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Bern, 2003

Der Schock kam mit Verspätung, ohne Vorwarnung. Kellers Hände begannen derart heftig zu zittern, dass er das Fahrzeug nicht mehr in der Spur halten konnte. Er fuhr rechts auf den Seitenstreifen, sprang aus dem Auto und übergab sich. Als er endlich die Kontrolle über seinen Körper wiedergewonnen hatte, steckte er sich die letzte Zigarette an, die er noch übrig hatte und setzte sich wieder ans Steuer.

Zu Hause angekommen, riss er sich als Erstes die Kleider vom Leib und stellte sich unter die Dusche. Vielleicht würde das Wasser die dunklen Bilder wegspülen, wenigstens für den Moment.

Julie schlief tief und fest. Kurz überlegte Keller, ob er sie wecken sollte. Doch er hätte nicht gewusst, wie er die vergangenen Stunden, die beinahe seine letzten gewesen wären, hätte in Worte fassen sollen. Leise legte er sich zu ihr ins Bett, aber die Bilder wollten nicht aus seinem Kopf verschwinden. Er wälzte sich hin und her.

Nach einer Weile schlich er sich nochmals ins Badezimmer, nahm erst eine, dann eine zweite Schlaftablette. Dann schickte er Moser eine kurze SMS , dass es spät geworden war, Gehrig tot sei und er erst mal schlafen müsse.

Als er aufwachte, war es zehn Uhr vorbei, und die Sonne schien. Julie war schon längst im Büro. Und natürlich hatte Moser angerufen.

Keller steckte den Kopf durch die Türe. Die Gespräche im Sitzungszimmer verstummten, die Blicke der Abteilungsleiter wandten sich ihm zu, und das deutlich länger als ihm lieb war. Sie wussten also Bescheid. Keller nickte kurz in die Runde und sah zu Moser.

»Pius, hast du eine Minute?«

»Ah, Keller …«, meldete sich stattdessen der Amtsdirektor vom Kopfende der Tafel. »Wir sprechen gerade über die schreckliche Tragödie von gestern Nacht. Setzen Sie sich.«

Keller zögerte. Verflucht. Daran hätte er vielleicht vorher denken sollen. Aber jetzt war es zu spät.

»Wie geht es Ihnen, Keller?«, wollte der Direktor wissen, nachdem Keller wiederwillig Platz genommen hatte.

»Hab schon mal besser geschlafen. Aber alles gut.«

»Unterschätzen Sie nicht die Nachwirkungen. Ich habe Pius angewiesen, Sie zu einer Psychologin zu schicken. Sind Sie einverstanden?«

Keller zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt. Es geht mir gut. Aber natürlich, wenn Sie darauf bestehen.«

»Das tue ich.« Der Direktor hob ein Dokument in die Höhe. »Wir haben den Bericht der Stadtpolizei Zürich erhalten. Ich kann mich an nichts Vergleichbares erinnern. Sie haben ihn gelesen?«

»Ja, vorhin.«

»Ihr Kommentar dazu?«

»Nun, ich kann vielleicht zwei Punkte dazu ergänzen.«

»Bitte.«

Keller reichte den Werbeflyer an Pius. »Vor der Rückfahrt gestern Nacht wurde das hier am Tatort hinterlegt. Es klemmte unter meiner Windschutzscheibe.«

Der Direktor sah fragend zu Pius und dann zu Keller.

»Und was ist das?«

Pius sah erschrocken zu Keller und reichte das Papier an den Direktor. »Eine Drohung, eine Morddrohung.«

Der Direktor betrachtete das Papier und gab es mit steinerner Miene in die Runde.

»Das … So was sehe ich zum ersten Mal.«

»Der zweite Punkt hängt unmittelbar damit zusammen,« fuhr Keller fort.

»Wie das?«

»Den Züricher Gastrounternehmer Giuseppe Mattarella, genannt Pino, kennen Sie aus dem Bericht vor Ihnen. Ich habe mit dem Kollegen Monti der DIA Palermo gesprochen. Giuseppe Mattarella ist ein Cousin ersten Grades von Matteo Messina Denaro, genannt U siccu, dem aktuellen Anführer der Cosa Nostra. Pino ist also Mitglied der sizilianischen Mafia. Vermutlich ist er der Statthalter der Cosa Nostra in der Schweiz.«

Für einen Moment wusste der Polizeidirektor nicht, was er antworten sollte. Verblüfft sah er zu Keller. »Was soll das heißen? Die Cosa Nostra betreibt eine Zelle in Zürich? Und die DIA ist sich da sicher?«

»Die gleiche Frage habe ich auch gestellt. Die Antwort ist: Ja.«

Der Direktor sah konsterniert in die Runde. »In Zürich sollen eine Cosa-Nostra-Zelle und ein Mafia-Spitzel sitzen? Das sind doch sehr … abenteuerliche Behauptungen. Bringen Sie mir Beweise, dann reden wir weiter. Und wenn es denn so sein sollte, bleibe ich dabei: Gehrig ist … war … ein Einzelfall.«

Moser nickte. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Fakt ist, wir wissen noch zu wenig. Aber es gibt leider noch ein anderes Problem: eine gesperrte Baumann-Akte bei der Bundesanwaltschaft. Und wir fragen uns, wie es dazu gekommen ist.«

»Die Baumann-Akte? Wieso weiß ich davon nichts?«

»Weil wir es auch erst vor ein paar Tagen erfahren haben. Ich erwähne es, weil der Bundesanwalt auf meine Anfrage noch nicht reagiert hat.«

Der Direktor nickte. »Ich gehe der Sache nach.«

Mosers Anruf am Morgen war der erste, aber nicht der einzige geblieben. Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten auch die Runde auf den Korridoren der Bundeskriminalpolizei gemacht. Kollegen erkundigten sich besorgt nach seinem Befinden, und dann gab es noch die anderen, die Gruppe der neugierigen Tratschtanten. Keller schaltete den Fernseher ein und erkannte den Grund für die plötzliche Anteilnahme: eine Geiselnahme, eine Schießerei und ein toter Polizist – für Zürichs lokale TV -Stationen eine mittlere Sensation. Reporter waren losgeschickt worden, die im Viertelstundentakt live vom Ort des Geschehens berichteten, unterbrochen einzig vom Werbespot der Neueröffnung eines bekannten Bettwarenhändlers an der Badenerstraße.

Er musste unbedingt Julie anrufen.

Julie war für ein Treffen mit einer FBI -Delegation aus Washington nach Genf gereist. Sie wollte morgen wieder zurück sein. Es dauerte, bis sie antwortete, sie hatte noch keine Nachrichten gehört, zum Glück.

»Ich bin okay, Honey. Keine Sorgen.«

»Jesus Christ …«, stammelte sie, und Keller glaubte zu hören, wie sie mit sich rang, um nicht gleich in Tränen auszubrechen. »Aber wieso hast du mich nicht aufgeweckt, verdammt!«

»Weil ich es erst mal selbst begreifen musste. Darum.«

»Gott … Aber dir ist nichts passiert, das ist das Wichtigste. Ich lass mich für den Empfang entschuldigen. Bis zum Abendessen bin ich zurück.« Dann flüsterte sie ein »Love you« hinterher.

Erst hatte Keller etwas kochen wollen, doch dann übermannte ihn die Erschöpfung. Er schlief noch auf dem Sofa ein, und als er wieder hochschreckte, stand Julie in der Tür. Sie umarmten sich, und für lange Zeit fiel kein Wort.

»Auf der Heimfahrt im Zug, da musste ich immer wieder daran denken, was ich tun würde, wenn du … wenn du nicht mehr hier wärst. Es wäre so schrecklich.« Als sie sich irgendwann von ihm löste, wischte sie sich die feuchten Wangen ab und sah Keller mit erbostem Blick an. »Tu das nie wieder! Hast du mich verstanden?«

Keller küsste sie zärtlich und strich ihr über den Kopf. »Ich bin ja hier«, flüsterte er. »Alles ist gut.« Keller sah zum halb fertig gedeckten Tisch. »Tja, eigentlich wollte ich uns etwas kochen …«

Julie rang sich ein verschmitztes Lächeln ab und sah ihn dann eindringlich an. »Ich hab jetzt vieles, nur keinen Hunger.«

Sie lagen nackt auf dem Bett, Julie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern und blies langsam den Rauch gegen die Decke. Eine Gewohnheit oder besser Ritual von ihr, das sie nur nach dem Sex pflegte.

Sie reichte Keller die Zigarette, sah ihn dabei nachdenklich an und strich über die lang gezogene Narbe, die sich um seine linke Schulter zog. Eine Verletzung, die er sich bereits als siebzehnjähriges Eishockeytalent zugezogen hatte. Es war das abrupte Ende einer vielversprechenden Laufbahn gewesen.

»Du konntest gar nicht sterben. Weißt du das?«

Keller drehte sich zu ihr um. »Nein, wusste ich nicht. Und wieso nicht?«

»Ganz einfach«, meinte sie grinsend, »nur Päpsten steht das Recht zu, auf einem roten, hässlichen Plüschsessel zu sterben.« Dann gab sie ihm einen Kuss und ging ins Badezimmer. »Und jetzt hab ich Hunger«, rief sie durch die offene Tür. »Wir bestellen uns eine Pizza und schauen uns einen Film an. Einverstanden?«

»Einverstanden. Wenn ich den Lieferdienst auswählen darf.«

Julie warf einen erstaunten Blick durch die Tür. »Traust du mir das etwa nicht mehr zu? Aber bitte, heute darfst du alles, Sweety. Sogar den Film auswählen.«

Keller hatte ihr alles über die vergangene Nacht erzählt, nur nicht von Pinos Nachricht. Die hatte er für sich behalten.

Auf andere wirkte die zierliche Danielle Gonnet zurückhaltend, manche würden es vielleicht gar menschenscheu nennen. Mit fünfunddreißig Jahren war sie zudem die Jüngste im Team der Staatsanwälte bei der Bundesanwaltschaft, und wer sie nicht kannte, konnte leicht dem Irrglauben verfallen, sie zu unterschätzen. Aber mit der Zeit hatte Gonnet diesen Umstand zu schätzen gelernt, ganz besonders im Umgang mit Beschuldigten und Verteidigern. Deshalb sah sie auch keinen Grund, ihr Auftreten zu ändern.

Auch dass Danielle Gonnet vor ihrem Wechsel nach Bern bereits eine beachtliche Karriere bei der Genfer Staatsanwaltschaft hingelegt hatte, wurde gerne übersehen. Genf bedeutete auch, dass sie sich mit komplexen Verfahren aus der Finanzbranche auskannte. Der Fall des Schweizer Ex-Bankiers und Neo-Drogenschmugglers Walter Baumann schien ihr jedenfalls keine schlaflosen Nächte zu bereiten. Ganz im Gegenteil. Das Dossier hatte ihr Interesse geweckt.

Gerade saßen Moser und Keller bei Gonnet im Büro im vierten Stock des grauen Verwaltungsgebäudes an der Berner Taubenhalde. Die Besprechung zog sich bereits seit einer Stunde hin.

Gleich zu Beginn des Treffens konnte Gonnet mit zwei zumindest halbwegs guten Neuigkeiten aufwarten. Sie hatte sich die Akte freischalten lassen; und sie hatte sich bei älteren Kollegen umgehört: 1996, noch bevor das Verfahren gegen Baumann eröffnet worden war, war der mittlerweile verstorbene Bundesanwalt an den Justizminister herangetreten und hatte um eine formelle Verfahrensermächtigung ersucht. Der Grund: Der Fall Baumann war als politisches Delikt eingestuft worden. Und ohne Ermächtigung der Landesregierung gab es keine Strafuntersuchungen zu politisch motivierten Straftaten. Dies hatte nichts mit vorauseilendem Gehorsam der alten Garde der Bundesanwaltschaft zu tun. So lautete das Strafgesetz, auch heute noch. Die Aktensperre war eine Folge davon.

»Wenn außen- oder sicherheitspolitische Interessen höher gewertet werden als das Interesse an einer Strafverfolgung, kann der Bundesrat eine Genehmigung verweigern«, fügte Gonnet an.

»So weit, so klar«, meinte Moser. »Aber hat sie nun – oder hat sie nun nicht?«

»Genau das kann mir niemand sagen, Pius. Derjenige, der es mit Sicherheit wüsste, weilt nicht mehr unter uns. Kurzum, ich weiß es nicht«, meinte Gonnet leicht ratlos.

Das Problem der Sperre hatte Gonnet mit einer Unterschrift ihres Chefs gelöst, die Akte lag nun vor ihnen, daneben der wesentlich bescheidenere Polizeihefter. Und es schien offensichtlich – mit den Unterlagen stimmte etwas nicht. Die eigentliche Frage blieb unbeantwortet: Wie kam es, dass Baumanns Drogengeldverfahren in den USA zu einem politischen Delikt in der Schweiz erklärt wurde? Was war der Grund, und was geschah in den Jahren danach? Die Unterlagen lieferten keine Antworten. Denn dazu hätten sie vollständig sein müssen.

Moser hatte sich durch den nächsten Schwung Papiere gelesen und legte sie nachdenklich ab. »Ich verstehe nicht, was 1996 wirklich untersucht wurde. Die Papiere ergeben keinen Sinn.«

Danielle Gonnet stand an ihren Schreibtisch angelehnt, nippte schweigend an ihrem Kaffee und band ihr feines rötlich blondes Haar zu einem frischen Dutt. Verärgert schnippte sie den leeren Kaffeebecher in den Abfallkorb. »Nein, das tun sie nicht. Auch wenn ich das im Namen meiner Behörde vielleicht nicht sagen sollte – ein weiterer Punkt, den ich nicht verstehe.«

Moser konnte sich ein kurzes Schmunzeln nicht verkneifen. »Bleibt unter uns … Bloß, was wissen wir denn mit Sicherheit? Von Walter Baumann gibt es eine Aufnahme, die ihn bei einem Treffen mit einigen von Matteo Messina Denaros Leuten zeigt. Das war vor etwa eineinhalb Jahren.« Moser schob das Bild zu Gonnet, die sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. »Diese Aufnahme hat Keller von einem Informanten erhalten, zusammen mit anderen Unterlagen über Banktransaktionen und dergleichen. Das war vor einem Jahr. Dass es sich dabei um Baumann handelt, wissen wir allerdings erst seit wenigen Wochen, seit der Interpol-Meldung der Niederländer. Übrigens wurde der Informant, ein Franziskanermönch, noch am selben Tag erschossen. In Palermo, mitten auf der Straße. David war dabei.«

Die Staatsanwältin schaute betroffen zu Keller. »Mon Dieu! Hat man die Täter gefunden?«

Keller schüttelte den Kopf. »Man kann es sich an einer Hand ausrechnen, wer den Auftrag erteilt hat. Was bisher fehlt, sind Aussagen, Beweise.«

»Immerhin schließe ich daraus, dass wir bereits über die richtigen Kontakte bei den italienischen Behörden verfügen. Das wäre hilfreich.«

»Wir arbeiten mit der DIA Palermo zusammen. Das ist das geringste der Probleme«, meinte Keller. »Was uns viel mehr Sorgen bereiten muss: Die Röthlisberger-Gehrig–Ermittlung zeigt eine direkte Verbindung auf zwischen Baumann und der sizilianischen Mafia. Nun müssen wir feststellen, dass Ihre Baumann-Akte nicht vollständig ist, Teile davon wurden entfernt. Eigentlich … na ja, fast undenkbar. Kann es trotzdem sein?« Die Frage ging von Keller an die Staatsanwältin.

Gonnet wirkte, als hätte Keller ausgesprochen, was sie als Staatsanwältin nicht konnte. Sie schwieg und sah aus dem Fenster, wo sich der Himmel verdüstert hatte. Ihre helle sommersprossige Haut mutete jetzt noch etwas blasser an.

»Ich will es mal so formulieren: Es sollte nicht sein, natürlich nicht. Ich werde mich nochmals mit dem Bundesanwalt besprechen. Die Sache schmeckt mir nicht. Ganz und gar nicht.« Gonnet erhob sich. »Arbeiten wir erst mal mit dem weiter, was wir haben. Ich habe bei den Kollegen von Eurojust Den Haag nachgefragt: Die drei Tonnen von Antwerpen sind anscheinend der größte Kokainfund, den es jemals in Europa gegeben hat. Allemal Grund genug, ein Verfahren gegen Baumann zu eröffnen, auch wenn die Informationslage in Den Haag nicht viel besser zu sein scheint als hier – Baumann, das Phantom. Dann noch ein Internum: Die Interpol-Meldung blieb zwei Monate liegen.« Gonnets strafender Blick ging zu Moser. »Wie konnte das passieren?«

Moser hatte mit einer Schelte gerechnet. »Ja, das hätte nicht passieren dürfen. Unsere Kräfte sind bei den Al-Kaida-Ermittlungen gebunden, ein Ergebnis der aktuellen Amtspolitik, Danielle. Sie sollten es bei der nächsten Sitzung mit unserem Amtschef vorbringen. Würde uns allen helfen.«

»Ich überlege es mir. Machen wir uns an die Arbeit. Als Erstes stelle ich Ihnen den Überwachungsbeschluss aus. Ich will wissen, ob uns Baumanns Anschluss weiterbringt. Das wär’s. Noch Fragen?«

Moser hob die Hand. »Im Moment nur eine: Der Beschluss liegt vor?«

»Geben Sie mir fünf Minuten.«

Über das Treppenhaus gelangten sie zum Eingang eines unterirdischen Verbindungstunnels. Mit ihren Ausweiskarten öffneten sie die Sicherheitsschleusen und glitten anschließend auf einer steilen, endlos scheinenden Rolltreppe von der Berner Taubenhalde hinunter zu ihrem Bürogebäude am Flussufer. Die röhrenförmige Konstruktion aus Zeiten des Kalten Krieges wirkte wie die futuristische Kulisse von Raumschiff Enterprise . Der Architekt musste ein Liebhaber der Serie gewesen sein.

Im übertragenen Sinn konnte man den Verbindungstunnel zwischen Bundesanwaltschaft und Polizei auch als Geburtskanal bezeichnen. Und wie bei ihrem biologischen Gegenstück erblickten an dessen Ausgang gesunde und weniger gesunde Schöpfungen das Tageslicht. Im Moment trug die Baumann-Akte alle Anzeichen einer Geburt mit defektem Erbgut.

Als sie am Fuß der Rolltreppe ins Freie traten, drückte Moser Keller die Beschlüsse der Staatsanwaltschaft in die Hand.

»Ab morgen läuft die Baumann- . Ich besorge uns noch zwei Leute für den Abhörraum. Und ein Observationsteam.«

»Wollen wir wetten?«

»Wetten auf was?«

»Dass wir auf die Schnelle kein Obs-Team bekommen.«

»Lass das mein Problem sein, David. Kümmere du dich darum, alles über diesen Baumann in Erfahrung zu bringen. Red mal direkt mit Holland und Italien. Und dann mach den Rest über Europol.«

Keller nickte geflissentlich. »Bereits notiert.« Aber Keller ging etwas anderes durch den Kopf. Er blätterte die Seiten seines Notizblocks durch. »Mir ist da etwas aufgefallen. In der Akte der Bundesanwaltschaft steht der Name Marc Hug, Baumanns Strafverteidiger in der Schweiz.«

Im Ergebnis gab die Akte Walter Baumann mehr Rätsel auf als Antworten: Zweifelsfrei belegt war einzig, dass Walter Baumann achtzehn Monate einer Reststrafe von fünfundsiebzig Monaten in der St. Galler Strafvollzugsanstalt Saxerriet abgesessen hatte. Kassiert hatte Baumann das Urteil in den USA wegen Geldwäsche.

Das war vor sieben Jahren.

Dass die Akte aber kaum Informationen über das Strafverfahren in den USA enthielt, war den beiden Ermittlern und der Staatsanwältin mehr als suspekt erschienen. Was hatte die US -Behörden auf die Spur von Baumann gebracht, welche Beweise hatten zum Urteil geführt? Und wieso wurde er danach in die Schweiz abgeschoben?

Ein vollständiges Dossier hätte diese Fragen beantwortet. Dass in einer Akte einzelne Schriftstücke fehlten, aus Unachtsamkeit, so was kam schon mal vor. Dass aber ganze Verfahrensteile fehlten, hatten weder Moser noch Keller noch Gonnet je erlebt. Ein Fehler? Kaum. Es konnte nur Absicht sein.

Und einer, der eigentlich mehr dazu wissen müsste, war Baumanns Rechtsbeistand.

»Und?«

»Wieso ihm nicht einmal einen Besuch abstatten?«

»Im Ernst? Über mehr als das Wetter wird er kaum reden wollen.« Moser wirkte wenig überzeugt von der Idee. »Nein. Er wird sich auf das Anwaltsgeheimnis berufen.«

Mosers Einwand war natürlich berechtigt. Grundsätzlich.

»Schon klar – unter normalen Umständen. Wir sind uns einig, normal ist in dieser Sache wenig bis gar nichts. Da müssen Sachen gelaufen sein, die nicht dem … üblichen Vorgehen entsprechen, um es mal ganz vorsichtig auszudrücken. Und Baumanns Anwalt muss davon gewusst haben. Anwälte haben Auflagen und Pflichten nicht nur gegenüber ihren Mandanten, sondern auch gegenüber der Justiz. Der Punkt ist: Könnte es im Interesse Hugs sein, mit uns zu reden?«

Moser haderte. Das Gefährliche an der Baumann-Akte waren ihre Lücken. Sie mussten sie schließen. Und solange sie das nicht konnten, glich ihre Arbeit einer Tauchfahrt ohne Sonar. Und Moser hatte wenig Lust auf Feindkollision auf offener See. »Etwas viel Spekulation, David, findest du nicht?«

»Ich weiß. Hast du einen besseren Vorschlag?«

»Hab ich. Noch wichtiger scheint mir, dass du bei dieser Julie Banks nachfragst. Schließlich ist sie die offizielle Ansprechperson beim FBI . Würde mich nicht wundern, wenn die da was über Baumann wissen.«

Das Verfahren war eröffnet, der Auftrag war erteilt. Für Keller als Sachbearbeiter des Falles waren es erst mal wenig aufregende Tage. Es galt, sich in die Akten einzulesen – so sie denn überhaupt vorhanden waren: Der Stapel an Rückmeldungen auf seinem Schreibtisch wollte nur langsam wachsen. Andererseits störte ihn die Hektik in den Büros der Kollegen, die sich um Al Kaida zu kümmern hatten. Und da er damit bis auf Weiteres nichts mehr zu tun hatte, war die Gelegenheit gekommen, sich möglichst unsichtbar zu machen. So verlagerte sich sein Arbeitsplatz nach und nach in ihre Wohnung – zum hörbaren Ärger von Julie.

»Natürlich mach ich das. Ich kläre Baumann in Washington ab. Ganz offiziell.«

Keller gab ihr einen dicken Kuss. »Ich bin wirklich froh um jede Information.«

»Wenn du mir versprichst, nicht noch mehr Arbeit nach Hause zu schleppen.«

Keller deutete missmutig auf die Hefter, die über den Wohnzimmertisch verteilt herumlagen. »Kann ich dir versprechen. Viel mehr als das wird es nicht. Und es kotzt mich ehrlich gesagt langsam an.«

Von Zeit zu Zeit ging er von seinem Büro aus zwei Stockwerke tiefer in den gesicherten Bereich jener Kollegen, die Walter Baumanns Mobiltelefon überwachten. Aber Keller bekam nur ein Kopfschütteln als Antwort. Baumanns Telefon blieb stumm. Keine Anrufe, keine SMS . Sie überwachten den Anschluss eines Kriminellen, der sehr genau wusste, dass man ihm auf der Spur war. Und deshalb war Keller weder überrascht noch wirklich enttäuscht. Sie mussten geduldig bleiben.

Schließlich war es so, wie Gonnet es angedeutet hatte: kaum eine Behörde, die überhaupt einen Vorgang zu Baumann melden konnte. Ein verlorener Reisepass hier, eine verdächtige Geldtransaktion da, und eine unvollständige Akte über einen mysteriösen Koffer angeblicher Drogengelder in Miami, Florida.

Baumanns Aufstieg zu einem Topshot der Drogenmafia, so wie es der Antwerpener Kokainfund vermuten ließ, blieb ein Rätsel.

Das änderte sich schlagartig mit dem Tag, an dem eine Kuriersendung aus Rom auf Kellers Schreibtisch lag. Absender war Andrea Montis oberste Dienststelle, die Direzione Nazionale Antimafia. Nun endlich bekam Keller eine Vorstellung davon, wer Walter Baumann war.

Oder zumindest war es das, was er glaubte.

Das Aktenkonvolut beschrieb eine der dunkelsten Stunden aus Italiens Bankenwelt, in dem Walter Baumann allerdings nur als Randfigur auftauchte und dessen Rolle bis zum heutigen Tag niemanden wirklich zu interessieren schien. Aus den DNA -Unterlagen ging ebenfalls hervor, dass Walter Baumanns Karriere in den dunkleren Bereichen der Hochfinanz bereits vor über zwanzig Jahren begonnen hatte: Im Laufe des Jahres 1984 war eine kleine Mailänder Privatbank in Schieflage geraten, was im Grunde erst mal keinen interessierte, bis auf diejenigen, die um die wahren Geschäfte des Bankhauses wussten.

Nach Auffassung der Mailänder Staatsanwaltschaft war die Banca Rasini hingegen nichts anderes als die Waschmaschine par excellence der Cosa Nostra. Nach jahrelangen Ermittlungen schlugen die Behörden am Valentinstag des Jahres 1983 zu. Die Operation »San Valentino« bedeutete Endstation für einige der einflussreichsten Capi der Cosa Nostra, und enorme Summen Bankkapitals wurden beschlagnahmt, weshalb die Rasini an den Rand des Bankrotts geraten war.

Um ihr Geschäft und den Rest ihres Rufes zu retten, hatte der Verwaltungsrat der Bank auf Vorschlag zweier Mailänder Anwälte, Roberto Rossi und Michele Bianchi, einem Schweizer Finanzberater und früherem Bankmanager das Mandat eines außerordentlichen Verwalters erteilt, damit der die Bilanzen des Geldhauses wieder in Ordnung bringe.

Der Name des Verwalters: Walter Baumann.

Der Schweizer Nothelfer hatte es dann erstaunlich schnell geschafft, neues Kapital aufzutreiben und die Löcher, welche die beschlagnahmten Mafiagelder in die Bilanzen gerissen hatten, in Rekordzeit zu stopfen.

Und wie aus dem Nichts stand auch schon ein Käufer vor der Tür: die Unternehmerfamilie Rovelli, deren herausragendste Leistung es bisher war, über ihr Chemieunternehmen SIR Rumianca die größte Firmenpleite der italienischen Nachkriegsgeschichte verantwortet zu haben, Korruptionsskandal inklusive.

Die Frage, mit welchem Geld der Kauf der Rasini zustande gekommen war – sie kümmerte keinen der Beteiligten. Eine Haltung, die auch die italienische Bankenaufsicht teilte, nicht aber die Mailänder Staatsanwaltschaft. Doch deren Fragen wollte bei den politischen Verantwortlichen in Rom offenbar keiner hören.

»Die Rasini? Complimenti! Eindrücklicher Lebenslauf, den unser Walter da zeigt.« Die Skandalbank und die Mailänder Operation San Valentino waren also auch Andrea Monti ein Begriff, wie so ziemlich jedem Kriminalbeamten Italiens.

»Eben. Und Baumann schafft es sogar, die Bank zu retten. Nur – mit welchem Geld? Ich kann mir nicht vorstellen, dass da alles sauber abgelaufen ist.«

Einmal mehr saß Keller zu Hause am Wohnzimmertisch. Die letzten Tage und Nächte hatte er wenig geschlafen, zu elektrisierend waren die Informationen aus Italien. Den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt, blätterte er durch seine lange Liste an Notizen. »Knapp zehn Jahre später wird er in den USA wegen Geldwäsche verurteilt, sitzt interessanterweise aber nur einen kleinen Teil seiner Strafe ab, und das auch noch in der Schweiz. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt kommt sein Stammpilot Röthlisberger um, wahrscheinlich – ach was, mit Sicherheit durch die Mafia. Weil er von Baumanns Machenschaften wusste und sich einem von uns anvertraut hat, der sein Scheißleben nicht im Griff hatte!« Keller hatte den letzten Satz mit scharfer Bitterkeit in den Hörer gezischt.

Am anderen Ende blieb es für einen Moment still. »Wie gehts dir damit? Ich meine, wegen Gehrig …«

Wie ging es ihm damit? Die gleiche Frage hatte ihm schon die Amtspsychologin gestellt, und absolut jeder, den er in den letzten Wochen gesprochen hatte. Und wieso sollte es ihm nicht gut gehen? Er hatte schließlich überlebt. Aber er hatte schnell gemerkt, dass es so einfach nicht war.

Dass ein Kollege so sehr in seinem Leben abschmieren konnte, bis er in die Fänge der Mafia geraten war und am Ende alles verloren und dabei andere, wie Peter Röthlisberger, mit in den Abgrund gerissen hatte – das war Gehrigs eigenes Versagen. Sosehr er Gehrig als Kollege verabscheute und sich über sein eigenes Überleben freute – er fühlte sich trotzdem elend. Weil er wusste, dass er das ganze Drama hätte verhindern können – wenn er Gehrigs Waffe an sich genommen hätte, als er noch die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Die Pistole hatte an der Garderobe gehangen. Er hätte einfach nur hingehen müssen. Tausendmal schon war er die Situation durchgegangen, wieder und wieder.

»Wird schon. Ich hab hier einen Berg Akten, das hält mich beschäftigt.«

»Ja, das kenn ich.«

Keller spürte, Monti wusste genau, wovon er sprach, und das tat gut.

»Weswegen ich überhaupt anrufe: Gibt es auf eurer Seite Bewegung? Die Sache in Zürich müsste U siccu doch etwas Sorgen machen, wenn sein Cousin Pino mit drinhängt.«

»Wir sind dran, David. Wir hören ständig mit. Sie reden viel, aber sagen nichts. Du weißt, was ich meine.«

Keller seufzte. »Schon klar. Ich dachte nur, dass … Ach, verdammt, ich hoffe einfach nur, dass irgendwer Baumann erwähnt und uns einen Schritt weiterbringt. Der ist schließlich der Auslöser für den ganzen Wirbel, da muss doch irgendwann mal sein Name fallen!«

Keller war sich bewusst, dass hinter seinem frommen Wunsch schlicht nagende Ungeduld steckte; er fühlte sich dünnhäutig und gereizt, im Moment zerrte jede Kleinigkeit an seinen Nerven. Das spürte auch Monti.

»Du weißt, dass es nicht so einfach läuft. Den Gefallen tun sie uns nicht. Nur Geduld, David. Ich halt dich auf dem Laufenden.«

»Gut. Ich werd’ bei Baumanns Anwalt wegen dieser Sache in Miami anklopfen. Mal sehen, ob er uns etwas zu sagen hat. Ich will verdammt noch mal wissen, wie das alles zusammenpasst.«

»Wie meistens, David – nichts geschieht aus Zufall. Und gib mir mal das Aktenzeichen der DNA . Besser, ich besorge mir eine Kopie.«

Nach dem Gespräch starrte Keller stumm auf die Akten vor sich. Geduld, ja, die brauchte er jetzt. Aber die aufzubringen war ihm noch nie so schwergefallen.