3 · Veit Bronnenmeyer ·
Die barmherzigen Stammtischbrüder
Es war eine von Hauptkommissar Mauls üblichen Touren. Nachdem er sich wieder einen ganzen Tag lang erfolgreich vor Schreibtischarbeit gedrückt hatte, war er mit seinem treuen Begleiter Nero am Nachmittag zu einem ausgedehnten Waldspaziergang aufgebrochen. Das waren die Stunden nach Rainer Mauls Geschmack, alleine mit seinem Hund durch einen verschneiten Wald zu streifen, in Ruhe seine Philosophie weiterzuentwickeln und bei der Gelegenheit einmal die Bäume zu zählen. Lediglich zwei Schüsse störten Mauls tiefe Ruhe und wurden vom Kommissar mit einem grimmigen »Jägerpack« kommentiert. Zwar hatte er Bereitschaft und musste daher sein Diensthandy dabeihaben, aber in dieser Gegend des Landes war nicht damit zu rechnen, dass sich in absehbarer Zeit Kapitaldelikte ereignen würden, die die Anwesenheit eines Kriminalbeamten notwendig machten. Beim Abstieg zur Ortschaft hinunter ärgerte Maul sich noch kurz über die blinkenden Lichter der Windräder, die nun bei Tag die Aussicht über das weite Tal verschandelten. Doch schließlich obsiegte die Vorfreude auf ein schmackhaftes Nachtmahl. Zur Krönung des Tages wollte Maul die Gastwirtschaft Zum Tanzenden Bären testen, die unweit seiner Strecke etwas außerhalb der Gemeinde Schnarchersreuth lag. Natürlich hätte ein Charakter wie Hauptkommissar Maul so ein Vorhaben niemals dem Zufall überlassen, und deshalb waren die zentralen Fragen mit der Wirtin vorab am Telefon geklärt worden.
»Was können Sie denn?«, hatte Maul gefragt.
»Wie, was ich kann?«
»Na, was ist denn da halbwegs genießbar, was aus Ihrer Küche kommt?«
»Na alles, was glauben Sie denn?«
»Gut, dann anders: Was gibt’s denn überhaupt am Donnerstagabend?«
»Am Donnerstag?«, hatte die Wirtin entsetzt gerufen.
»Exakt!«
»Da ist immer bloß der Stammtisch da.«
»Und, was soll das jetzt heißen?«
»Da werde ich Ihnen sicher keinen Braten machen!«
»Was dann?«
»Höchstens Pfannengerichte. Bratwürste oder vielleicht ein Schnitzel!«
»Jägerschnitzel auch?«
»Wenn Sie unbedingt wollen!«
»Aha«, Mauls Interesse war geweckt. »Und die Champignons? Sind die frisch oder aus der Dose?«
»Frisch natürlich! Bei uns ist immer alles frisch.«
»Und das Schnitzel? Wo kommt das her? Vom Supermarkt?«
»Nein, wir schlachten selber!«
»Und die Pommes? Dick oder dünn?«
»Was soll jetzt das heißen?«
»Ob Ihre Pommes dick und matschig sind, will ich wissen, oder dünn und knusprig!«
»Dick und knusprig.«
»So? Dann aber auf einem Extrateller!«
»Warum?«
»Weil sonst die Soße die Pommes aufweicht!«
»Da hat sich bei uns noch keiner beschwert!«
»Das glaube ich sofort, sind ja alle scheintot hier!«
»Also, in Gottes Namen, dann eben zwei Teller.«
»Warum nicht gleich so? Gut, dann komme ich am Donnerstag um 18.30 Uhr!«
Und als Maul dann tatsächlich am genannten Tag um 18.29 Uhr die Gaststätte betrat, war die Wirtin mehr als erstaunt, hatte aber zur Sicherheit alle Zutaten für ein Jägerschnitzel parat. Maul begrüßte alle Anwesenden, stellte sich dem Stammtisch als Hauptkommissar der hier zuständigen Kriminaldirektion vor (damit alle wussten, mit wem sie es zu tun hatten, und ihn tunlichst in Ruhe ließen) und setzte sich dann mit Nero am gegenüberliegenden Ende des Gastraumes an einem Tisch nieder. Der Stammtisch bestand aus drei Männern, die der Kleidung und Erscheinung nach zu urteilen allesamt Honoratioren oder zumindest bessere Bürger der Gemeinde zu sein schienen. Daher schöpfte Maul Hoffnung, dass sie ihn nicht blöd durch die ganze Wirtschaft hindurch anreden würden. Denn auch wenn der Hauptkommissar durchaus kommunikativ sein konnte, so beschränkten sich seine Gesprächsthemen doch vor allem auf Dinge, die ihn selbst interessierten. Und das waren außer seiner eigenen Person, seinen Lebensweisheiten, seinem Hund, seinen kulinarischen Vorlieben und seinen Einstellungen verschiedenen Minderheiten gegenüber nicht viele. Abermals zerrissen mehrere Schüsse den tiefen Frieden des Abends, was einen der Stammtischbrüder zu der Feststellung »Wildsäu!« und die anderen zu wissendem Nicken veranlasste.
Gerade als Maul sich seinen ersten Schluck Bier schmecken ließ und aus der Küche das erste Zischen vernahm, das sein in heißes Fett geworfenes Schnitzel verursachte, stürmte eine grün gekleidete Erscheinung in den Gastraum und rief panisch: »Schnell, Sanitäter, Polizei, Feuerwehr …«
Es folgten noch weitere, stark dialektgefärbte Worte, die Maul als »Bürgermeister« und »erschossen« erkannte und die in ihm die böse Ahnung aufkeimem ließen, dass der Abend nicht so ruhig enden würde, wie er angefangen hatte.
»Tja, da ist beim besten Willen nichts mehr zu machen«, seufzte der Notarzt und streifte sich die Handschuhe ab. »Das ist ein astreiner Blattschuss. Wie es aussieht, kann der Gute von Glück sagen, dass sie ihn nicht auch noch aufgebrochen haben, haha!«
»Sparen Sie sich Ihre dummen Witze«, knurrte einer der Stammtischbrüder, der sich als der hiesige Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr zu erkennen gegeben hatte, »immerhin handelt es sich hier um unseren Bürgermeister!«
Der Tote lag in der Nähe einer Wildfutterstelle, in deren Mitte jemand einen Haufen Eicheln gekippt hatte, auf dem Bauch. Er trug eine dicke Winterjacke, gefütterte Stiefel und eine Pelzmütze, die aber vom Kopf gerutscht war. Neben ihm befand sich eine Handsäge, die an einen übergroßen Fuchsschwanz erinnerte. Der Schuss hatte ihn von hinten erfasst und wohl mehrere lebenswichtige Organe erwischt.
»So«, Maul wandte sich an den Jäger, »und Sie haben den Bürgermeister also erschossen?«
»Ja, es schaut ganz so aus.« Der Mann stand noch immer unter Schock, was den Notarzt veranlasste, ihm eine Beruhigungsspritze zu verpassen.
»Name?«, fragte Maul.
»Holler, Josef Holler.«
»Was ballern Sie hier überhaupt rum, mitten in der Nacht. Da kann man ja nicht einmal in Ruhe spazieren gehen!«
»Schwarzwild darf auch bei Dunkelheit geschossen werden, so steht’s im Jagdgesetz«, verteidigte sich Holler.
»Diese Wildsäue sind zu einer reinen Plage geworden«, ergänzte der Feuerwehrhauptmann, »die verwüsten jedes Jahr die Maisfelder!«
»Ich hab’s nicht so mit Wildschwein«, erklärte Maul. »Aber wenn Sie da im Dunkeln um sich schießen, brauchen Sie sich auch nicht zu wundern, wenn Sie einen Menschen treffen.«
»Ich habe doch ein Nachtsichtgerät.« Holler war den Tränen nahe.
»So, und was haben Sie darin gesehen?«, fragte Maul.
»Na, ein Wildschwein. Genauer gesagt zwei.«
»Hier liegt aber kein Wildschwein, sondern der Bürgermeister«, bohrte Maul weiter im Trauma des Jägers herum. »Den haben Sie wohl nicht gesehen in Ihrem Nachtsichtgerät?«
»Nein, auf Ehre und Gewissen«, rief Holler, »ich habe nur zwei Wildschweine gesehen, zwei Schüsse abgegeben und, soviel ich noch gesehen habe, eines davon getroffen. Als ich dann von meinem Hochsitz heruntergestiegen war und hier ankam, war da aber der Bürgermeister.«
»Dann haben Sie entweder ein schlechtes Nachtsichtgerät oder sehr schlechte Augen«, folgerte Maul. »Wo ist denn eigentlich die Waffe?«
»Die habe ich noch im Auto, und das ist …, also, das ist …«, der Jäger sah sich hilflos um.
»Das steht doch noch vor der Wirtschaft.« Der Feuerwehrchef drückte den Mann auf einen Baumstumpf. Sie waren alle zusammen mit dem Einsatzwagen der Feuerwehr hergefahren, den der Hauptmann auch für seine Einsätze beim Stammtisch nutzte.
»Die müssen wir dann gleich sicherstellen, die Waffe«, sagte Maul.
»Was um alles in der Welt hat der denn hier gesucht um diese Zeit?« Holler war zwar nun etwas sediert, aber immer noch verzweifelt.
»Der wird einen Christbaum gesucht haben für das Rathaus«, mutmaßte die Wirtin, die sich der Gruppe ebenfalls angeschlossen hatte, »deswegen auch die Säge.«
»Sollten Sie nicht in Ihrer Küche stehen und mein Schnitzel braten?«, fragte Maul barsch.
»Wenn ich jetzt Ihr Schnitzel brate, ist es entweder verbrannt oder kalt, bis Sie wieder zurück sind!«
»Hm«, brummte Maul unwirsch.
»Der Knauser war wirklich sehr sparsam als Bürgermeister«, ergänzte der Feuerwehrhauptmann. »Ist nicht undenkbar, dass er den Baum für das Rathaus hier gratis holen wollte.«
»Der muss ja auch ganz arg sparen«, erklärte die Wirtin. »Die Gemeinde ist doch völlig verarmt. Im letzten Winter haben die vom Bauhof nicht einmal streuen können, weil kein Geld für Salz da war!«
»Na ja, recht viele Steuerzahler gibt’s hier ja auch nicht mehr«, lachte Maul, während er dem Notarzt die Taschenlampe aus der Hand nahm und den Fundort der Leiche genauer untersuchte.
»Also, irgendwas muss da schon noch gewesen sein«, sagte Maul nach kurzer Prüfung der Spuren und deutete auf eine Reihe von Blutstropfen, die etwa zwei Meter vom Bürgermeister entfernt ins Unterholz führten.
»Sie haben es doch auch gehört, dass er mehrere Schüsse abgegeben hat«, sagte der Feuerwehrhauptmann. »Da hat er wahrscheinlich sowohl ein Wildschwein als auch den Bürgermeister getroffen. Das Wildschwein aber nicht tödlich …«
»Der wird doch nicht neben zwei Wildsäuen versucht haben, einen Baum umzusägen«, gab die Wirtin zu bedenken.
»Von den Bäumen hier weist jedenfalls keiner Spuren von einer Säge auf.« Maul gab dem Arzt die Lampe zurück, kratzte sich am Kopf und zückte sein Handy. »Und haufenweise Schuhabdrücke gibt es auch. Da muss jetzt die Spurensicherung her! Ich habe keine Lust, mir hier die Füße abzufrieren.«
»Ist das wirklich nötig?«, fragte der Feuerwehrhauptmann.
»Was wollen Sie den Leuten denn erzählen, wie ihr Bürgermeister umgekommen ist?«, fragte Maul. »Ein natürlicher Tod war es jedenfalls nicht, also müssen wir ermitteln. Aber das tue ich lieber im Warmen, und Sie …«, er deutete auf die Wirtin, »Sie sehen zu, dass Sie mein Schnitzel in die Pfanne kriegen!«
Zurück im Tanzenden Bären machte Maul sich angesichts des noch nicht servierten Schnitzels gleich an die Arbeit und nahm die Personalien der anderen Stammtischbrüder auf. Neben dem Feuerwehrhauptmann Schrader waren dies der Metzgermeister Albrecht und der Agrarökonom Drescher. Mittlerweile war noch ein weiterer Stammtischbruder aufgetaucht, Peter Zeuglein, seines Zeichens Landmaschinenhändler und Inhaber einer dazugehörigen Reparaturwerkstätte. Die vier zeigten sich teilweise verwundert, teilweise empört, weil Maul nach der Feststellung ihrer Identität zunächst nichts weiter tat, als sein Jägerschnitzel zu verspeisen. Tief über den Teller gebeugt gab er hin und wieder ein zustimmendes Brummen von sich, und auch Nero bekam das eine oder andere Stück Fleisch ab.
»Wollen Sie nicht langsam einmal anfangen, uns Fragen zu stellen«, beschwerte sich Albrecht, als Maul genüsslich das Besteck beiseitegelegt und zur Verdauung noch einen Willi bestellt hatte.
»Was sollte das bringen?«, fragte Maul.
»Ich denke, Sie glauben nicht daran, dass der arme Holler den Bürgermeister aus Versehen erschossen hat, und wollen jetzt unnötig Staub aufwirbeln.« Auch der Agrarökonom Drescher schien reichlich ungehalten.
»Sie vier«, Maul deutete auf den Stammtisch, »würden mir ja doch nur erzählen, dass alles genauso war, wie der Jäger da«, Maul deutete auf Holler, der kreidebleich am Nebentisch saß und unablässig den Kopf schüttelte, »gesagt hat. Der Bürgermeister wollte einen Christbaum absägen und ist dabei erschossen worden. Tragischer Unfall, oder?«
»Na ja, wenn’s doch genauso war«, meldete sich der Feuerwehrhauptmann.
»Das können Sie Ihrem Gemeinderat erzählen«, antwortete Maul, »aber nicht mir, ich bin nämlich ein Lebensweiser. Ich durchschaue Sie alle!«
»Sie sind doch vollkommen verrückt«, folgerte Zeuglein messerscharf.
»Ja, das haben mir drei verschiedene Psychologen auch bestätigt«, nickte Maul. »Ist aber immer eine Frage der Perspektive, nicht wahr?«
»Jagdunfälle passieren eben«, Albrecht zuckte mit den Schultern. »Aber wenn Sie unbedingt Ihre wertvolle Zeit verschwenden wollen, bitte!«
»Oh, ich habe absolut nichts dagegen, einen Unfall als solchen zu den Akten zu legen«, Maul nahm das Schnapsglas und leerte es auf ex, »aber im Gegensatz zu Ihnen, meine Herren, sage ich immer und überall die Wahrheit, auch wenn ich danach wieder strafversetzt werde … diese Gesellschaft macht mich krank!«
»So was muss ich mir nicht länger anhören«, Drescher sprang auf. »Ich gehe jetzt!«
»Nix da«, befahl Maul. Wie gerufen erschienen in diesem Moment zwei Streifenpolizisten im Eingang der Gaststube. »Wir warten jetzt alle schön auf die ersten Ergebnisse der Spurensicherung, und dann sage ich Ihnen, wie es war!«
Zwanzig Minuten später meldete sich Klimpel, der Chef der Spurensicherung, im Tanzenden Bären zum ersten Rapport. Hinter ihm war eine junge Frau durch die Tür gewischt, die von den beiden Streifenpolizisten sogleich ergriffen und beinahe schon wieder zur Tür hinausbefördert worden wäre, wenn Maul nicht sein Veto eingelegt hätte.
»Halt«, rief der Lebensweise, »wer ist denn die blonde Schnecke da?«
»Prager mein Name.« Die junge Frau kämpfte sich aus dem Griff der Polizisten frei. »Patrizia Prager. Redakteurin beim Hochfranken-Globe!«
»Sie können sich gerne morgen oder übermorgen an unseren Pressesprecher wenden«, sagte der größere der beiden Uniformierten. »Momentan stören Sie nur die laufenden Ermittlungen!«
»Langsam, langsam.« Maul erhob sich. »Zum einen sieht die junge Dame ja ganz schnuckelig aus, zum anderen könnten wir die Presse gerade heute Abend noch gut gebrauchen … Hinsetzen!«
»Wer?«, fragte der Polizist. »Wir?«
»Nein«, erwiderte Maul unwirsch und deutete auf Patrizia Prager, »sie! Und zwar gleich hier, zu mir!«
»Also, wie sieht’s aus?«, fragte Maul den Spurensicherer.
»Heilloses Chaos«, seufzte Klimpel, der sich auch erst mal ein Bier bestellt hatte. »Eigentlich könnte man im Schnee astreine Fußspuren nehmen, wenn da nicht ein halbes Bataillon drübergetrampelt wäre …«
»Na hören Sie mal«, meldete sich der Feuerwehrhauptmann, »wir mussten doch nach dem Bürgermeister sehen. Der hätte ja auch noch leben können!«
»Ja, aber es hätte auch gereicht, wenn sich nur einer dem Tatort genähert hätte … jedenfalls brauch ich jetzt von jedem, der vorhin im Wald war, einen Schuhabdruck!«
»Meine Füße dampfen eh schon wieder«, Maul zog einen seiner Wanderstiefel aus. »Muss eine Alterserscheinung sein.«
»Besten Dank«, Klimpel nahm den Schuh mit spitzen Fingern entgegen. »Wer war noch da? Den Notarzt haben wir schon.«
»Sie da«, Maul deutete auf den Feuerwehrhauptmann, »Schuhe ausziehen!«
»Sonst noch was?«, protestierte Schrader.
»Das ist eine polizeiliche Anweisung!« Der Lebensweise näherte die Stimme wieder seiner früheren Hauptfeldwebel-Tonlage an. »Oder haben Sie was zu verbergen?«
»Sie wissen doch selber, dass ich gerade dort war.«
»Ich schon, aber die Akte nicht! Also, ziehen Sie jetzt einen Schuh aus, oder muss ich die Kollegen von der Trachtentruppe das machen lassen?« Maul deutete auf die beiden Uniformierten.
»Jetzt mach halt«, sagte Drescher, »ist doch nur eine Formsache!«
»In Gottes Namen«, seufzte Schrader und zog den linken Stiefel aus. »Und wann krieg ich den wieder?«
»Viertelstunde«, sagte Klimpel. »Die Kollegen rühren draußen gleich den Gips an. Wer war noch dabei?«
Als auch noch die Schuhe der Wirtin beschlagnahmt waren, verließ Maul kurz mit Klimpel den Gastraum. Keine fünf Minuten später kehrte er zurück und setzte sich wieder an seinem Tisch neben der Lokaljournalistin nieder.
»Haben Sie gut aufgepasst, was die Herren gesprochen haben, während ich weg war?«, fragte er so laut, dass es auch am Stammtisch zu hören war.
»Ja, natürlich.« Sie nippte an einem Pfefferminztee.
»Und, haben sie verraten, wer es war?«
»Oha«, rief Albrecht, »ich glaube, der Herr Kommissar verdächtigt gar einen von uns!«
»Ich glaube, dass hier mindestens zwei am Werk waren.« Maul nahm sein halbleeres Bierglas und begann, in Socken vor dem Stammtisch auf und ab zu gehen. »Ich glaube, dass der Bürgermeister erschossen worden ist, als ich mit Nero im Wald spazieren war und zwei Schüsse gehört habe. Also ungefähr um sechs. Dann haben ihn wahrscheinlich zwei Personen in die Nähe des Fundorts getragen. Diese Personen mussten wissen, dass unser Jäger hier«, Maul tätschelte dem immer noch zitternden Holler die Schulter, »ab halb sieben auf seinem Hochsitz hockt. Dass die Viecher zu dieser Futterstelle kommen, war ja klar, nur nicht, wann. Zwanzig Minuten später tauchen die ersten Wildsäue auf, der Jäger schießt, und die Täter legen schnell den toten Bürgermeister dahin, wo vorher die Sau war. Dann verschwinden sie durch den Wald.«
»Ach, und Sie meinen jetzt, dass zwei von uns das waren?« Metzgermeister Albrecht lehnte sich grinsend zurück.
»Allerdings«, Maul setzte sich wieder an seinen Tisch neben die Journalistin, die eifrig mitgeschrieben hatte.
»Wir waren aber hier, als der Knauser nach Ihrer Theorie erschossen wurde«, Drescher schaute Maul unschuldig an.
»Er nicht«, der Lebensweise deutete auf Zeuglein.
»Ja, ich habe noch zwei alte Belege suchen müssen, für die Steuererklärung.« Der Maschinenhändler zuckte mit den Schultern.
»Schuhe ausziehen«, befahl Maul.
»Wenn Sie wollen.«
»Endlich mal einer, der nicht glaubt, sich der Staatsgewalt widersetzen zu müssen!« Maul stand auf, um das Schuhwerk in Empfang zu nehmen. Sodann rief er noch einmal Klimpel herein und tuschelte ein paar Sekunden mit ihm.
»Wenn Sie übrigens meine Abdrücke dort finden, also ich weiß ja nicht ganz genau, wo, dann könnte das daran liegen, dass ich gestern in der Nähe spazieren war.« Zeuglein blickte den Kommissar arglos an.
»Das werden wir feststellen«, brummte Maul.
»Und wer soll dann der Zweite gewesen sein?«, hakte nun Albrecht nach. »Der Hans allein hätte den Bürgermeister nicht durch den Wald schleppen können.«
»Was weiß ich?«, Maul setzte sich wieder zu der Journalistin. »Vielleicht sein Schwager oder vielleicht ein anderer Schwager oder sonst ein Mitverschwörer …«
»Was heißt denn hier Verschwörer?«, protestierte Albrecht. »Ich glaube, Sie haben etwas zu viel Fantasie, Herr Kommissar!«
»Hauptkommissar«, korrigierte Maul. »Und ich habe eigentlich gar keine Fantasie, dafür besitze ich aber Lebensweisheit. Mir macht keiner was vor! Ich durchschaue Sie alle!«
»Ich glaube, das heißt Paranoia, wenn einer immer und überall nur das Schlechte sieht«, sagte der Feuerwehrhauptmann zu seinen Stammtischbrüdern.
»Paranoia habe ich nicht«, erklärte Maul. »Ich habe nur eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, und die ist sogar amtlich! Aber Sie haben recht, es fehlt noch ein Puzzleteil, bevor ich Sie alle wegen Mord und Mittäterschaft verhaften lasse …«
»Der ist wirklich gut«, gluckste Drescher, während Schrader mit der rechten Hand Wischbewegungen vor der Stirn machte.
»Das Motiv«, sagte Maul. »Wir brauchen natürlich noch ein Motiv. Aber das werden wir schon finden. So ein Bürgermeister kann es ja niemals allen recht machen. Oder, Frau Prager?«
»Wenn Sie jetzt nicht gefragt hätten, hätte ich mich einmischen müssen«, antwortete die junge Frau halb beleidigt, halb geheimnisvoll.
»Ja ja, nur zuerst bin schon ich dran.« Maul machte eine huldvolle Handbewegung. »Aber jetzt dürfen Sie. Immer raus damit!«
»Ich glaube, dass das alles mit den Windrädern zu tun hat.« Patrizia Prager lehnte sich zurück und lächelte wissend.
»Pah«, hörte man vom Nebentisch.
»Was für Windräder?«, fragte Maul.
»Na ja, mit Grundbesitz ist hier in der Gegend nicht mehr viel Geld zu machen«, erklärte die Journalistin. »Es sei denn, Sie verpachten Ihr Feld an so einen Energieversorger, der hier Windräder aufstellen will.«
»Diese hässlichen Propeller, die mir beim Wandern immer die Aussicht versauen?« Maul wurde ungehalten.
»Genau die«, sagte Prager. »Hier gibt es zwar sonst fast nichts mehr, aber Wind weht deutlich mehr als woanders. Deswegen werden jetzt im großen Stil immer mehr Windkraftanlagen aufgestellt. Das wird durch die Energiewende immer lukrativer.«
»Gut, und was hat das jetzt mit dem Bürgermeister zu tun?«, fragte Maul.
»Es besteht großes Interesse seitens mehrerer Energieversorger, auf dem Gebiet von Schnarchersreuth zehn bis fünfzehn Windräder aufzustellen. Der Bürgermeister wollte dafür Grundstücke der Gemeinde verpachten und dadurch wieder etwas Geld in die Kasse kriegen …, während …«
»… andere Grundbesitzer so ein Ding lieber auf ihrem Acker hätten und dann die Hand aufhalten könnten«, setzte Maul den Satz fort. »Stimmt’s oder hab ich recht?«
»Stimmt«, Prager schien leicht verärgert, weil Maul ihr die Pointe weggenommen hatte.
»Gut, dann müssen wir also nur herausfinden, wer von den Herren hier Grundbesitzer ist, und schon haben wir ein wunderbares Mordmotiv.« Maul stand wieder auf und näherte sich dem Stammtisch.
»Hier ist jeder Grundbesitzer«, Drescher nahm einen Schluck Bier und blickte wissend auf den letzten im Glas verbliebenen Rest. »Spätestens in der Großelterngeneration waren alle Bauern.«
»Dann haben Sie also alle ein Motiv«, schloss Maul, »aber das werden wir uns schon noch genauer …«
»Wir haben die Sau gefunden«, rief Klimpel, der in den Gastraum geplatzt war.
»Welche Sau?«, Maul schien nicht erfreut ob der jähen Störung.
»Die Wildsau, die unser Jägersmann hier angeschossen hat!«
»Wie habt ihr denn das geschafft?« Hollers Gesicht zeigte ganz langsam wieder etwas Farbe.
»Na ja, ein bisschen Glück war schon dabei«, räumte Klimpel ein. »Die ist vor einen Streifenwagen gelaufen, der gerade auf dem Rückweg war.«
»Waren es zwei Treffer?«, fragte Maul. »Dann kann unser Jäger den Bürgermeister gar nicht erschossen haben … es sei denn, er hätte nachgeladen.« Er nahm Hollers doppelläufige Büchse zur Hand, die zwar schon beschlagnahmt war, aber noch immer in einer Ecke des Wirtshauses lehnte.
»Nein, es ist nur ein Schuss.« Klimpel hielt eine Plastiktüte mit einem deformierten Projektil hoch. »Aber wir haben jetzt natürlich einen Abgleich mit der Kugel, die den Bürgermeister erledigt hat.« Er übergab Maul eine zweite Plastiktüte.
»Na, dann müssen Sie ja spätestens jetzt sehen, dass es sich hier um dasselbe Kaliber handelt, und das Ganze ein tragischer Unfall war«, sagte Albrecht.
»Sie können doch sogar feststellen, ob die Kugel aus derselben Waffe gekommen ist«, ergänzte Schrader.
»Ja, meine Herren«, Drescher stand auf, »ich finde, wir sollten uns jetzt alle erheben und zu Ehren unseres verschiedenen Bürgermeisters eine Schweigeminute einlegen …«
»Sie können ruhig sitzen bleiben.« Maul musterte die beiden Tüten, während Klimpel ihm ins Ohr tuschelte. »Wir haben hier nämlich zwei verschiedene Kaliber.«
»Was?«, rief Albrecht.
»Also kann unser Jäger gar nicht der Täter gewesen sein, nicht wahr?«
»Aber, aber, das ist … unmöglich«, Zeuglein sprang auf und riss Maul die Tüten aus der Hand.
»Sehen Sie selbst …«, Maul tat unschuldig. »In der Sau steckte eine 8x68S-Kugel, im Bürgermeister dagegen ein 9mm-Geschoss«, erläuterte Klimpel die verschiedenen Projektile, deren Unterschiede jedoch auch für einen Laien sofort zu erkennen waren.
»Sie scheinen ja alle sehr erstaunt zu sein«, stellte Maul fest.
»Ich würde eher sagen: bestürzt«, sagte die Journalistin.
»Nun, ähm, also«, stotterte Schrader, »Das ist nur, weil, also die Sache mit dem Unfall war doch sehr äh … nachvollziehbar. Daher sind wir natürlich davon ausgegangen, dass …«
»Sie waren sich Ihrer Sache sehr sicher«, lächelte Maul.
»Die versuchen doch, uns hinters Licht zu führen«, rief Zeuglein. »Die bluffen!«
»Sie müssen es ja wissen!« Maul packte den Landmaschinenhändler und drückte ihn wieder auf einen Stuhl. »Weil Sie den Bürgermeister mit der Waffe vom Jäger Holler nämlich selbst erschossen haben!«
»Vorsicht«, grollte Albrecht, »es gibt auch so was wie üble Nachrede!«
»Herr Metzgermeister«, Mauls Ton würde maliziös, »sagen Sie mal, verkaufen Sie auch Wild?«
»Ja, natürlich. Wild gehört in unserer Gegend auf jede anständige Festtafel!«
»Und Sie, Herr Holler«, wandte sich der Lebensweise an den Jäger, »wenn Sie so einen Hirsch oder so ein Wildschwein erwischen, essen Sie das dann alleine auf?«
»Nein, natürlich nicht«, Holler genehmigte sich nun den Schnaps, den ihm die Wirtin schon vor geraumer Zeit auf den Tisch gestellt hatte. »Ich behalte nur die besten Stücke, den Rest verkaufe ich dem Albrecht!«
»Dachte ich’s mir doch«, erwiderte Maul. »Und wann haben Sie den Fleischermeister das letzte Mal beliefert?«
»Das war am Sonntag gegen Abend, direkt nach der Pirsch …« Nun ging auch Holler ein Licht auf, und er blickte Albrecht fassungslos an.
»Sie brauchen nicht weiterzureden.« Maul hob die Hand. »Sie hatten Ihr Gewehr noch im Auto. Er hat Sie ins Haus gebeten und in ein Gespräch verwickelt, damit genug Zeit war, dass ein Komplize Ihre Waffe gegen eine identische austauschen konnte. Dann haben sie den Bürgermeister heute am frühen Abend an den Waldrand gelockt – wahrscheinlich ein Ortstermin wegen der Felder, die verpachtet werden sollten –, und dann hat ihn dieser Mann hier erschossen«, Maul deutete auf Zeuglein.
»So so«, meldete sich nun Drescher, »dann hätten wir die Waffe aber wieder austauschen müssen, nachdem der Holler auf die Säue geschossen hat. Schließlich weiß doch jeder, dass Sie in Ihrem Labor genau sehen, aus welchem Lauf eine Kugel gekommen ist. Wie hätte das denn gehen sollen?«
»Sie haben ganz recht«, Maul klopfte Klimpel auf die Schulter. »Ich weiß zwar nicht, wie, aber die Jungs von der Kriminaltechnik können das. Deswegen war es auch Ihr Pech, dass wir jetzt wirklich die vom Holler angeschossene Sau gefunden haben. Denn der Austausch fand erst vor etwa dreißig Minuten statt.«
»Aha, und wie soll das gegangen sein?«, lachte Drescher.
Maul zuckte die Achseln. »Sie hatten doch genügend Zeit. Als wir mit dem Feuerwehrwagen zum Tatort gefahren sind, konnten Sie in aller Ruhe das Gewehr im Auto des Jägers wieder austauschen.«
»Gut, dann müsste das andere Gewehr, also die Tatwaffe, ja noch irgendwo sein.« Albrecht nahm einen großen Schluck Bier.
»In der Tat«, nickte Maul. »Und deswegen gestehen Sie jetzt besser, dass Sie alle vier hinter dieser Wildsauerei stecken, dann ersparen Sie mir … äh, also meinen Kollegen einen Haufen Arbeit. Das dauert, bis man so ein ganzes Gasthaus durchsucht hat und Ihre Pkw natürlich auch. Sie sind doch alle mit dem Auto da, oder?«
»Fangen Sie am besten gleich mit den Autos an.« Drescher machte eine großzügige Geste. »Sonst kommen wir überhaupt nicht mehr heim.«
»Wie bitte?«, rief Zeuglein. »Sie können doch nicht einfach ohne Durchsuchungsbefehl meinen Wagen …«
»Allgemeine Verkehrskontrolle«, sagte Maul und gab den Streifenbeamten ein Zeichen, woraufhin einer von ihnen den Gastraum verließ, »wir müssen doch sichergehen, dass Sie auch ein Warndreieck und einen Verbandskasten dabeihaben.«
»Klar habe ich alles im Kofferraum«, wehrte sich Zeuglein, »aber ich brauche das ja heute gar nicht, ich laufe heim! Kann ja gar nicht mehr fahren, hab ja schon viel zu viel getrunken!«
»Ja, Hans!« Albrecht machte große Augen und rückte etwas von seinem Stammtischbruder ab. »So langsam glaub ich ja wirklich, dass du den Bürgermeister …«
»Was? Wieso?«
»Jetzt zeig den Herren Polizisten halt deinen Kofferraum.« Drescher gab sich leutselig. »Hast doch nix zu verbergen!«
»Ihr Lumpen«, rief Zeuglein mit hochrotem Kopf, »das sieht euch wieder ähnlich …«
»War wohl doch alles so, wie ich gesagt habe?« Maul tätschelte dem Landmaschinenhändler lächelnd die Schulter.
Zeuglein sprang auf und ging auf Abstand zu seinen Kollegen. »Ich habe am wenigsten Grundbesitz von allen hier …«
»Dafür aber vermutlich die meisten Schulden. So viele Landmaschinen verkauft man hier wahrscheinlich auch nicht mehr«, sagte Maul.
»Die haben mich in der Hand gehabt, die Drecksäcke …« Er zeigte auf Drescher. »Der wollte mir meinen Acker abkaufen, für 50.000 Euro, sobald der Bürgermeister …«
»Also, ich habe ehrlich keine Ahnung, wovon der Hans da die ganze Zeit redet.« Drescher hob treuherzig die Arme.
»Der hat’s schon seit Längerem mit den Nerven, weil sein Geschäft nicht mehr läuft«, nickte Schrader wissend.
»Wir haben ihn ja auch bloß aus Barmherzigkeit in unseren Stammtisch aufgenommen.« Albrecht faltete die Hände und blickte zum Himmel.
»Darf ich diese O-Töne alle so bringen?«, fragte die Journalistin, die fleißig mitschrieb.
»Diese Gesellschaft macht mich krank«, seufzte Maul und griff zum Bierglas.