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M iami, 1995

Das leicht körnige Monitorbild zeigte in kontrastreichem Schwarz-Weiß das elegante Interieur eines Hotelzimmers. Ein Schatten wanderte über den Teppichboden. Jemand bewegte sich im Raum.

Ein Mann trat in das Blickfeld der Kamera. Er trug einen Bademantel, selbst auf dem kleinen Überwachungsmonitor noch gut sichtbar das goldene »R« der Hotelkette auf der Brusttasche. Der Mann, sportliche Figur und nach hinten gegelte Haare, durchquerte den Raum und legte sich wieder auf das Bett. Auf dem Bett lag eine junge Frau. Der Mann sagte etwas, die Frau lachte.

»Der Ton! Was ist mit dem Ton, Bob?«, rief Mike Sorbello.

Bob warf seinen McDonalds-Hamburger beiseite, sprang aus dem Sessel und machte sich am Kabel entlang der Fußleiste zu schaffen, das in ein Loch in der Wand führte.

»Verfluchtes Kabel … besser so?«

Die Überwachungskamera, versteckt hinter dem Gitter der Klimaanlage im Zimmer nebenan, hingegen funktionierte nach wie vor einwandfrei. Sie war dem Mann zum Bett gefolgt, nun zeigte sie, wie sich die junge Frau rittlings auf den Mann setzte und der Mann seine Hände um ihre Brüste legte.

»Sekunde, Bob …« Lustvolles Stöhnen drang aus Sorbellos Headset. »Yep, Ton ist wieder da.«

Sorbello konnte sich wieder ganz seiner Aufgabe vor dem Bildschirm widmen. Die Stunden vor dem Monitor hatten ihm beißende Tränen in die Augen getrieben. Er wartete, bis das Gesicht des Mannes in einem guten Winkel zur Kamera stand, klickte ein letztes Mal auf den Save-Image-Knopf und legte dann den Kopfhörer zur Seite. Sie hatten genug Material. Erschöpft rieb er sich das Gesicht. Das Treiben im Schlafzimmer nebenan ging bereits in die vierte Runde.

»Junge, Junge … Wie wär’s mit einer Pause?«, raunzte er den Mann auf dem Monitorbild beinahe flehentlich an. »Du bist auch nicht mehr der Jüngste, du Idiot!«.

Der Job als Pilot bei einer Privatjet-Airline hatte zweifelsohne seine angenehmen Seiten. Man konnte, als Beispiel, auf der Poolterrasse des St. Regis in Miami liegen, in Shorts und Shirt, Drink in der Hand, und sich das lockere Treiben von Miamis Oberschicht anschauen. Sein Co-Pilot zum Beispiel nutzte den Nachmittag auf der hoteleigenen Golfanlage, um an seinem Handicap zu arbeiten. Meist blieben sie mehrere Tage, was auch hieß, mehrere Nächte.

Von einem Mädchen in einem Hauch von Bikini hatten sie eine Einladung zu einer Beachparty für später am Abend erhalten. Der Rückflug war für übermorgen geplant. Eine kurze Partynacht war in jedem Fall noch drin.

Im Hintergrund spielte The Girl from Ipanema , eines seiner Lieblingslieder. Vielleicht noch ein bisschen ausruhen, falls es doch später werden würde heute Abend.

Peter Röthlisberger setzte seine Ray-Ban auf, schloss die Augen und ließ sich von der entspannten Atmosphäre davontragen.

»Darf ich?«

Die Stimme kam von rechts. Er musste wohl eingenickt sein. Röthlisberger blinzelte verschlafen über den Rand seiner Pilotenbrille. Über ihm stand eine attraktive Frau, Röthlisberger schätzte sie auf Mitte dreißig. Sportliche Figur, eins siebzig groß, Schokoladenhaut, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Über dem Bikini trug sie ein transparentes Strandkleid, dazu einen breitkrempigen Strohhut und Sonnenbrille, gut erkennbar aus dem Hause Chanel. Über der Schulter baumelte eine für Röthlisbergers Geschmack leicht überdimensionierte Strandtasche.

Die Frau deutete fragend auf die Liege neben ihm.

»Nun ja …« Röthlisberger schaute sich kurz um. »Eigentlich ist sie besetzt.«

»Ich weiß. Ihre Flugbegleiterin Susanna. Süß, die Kleine. Toller Hintern. Ich bin sicher, es wird sie nicht stören. Zwischen uns liegen gute zehn Jahre.«

Röthlisberger glotzte die Frau, die sich wie selbstverständlich auf den freien Platz neben ihn gelegt hatte und sich jetzt eine Zigarette ansteckte, ratlos an.

Die Strandschönheit hielt ihm ihre Marlboros entgegen.

»Sie rauchen?«

»Ähm … Danke, aufgegeben.«

Susanna? Toller Hintern? Zehn Jahre jünger? Dürfte hinkommen, dachte Röthlisberger. Er ging in Gedanken seine letzten Einsätze nach Miami durch. Es gab da ein paar Frauen, klar. Er kam ja auch schon seit zehn Jahren nach Florida. Aber die attraktive Latina neben ihm? Er konnte sich nicht erinnern.

Ein Kellner servierte der neuen Liegestuhl-Nachbarin einen Tequila Sunrise. Röthlisberger beschloss, einen Versuch zu wagen.

»Ähm … Vielleicht lässt mich meine Erinnerung etwas im Stich. Die Silvesterparty letztes Jahr? Mein Boss war draußen auf der Jacht. Und Sie haben an der Bacardi-Bar vorne am Strand gearbeitet, stimmt’s?«

Die Frau lehnte sich mit aufreizender Entspanntheit auf der Liege zurück und blies Rauchkringel in die Luft. »Sorry, Captain. Ich arbeite nicht an Bars.«

Als von Röthlisberger keine weiteren Vorschläge kamen, griff sie in ihre Strandtasche.

»Okay, dann will ich Ihnen mal auf die Sprünge helfen.«

Ein brauner Umschlag landete in Röthlisbergers Schoß.

»Das ist für Sie. Und glauben Sie mir, wir haben uns wirklich Mühe gegeben. Modernste Technik.« Die Frau zwinkerte ihm zu. »Und bloß keine Hemmungen. Erwachsen sind wir ja beide.«

Röthlisberger öffnete den Umschlag, und ein Stapel Fotos fiel ihm entgegen. Er schaute sich das erste Bild an, und obwohl die Lufttemperatur dreißig Grad anzeigte, trat kalter Schweiß auf seine Stirn. Rasch wühlte er sich durch den Rest der Aufnahmen.

»Das Ganze gibt es auch als Video, mit Ton«, fügte die Frau an, so als wollte sie sichergehen, dass Röthlisberger auch wirklich den vollen Umfang seines Problems verstanden hatte. Ein unnötiger Hinweis.

Die Frau hatte nicht zu viel versprochen, die Fotos waren tatsächlich von bester Qualität. Aus Röthlisbergers Gesicht war alle Farbe gewichen. Ein diffuses Gefühl der Panik erfasste ihn. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Es sollte selbstbewusst klingen.

Die Frau nahm ihre Brille ab. In ihren kastanienbraunen Augen war keine Sympathie für ihr Gegenüber erkennbar.

»Nun, Captain Röthlisberger. Die Sache ist die: Ich frage mich … Was denkt wohl Ihre Frau, wenn sie diese Fotos sieht? Wenn es dumm läuft, in einer Zeitung?«

Röthlisberger schnappte nach Luft, während die kühle Latina neben ihm ungerührt fortfuhr. »Einundvierzig Jahre, Anwältin und Partnerin in einer der besten Kanzleien von Zürich. Mutter von zwei Kindern, acht und zehn Jahre. Vor einem Jahr in das Stadtparlament gewählt. Sprecherin der konservativen Partei. Man spricht von einer großen Zukunft. Man sagt, sie könnte bald einmal Ministerin in Bern werden.«

Röthlisberger starrte wortlos auf die Frau, wie sie mit dem Strohhalm zwischen den Lippen an ihrem Drink saugte und ihn erwartungsvoll ansah.

»Wie gesagt«, fuhr die Frau fort, als vom Piloten keine Antwort kam, »Ich frage mich: Was denkt wohl Ihre Frau über die Schäferstündchen mit Ihrer Flugbegleiterin?«

»Ich kann Geld auftreiben. Wie viel wollen Sie?«, antwortete Röthlisbergers mit zitternder Stimme.

Die Frau schaute den Captain einen Moment verwundert an und tippte sich dann mit der Hand an die Stirn. »Wie konnte ich nur! Ich hatte mich ja noch gar nicht vorgestellt.« Sie zog ein schwarzes Lederetui aus ihrer Strandtasche und klappte es in einer tausendfach geübten Bewegung vor Röthlisbergers Gesicht auf. »Martha Lopez, Special Agent der Drogenbehörde der Vereinigten Staaten. Wie der Name schon sagt, sorgen wir unter anderem dafür, dass keine verbotenen Rauschgifte ins Land kommen. Klappt vielleicht nicht immer. Aber dann holen wir uns wenigstens die, die glauben, schlauer zu sein als wir. Sie sehen also – wir wollen nicht Ihr Geld, wir wollen Ihre Kooperation, Captain.« DEA -Agent Lopez drückte ihre Zigarette aus und erhob sich. »Wenn Sie dann so freundlich wären, mir zu folgen. Ihr Passagier hat den Rückflug für übermorgen geplant. Richtig? Bis dahin sollten wir noch ein paar Einzelheiten miteinander besprechen.«

Die mondlose Nacht ließ den Atlantik unter ihnen als endlose schwarze Fläche erscheinen. Die Bordinstrumente tauchten das Cockpit des Bombardier Learjet 45 in einen schwachen rötlichen Lichtschein. Captain Röthlisberger fasste hinter seinen Sitz und tastete nach der kleinen Reisetasche.

»Zeit für einen Kaffee. Übernimmst du? Ich setz mich für eine halbe Stunde nach hinten.«

Der Co-Pilot warf einen Blick auf die Instrumente. »Alles klar. Bis zum Tankstopp in Grönland sind’s noch knapp zwei Stunden.«

Röthlisberger legte das Headset ab, schnallte sich von den Sitzgurten los und öffnete sachte die Tür zur Passagierkabine.

Der Raum lag im Halbdunkel, die Nachtbeleuchtung war bereits eingeschaltet. Susanna, ihre Flugbegleiterin, hatte die breiten Ledersessel nach dem Abendessen zu Betten hergerichtet und schlief jetzt auf ihrem Platz direkt hinter dem Cockpit. Ihr Passagier hatte zum Abendessen eine Flasche Château Beauregard getrunken. »Geht aufs Haus«, hatte Röthlisberger nach dem Start beim Besuch in der Kabine gesagt. Die Idee war ihm am Nachmittag vor der Abfahrt zum Flughafen gekommen. Er hatte Susanna einhundert Dollar in die Hand gedrückt und sie zu einem Weinladen am South Pointe Drive geschickt.

Nun schlief Walter Baumann tief und fest auf seinem bequemen Schlafplatz.

Röthlisberger entdeckte den Aktenkoffer auf dem freien Sitz neben Baumann. Der Waschraum befand sich am Ende des Ganges. Nur ein paar Meter, aber sie erschienen ihm wie eine unendlich lange Wegstrecke.

Er beugte sich über den leise schnarchenden Baumann und bekam den Griff des Aktenkoffers zu fassen. Wachte der auf, war er ein toter Mann. So viel hatte er kapiert.

Im Waschraum zog er den Beutel mit dem Fotoapparat aus seiner Reisetasche, den ihm die DEA -Agentin mitgegeben hatte – ebenso wie die Zahlenkombination für den Aktenkoffer.

Die beiden Klappverschlüsse sprangen auf. Die Kombination stimmte. Kurz musste er darüber nachdenken, wie zum Henker Lopez an den Code von Baumanns Koffer gekommen war. Nun, vermutlich nicht viel anders als bei ihm selbst. Diese DEA -Truppe war rücksichtslos, sie zerstörten anderer Menschen Leben gerade so, wie es ihnen passte. Mittlerweile hasste er sie, egal weswegen sie hinter Baumann her waren.

Im Koffer lagen Dokumente, vielleicht dreißig Seiten. Ihr Inhalt interessierte den Captain nicht. Er beeilte sich, aber er hatte größte Mühe, die Kamera ruhig zu halten. Seine Hände zitterten.

Wenige Minuten später lag der Koffer wieder an seinem Platz. Baumann hatte sich nicht gerührt.

Captain Röthlisberger landete die Maschine um kurz vor vier Uhr morgens auf dem Narsarsuaq International Airport. Baumann wurde vom Bodenpersonal empfangen und zur Business-Lounge begleitet.

»Beschissenes Wetter. Ich geh rüber zum Tower und besorge uns aktuelle Wetterdaten. Machst du Außencheck und Betankung?«

Sein Co-Pilot hob den Daumen.

Susanna war dabei, die Kabine aufzuräumen. Im Vorbeigehen drückte sie Peter einen Kuss auf die Wange. »Alles klar bei dir? Du siehst schrecklich aus.«

»Alles okay. Vielleicht werde ich tatsächlich langsam zu alt für diesen Job.«

Susanna lachte. »Quatsch! Geh an die frische Luft. Tut dir gut.«

Röthlisberger hatte sich beim Tower den neuesten Wetterbericht geholt und stand nun am Tresen des Cafés in der kleinen Empfangshalle. Er bestellte drei Lachssandwiches und einen schwarzen Kaffee.

Sein Blick ging durch die Halle. Ein paar Flughafenangestellte waren zu sehen, ansonsten herrschte kaum Betrieb. Baumann war bereits wieder an Bord.

Er warf einen nervösen Blick auf seine Uhr. In fünfzehn Minuten sollten sie wieder in der Luft sein. Und Regen und Wind waren heftiger geworden.

Ein Arbeiter einer Frachtagentur stellte sich an den Tresen.

»Hi. Mieses Wetter, was?«

Röthlisberger nickte schweigend.

Der Frachtarbeiter bestellte einen Kaffee.

»Hab Ihre Landung gesehen.« Der Frachtarbeiter hob den Daumen. »Guter Job.«

Röthlisberger stutzte. Saß der Typ etwa im Tower? »Sie sind US -Amerikaner?«

»Waschechter. Sie sind Schweizer?«

Als Röthlisberger nickte, fügte der Mann nach einer kurzen Pause hinzu: »Switzerland has the best cheese .«

Röthlisberger hielt den Atem an.

Es war das Codewort.

»But way too expensive« , erwiderte er vorsichtig.

Der Mann stellte sich nun direkt neben Röthlisberger, der die ausgestreckte Hand des DEA -Agenten ignorierte.

»Sie haben etwas für mich, Captain?«

Röthlisberger griff in seine Reisetasche und legte den Stoffbeutel auf den Tresen.

Der DEA -Agent öffnete die Tasche und warf einen kurzen Blick auf den Inhalt. »Sehr schön. Hat alles geklappt?«

»Es sind etwa dreißig Aufnahmen«, meinte Röthlisberger. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun. Unterschätzen Sie Baumann nicht.«

Der DEA -Agent lächelte knapp. Eine Antwort blieb er schuldig.

»Wie auch immer …«, Röthlisberger tippte zum Gruß an seine Mütze, »… ich bin raus.«

Röthlisberger lief hinaus auf das Rollfeld. Kalter Regen peitschte ihm ins Gesicht. Die Triebwerke liefen bereits, die Positionslichter warfen rote Blitze in die Dunkelheit.

Der Albtraum war vorbei. Und jetzt nichts wie weg von hier.

Röthlisberger war schon lange klar, dass mit Walter Baumann etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht. Und der Pilot wollte seinen Fehler wiedergutmachen.

Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt. Und wenn er alles geregelt hatte, würde er es seiner Frau sagen. Es gab immer noch diese Fotos, und er traute Martha Lopez und der DEA nicht. Also besser dazu stehen. Er hatte genug gesehen, um die Polizei auf die Spur von Baumann zu bringen.

Er musste sich mit Urs Gehrig treffen. Urs war ein alter Schulfreund von ihm – und Ermittler bei der Kripo in Zürich.