. Schau dich doch mal um: gestresste Mütter, entnervte Väter, quengelnde Kids und überforderte Großeltern. Und dazwischen das schlecht gelaunte Personal. Da vergeht einem wirklich die Weihnachtsstimmung.«
»Dann hätten wir nicht den Zug nehmen dürfen. Obwohl – auf der Autobahn wäre es mindestens genauso stressig. Ein Stau nach dem anderen. Und alle Flüge sind restlos ausgebucht. Ich würde sagen, mit dem ICE haben wir immer noch das bessere Los gezogen.«
»Trotzdem ärgerlich, Paul. Jetzt müssen wir uns den ganzen Weg bis zu unserem Waggon zurückquälen und dabei noch einmal über all die Leute steigen, die die Gänge blockieren – und das mit leerem Magen.«
»Ich verstehe ja deinen Missmut, Kati, aber … – Moment mal. Schau doch, da hinten, der Tisch ganz am Wagenende.«
»Ist auch besetzt. Da hockt einer und trinkt Bier.«
»Ja, aber er ist allein. Und irgendwie kommt er mir bekannt vor. Fragen wir ihn doch einfach, ob wir uns dazusetzen können.«
»Na ja, so was mag ich eigentlich nicht so gern.«
»Wenn du einen Platz und dein Essen willst, musst du eben mal über deinen Schatten springen.«
»Wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.«
»Genau. Einen Versuch ist es allemal wert.«
»Entschuldigen Sie: Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns zu Ihnen gesellen?«
»Nein. Nichts dagegen. Nehmen Sie bitte Platz.«
»Danke schön. Sehr nett.«
»Warten Sie, ich rücke ein Stück zur Seite. Heute ist es ja besonders voll. Sogar in der ersten Klasse sind alle Plätze belegt. Das kommt selten vor.«
»Wir reisen zweiter Klasse – und das ist die Hölle.«
»Meine Frau übertreibt ein wenig. Aber komfortabel ist es wahrlich nicht. Bei der nächsten Reise vor den Feiertagen sollte man überlegen, ob sich der Zuschlag für ein Erste-Klasse-Ticket nicht doch lohnt. Übrigens: Mein Name ist Flemming, Paul Flemming. Und das ist meine Frau Katinka Blohm. Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind? Ich meine, ich würde Sie von irgendwoher kennen.«
»Mmm. Flemming sagten Sie? Lassen Sie mich überlegen …«
»Wir kommen übrigens aus Nürnberg. Sind auf den Weg nach Hannover.«
»Zu den Schwiegereltern, wo wir die Weihnachtstage verbringen werden. Sie wohnen ganz in der Nähe von Hannover und liegen uns permanent damit in den Ohren, dass wir uns zu selten bei ihnen sehen lassen.«
»Ganz unrecht haben sie ja nicht, wenn man bedenkt, dass der ICE nicht mal drei Stunden für die Strecke benötigt. Da könnte man eigentlich schon öfter in den Zug steigen.«
»Aber bitte nie wieder kurz vor Weihnachten, Kati.«
»An Ostern wird es kaum anders aussehen.«
»Reisen wir halt außerhalb der Ferienzeiten.«
»Du hast gut reden als freischaffender Fotograf. Ich kann mich nicht zu jeder beliebigen Zeit aus dem Büro stehlen.«
»Wie wahr, wie wahr. Meine Freizeit ist ebenfalls stark eingeschränkt. Man ist gezwungen, dann zu reisen, wenn die Arbeit es zulässt. – Sie kommen aus Nürnberg, sagten Sie? Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns tatsächlich kennen. Ich bin auch Franke. Panther ist mein Name, meine Frau und ich sind ebenfalls unterwegs zum Verwandtenbesuch. Nach Hamburg.«
»Ja, natürlich! Jetzt fällt es mir ein: Sie sind der Fabrikant Panther, habe ich recht?«
»Richtig. Anton Panther.«
»Dass mir das nicht gleich eingefallen ist. Vor einigen Jahren hatten Sie doch eine Vernissage im Foyer Ihrer Firma ausgerichtet. Ich war einer der Aussteller und habe vier oder fünf Fotomotive beigesteuert. Industriefotografie lautete das Thema.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Eine beachtenswerte Bilderschau. Wir veranstalten ja des Öfteren kulturelle Events dieser Art, sehen uns als Sponsor und Mäzen. Es ist uns ein Anliegen, die Künste zu fördern. Vor allem meine Frau hat ein Faible dafür entwickelt.«
»Wo ist denn Ihre Frau? Hat sie Sie nicht zum Essen begleitet?«
»Apropos Essen, Kati, hast du schon einen Blick in die Karte geworfen? Das klingt ja recht edel, was die anbieten. Nach Rezepten von Schuhbeck und anderen Starköchen, steht hier.«
»Versprechen Sie sich davon nicht zu viel, mein Herr. Geschmacklich ist es weitgehend auf Mitropa-Niveau geblieben. Ich habe ein Paar Wienerle bestellt. Damit kann man nichts falsch machen.«
»Und wo, sagten Sie, ist Ihre Frau?«
»Ach, wissen Sie: Beatrix hält nicht besonders viel von Essen auf Rädern, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie hebt sich ihren Appetit für heute Abend auf. Wir haben einen Tisch in einem Restaurant an der Elbchaussee reserviert.«
»Also, ich bin mutig und versuche es mit dem Jägerbraten. Hab richtig Kohldampf.«
»Mir reicht ein Sandwich. Winkst du dem Kellner und bestellst mir bitte eine Flasche Mineralwasser dazu, Paul? Medium.«
»Sieht doch gar nicht schlecht aus. Und riechen tut es auch gut.«
»Ich weiß ja nicht. Da halte ich mich lieber an mein Sandwich. Etwas Warmes gibt es am Abend bei der Mami.«
»Sicherlich mal wieder Grünkohl mit Pinkel.«
»Ist eben eine Spezialität in Niedersachsen.«
»Immerhin werden Röstkartoffeln dazu gereicht. Von dem Rest halte ich nicht so viel. Da ist mir die fränkische Küche lieber.«
»Typisch. Franken und Weltoffenheit – das ist und bleibt wohl ein Anachronismus.«
»Guten Appetit Ihnen beiden.«
»Danke sehr. Ihnen auch, Herr Panther.«
»Wie laufen denn die Geschäfte, wenn ich fragen darf?«
»Ich glaube kaum, dass Herr Panther in seiner Freizeit über Berufliches sprechen möchte, Paul.«
»Doch, doch, kein Problem. Ich begrüße es, wenn sich die Leute für Panther und seine Produkte interessieren.«
»Panther ist ein Name, den man in Franken quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat. Aber wie man hört, steht die deutsche Unterhaltungselektronik unter gewaltigem Druck der asiatischen Konkurrenz.«
»Paul! Lass Herrn Panther in Ruhe seine Würstchen essen. Die werden sonst kalt.«
»Nein, nein, schon gut. Sie liegen ganz richtig, Herr Flemming: Es ist ein hartes Geschäft, ohne Frage. Und die Konkurrenz kämpft mit allen Mitteln. Doch wir wissen uns zu wehren: Wir setzen auf unseren guten Markennamen und Qualität made in Germany.«
»Getreu Ihrem altbekannten Werbeslogan: Hol dir den Panther ins Haus?«
»Gewiss. Dieser gute alte Werbespruch ist fest verankert im Bewusstsein der Leute. Aber letztendlich zählen die Innovationen.«
»Und ja wohl auch der Preis, oder?«
»Billigware bekommen Sie von uns nicht. – Aber Ihre Vermutung trifft zu: Gerade an ein Familienunternehmen wie die Panther GmbH stellt der globalisierte Markt ganz besondere Ansprüche.«
»Dann seien Sie froh, dass Sie über Weihnachten mal rauskommen und die Nordseeluft genießen können.«
»Ich fürchte, ganz so entspannend, wie Sie sich das vorstellen, wird es nicht. Als mittelständischer Unternehmer kennt man keine Freizeit. Das Smartphone mit dem heißen Draht zur Firma bleibt mein ständiger Begleiter.«
»Seien Sie nicht böse, wenn ich indiskret werde …«
»Das bist du doch schon die ganze Zeit, Paul.«
»Äh, ja, aber man sitzt ja nicht jeden Tag mit einem Mann wie Ihnen, Herr Panther, an einem Tisch: Was ist denn an den Übernahmegerüchten durch die Koreaner dran, die in letzter Zeit durch die Medien geistern?«
»Glauben Sie etwa, was in den Zeitungen steht?«
»Ein Fünkchen Wahrheit ist meistens dran an solchen Geschichten.«
»Bitte, Paul, bring Herrn Panther nicht in Verlegenheit.«
»Schon gut, Frau Blohm, schon gut. Diese Frage höre ich ja nicht zum ersten Mal. Die Presse ist in dieser Hinsicht hartnäckig. Aber meine Frau ist es mindestens ebenso. Sie kann sehr geizig sein, was Informationen für Journalisten anbelangt.«
»Man muss überaus vorsichtig sein im Umgang mit der Presse, da kann ich Ihnen nur zustimmen.«
»Ich muss dir widersprechen, Kati. Für mich als Fotograf gibt es viele Berührungspunkte mit der schreibenden Zunft. Das sind nicht alles bloß Hyänen, die auf die nächste Sensationsstory gieren. Gerade im Wirtschaftsteil der Zeitungen arbeiten zumeist ganz solide und seriöse Kollegen.«
»Wir haben leider andere Erfahrungen machen müssen. Meine Beatrice werden Sie mit Ihrer hehren Meinung über die Journaille gewiss nicht überzeugen können.«
»Ist Ihre Frau wohl zuständig für die Pressearbeit bei der Panther GmbH?«
»Beatrice ist Sprecherin der Geschäftsführung.«
»Und Sie sind …«
»… angeheiratet. Ich leite die Entwicklungsabteilung. Das Auftreten nach außen überlasse ich aber gern meiner Frau. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie da so gut ihren Mann steht. Und das macht sie exzellent. Sie besitzt die souveräne Lässigkeit unserer Bundeskanzlerin – da halte ich mich lieber im Hintergrund.«
»Meine Damen und Herren, eine wichtige Durchsage: Herr Anton Panther, bitte melden Sie sich beim Zugbegleiter in Wagen zwei. Ich wiederhole: Herr Anton Panther, bitte kommen Sie unverzüglich zum Wagen zwei.«
»Sie sind auf einmal so blass, Herr Panther. Fühlen Sie sich nicht wohl? Können wir Ihnen helfen?«
»Nein, danke, es geht schon.«
»Warum man Sie wohl ausruft?«
»Hoffentlich ist Ihrer Frau nichts zugestoßen.«
»Ich werde gleich mal nach ihr sehen.«
»Seltsam, findest du nicht auch?«
»Nein, Paul, gar nichts ist seltsam. Ein Mann ist ausgerufen worden. Das passiert in einem Zug wie diesem alle naslang. Fang bloß nicht wieder an, einen Kriminalfall daraus zu konstruieren. Ich habe Urlaub, außerdem rollen wir gerade durch Hessen, das ist gar nicht mehr mein Zuständigkeitsbereich.«
»Ist dir aufgefallen, dass er seine Würstchen nicht angerührt hat?«
»Na und? Du hast in deinem Jägerbraten auch bloß herumgestochert. Außerdem hast du den armen Mann mit deiner penetranten Fragerei vom Essen abgehalten.«
»Auch an seinem Bier hat er bloß genippt.«
»Und was schließt der Herr Detektiv daraus?«
»Dass er nicht bei der Sache war.«
»Kein Wunder, wenn du ihn die ganze Zeit ausfragst.«
»Nein, nein, Kati. Der Panther saß hier schon auf Kohlen, bevor wir aufgekreuzt sind. Der hat auf irgendetwas gewartet und bloß seine Zeit abgesessen.«
»Du meinst, er ahnte, dass er ausgerufen werden würde?«
»Er ahnte es nicht nur, sondern er wusste es.«
»So ein Unsinn.«
»Kein Unsinn, Kati. Ich habe so was im Gespür. Panther wusste genau, was auf ihn zukommt.«
»Was macht dich so sicher?«
»Seine Mimik, seine Gestik, einfach alles. Hast du nicht bemerkt, wie seine Pupillen hin und her geflitzt sind?«
»Um ehrlich zu sein: nein.«
»Weil du nicht darauf geachtet hast. Ich aber schon!«
»Ergo: Er war nervös und angespannt. Was schließt du aus deinen Beobachtungen?«
»Wenn ich das sage, erklärst du mich für unzurechnungsfähig und reichst die Scheidung ein.«
»Das würde ich nie tun, und das weißt du, Paulchen.«
»Versprichst du’s?«
»Ich bin Juristin, da werde ich den Teufel tun, irgendetwas zu versprechen. Du musst mir einfach vertrauen. Aber jetzt mal Scherz beiseite: Was für wilde Spekulationen spuken denn in deinem Kopf herum?«
»Schau doch mal in die Zeitung. Hier, nimm die, die hier liegt und schlag den Wirtschaftsteil auf. Da wirst du einen Bericht über die Bilanzpressekonferenz der Panther GmbH lesen. Die war nämlich gestern. Habe ich zufällig im Radio gehört.«
»Ach bitte, Paul, ich hab jetzt keine Lust zum Zeitunglesen. Sag einfach, was du weißt.«
»Die Firma kämpft ums Überleben. Auf ihrer Pressekonferenz haben sie grottenschlechte Quartalszahlen vorgelegt. Angeblich ist mehr als die Hälfte des Grundkapitals aufgezehrt. Ich bin kein Wirtschaftsfachmann, aber lange gebe ich der Firma Panther nicht mehr.«
»Okay. Die Firma Panther hat also Probleme. Aber was hat das damit zu tun, dass Herr Panther vom Schaffner ausgerufen wurde? Hier geht es wohl kaum um seine Gewinn- und Verlustrechnung. Doch wohl eher um seine Frau, oder?«
»Nicht direkt. Indirekt aber schon.«
»Du liebe Güte, Paul, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Worauf willst du hinaus?«
»Nun – ich nehme an, dass es in Kürze eine weitere Durchsage geben wird: Diesmal werden sie fragen, ob sich ein Arzt an Bord befindet. Doch der Arzt wird zu spät kommen.«
»Du meinst …«
»Natürlich! Das liegt doch auf der Hand: Panther weiß ganz genau, dass seine Firma vor dem Ruin steht. Am liebsten würde er den ganzen Laden lieber heute als morgen an die Koreaner verscherbeln, doch seine Frau stellt sich quer. Sie – die Chefin und als Kulturmäzenin fest verankert in der Region – will die Familientradition nicht preisgeben. Also muss sie sterben.«
»Du meinst, er hat sie getötet?«
»Er lässt es wie einen natürlichen Tod aussehen. Herzschlag oder Kreislaufkollaps. Irgendetwas in der Art. Er hat ihr womöglich etwas in ihren Tee gemischt oder Kekse mit Gift versetzt, so oder ähnlich wird es gelaufen sein. Schwer nachweisbar, wenn man nicht gezielt danach sucht. Panther verschafft sich ein solides Alibi: Es gibt einen Haufen Zeugen, die ihn im Speisewagen gesehen haben – inklusive uns beiden, Kati.«
Sehr geehrte Fahrgäste, wir bitten noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit: Sollte sich ein Arzt an Bord dieses Zuges befinden, möchte er sich bitte beim Zugführer in Wagen eins melden. Vielen Dank.
»Hörst du? Was habe ich gesagt!«
»Das ist ja entsetzlich. Wie konntest du das ahnen, Paul?«
»Instinkt. Reiner Instinkt. Und Menschenkenntnis.«
»Mein Gott, Paul! Wir müssen etwas unternehmen!«
»Zu spät, Katinka, zu spät. Alles, was du noch tun kannst, ist, auf deine hessischen oder niedersächsischen Kollegen einzuwirken, um zu verhindern, dass ein Totenschein mit natürlicher Todesursache ausgestellt wird. Nur so kannst du Panther zu packen kriegen und verhindern, dass er die Firma versilbert und ein sorgenloses Witwerleben antritt.«
»Wenn das alles stimmt, Paul, dann …«
»Pssst, Kati! Er kommt zurück.«
»Danke, dass Sie meinen Platz freigehalten haben. Es hat leider etwas länger gedauert, aber der Schaffner musste sich vergewissern, dass ich der Richtige bin.«
»Was war denn los?«
»Im Grunde nur eine Bagatelle, Frau Blohm: Ich hatte auf dem Weg in den Speisewagen meine Brieftasche verloren. Eine Mitreisende fand sie und übergab sie netterweise dem Zugpersonal.«
»Und was war mit dem Arzt?«
»Arzt? Ach so, Sie sprechen von der zweiten Durchsage eben. Soviel ich mitbekommen habe, hat sich ein Bub im Mutter-Kind-Abteil an einem Bonbon verschluckt. Die besorgte Mama verlangte nach einem Doktor, aber der Schaffner meinte, es sei halb so schlimm.«
»Aber Ihre Brieftasche haben Sie wieder, ja?«
»Ja, vor der Rückgabe musste man sich allerdings erst noch davon überzeugen, dass ich der echte Panther bin.«
»Ist das gelungen?«
»Selbstverständlich. – Dank meiner Frau. Wenn ich vorstellen darf: Das ist Beatrice.«
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
»Wir freuen uns auch, Sie gesund und munter zu sehen. Nicht wahr, Paul?«
»Ja, in der Tat. – Na dann: Frohe Weihnachten!«