Miami, 1996
Rose’s Bar an der Washington Avenue also. Nicht das Cameo, das Amnesia oder das Les Bains. Nein, Baumanns bevorzugtes Nachtlokal an der Miami South Beach war die unspektakuläre Rose’s Bar.
DEA Special Agent Martha Lopez war fast ein bisschen enttäuscht, vom Geldstrategen eines mexikanischen Drogenkartells hatte sie eigentlich mehr Extravaganz erwartet: Luxus, Frauen, Party, Drogen.
In den vergangenen Monaten hatten sie Walter Baumann gut kennengelernt. Sie hatten ihn observiert, und vor allem hatten sie es geschafft, sein stattliches Anwesen im nördlich gelegenen West Palm Beach zu verwanzen. Die Profiler der DEA konnten das Persönlichkeitsbild eines kriminellen Geschäftsmannes zeichnen, bei dem der finanzielle Erfolg an erster Stelle stand. Die Rolle des ehrgeizigen, aber diskreten Finanzgenies war sein Spielfeld. Und dort, so gab er seinen Kunden zu verstehen, war er der Beste seines Fachs. Einen moralischen Kompass schien Walter Baumann nicht zu besitzen.
Es durfte auch einmal eine Party in einem der exklusiven VIP -Clubs der Celebrities aus Mode, Musik und Film sein. Wie beispielsweise jene, zu welcher Popstar Gloria Estefan ins Les Bains geladen hatte und bei der Baumann zur Überraschung seiner Beschatter auch tatsächlich auftauchte. Solche Eskapaden blieben jedoch die Ausnahme. Baumann wirkte hinter den Kulissen. Ganz in der Tradition eines Schweizer Bankers.
Ansprechend im Aussehen und eloquent im Auftreten, fanden die Frauen sehr wohl Gefallen an dem vermögenden Europäer aus der Finanzwelt. Wie auch er an ihnen. Aber möglicherweise lag es daran, dass Baumann – zumindest auf dem Papier – noch verheiratet war. Denn den Profilern schien unzweideutig, dass Baumann unnötige Risiken, die seine wichtigste Mission gefährden konnten, prinzipiell vermied.
Baumann war also alles andere als leichtsinnig. Und das galt auch für seine Geschäftspartner.
Was die DEA aus Baumanns abgehörten Gesprächen und der Raumüberwachung erfuhr, reichte nicht für eine Festnahme. Es wurden keine Namen genannt, es wurde nicht über Drogen oder Geldwäsche gesprochen. Keine Chance, damit eine Jury von einer Anklage zu überzeugen.
Was sie erfuhren: Baumann war leidenschaftlicher Billardspieler. Und einer der Gründe, wieso Baumann regelmäßig Rose’s Bar besuchte.
Lopez hatte sich an die Bar gesetzt und einen Drink bestellt. Baumann stand im hinteren Teil des Lokals und unterhielt sich mit Jacques, dem Manager des Lokals. Mike, einer der neuen Mitarbeiter, sprach Jacques an, der kurz darauf Richtung Eingang verschwand.
Lopez schlenderte zu Baumanns Pooltisch.
»Jacques hat Sie sitzen lassen? Wollen Sie die Wartezeit mit einer kleinen Partie überbrücken?«
Baumann betrachtete Lopez mit leicht arrogantem Blick. »Wenn es nicht ihr erstes Mal ist?«
»Ist es nicht, keine Sorge.«
Baumann taxierte sie für einen Moment und wies einladend zum Pooltisch.
»Dann mal los. Sie haben den Anstoß.«
Lopez legte sich die weiße Kugel zurecht und stieß an. Die ersten beiden Spiele gingen noch knapp an Baumann, die folgenden drei an Lopez.
Auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte – entspannter Umgang mit Niederlagen war nicht seins. Er konnte sich nicht erinnern, je einmal eine Partie gegen eine Frau verloren zu haben.
Lopez schaute entschuldigend auf die Uhr. »Ich sollte nun langsam nach Hause. Aber danke für das Spiel. Sind Sie öfters hier?«
»Wenn ich in Miami bin, ja. Und Sie?«
»Hin und wieder. Sie sind … Brite?«
Nur für einen Bruchteil eines Augenblicks sah Baumann Lopez erstaunt an, schien sich dann insgeheim aber viel eher über seine funktionierende Tarnung zu freuen. »Ahm, genau. Ich bin John. John Howard.«
Lopez schenkte Baumann einen dezent verführerischen Blick und reichte ihm ihre Hand. »John, freut mich. Cynthia Brown.«
»Ganz meinerseits. Sie sind aus der Gegend? Nun … wie wäre es mit einer Revanche? Morgen Abend vielleicht?«
»Ich lebe in Miami, ja. Morgen Abend geht leider nicht. Termine. Übermorgen?«
»Dann übermorgen. Ich bin meistens ab neun Uhr hier.«
»Abgemacht. Dann bis übermorgen.«
Lopez nahm ihre kleine Handtasche, lächelte und ging betont langsam Richtung Ausgang. Sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen, um festzustellen, ob Baumann ihr nachsah. Sie war Profi genug, es zu unterlassen – und Frau genug, sich dessen sicher zu sein.
Es war fast zum Lachen, dass die Nummer so gut wie immer funktionierte: Der Reiz einer Frau konnte selbst so vorsichtige und kontrollierte Männer wie Baumann aus der Reserve locken. Genau deswegen hatten sie sein Privatleben so intensiv durchleuchtet; doch letztlich kam es auf die persönliche Begegnung an – und auf Baumanns Selbstbewusstsein in Bezug auf Frauen, das im Wesentlichen durch Geld unterfüttert wurde. Das Wissen darum gab ihr den entscheidenden Vorteil. Dazu kamen ihre Qualitäten als Poolspielerin, ihr umwerfendes Aussehen und eine erstklassige Figur, die in erster Linie ihrer Leidenschaft für das Boxen geschuldet war.
Beim Hinausgehen sah Lopez zu Mike an der Bar und nickte unmerklich mit dem Kopf. Der Anstoß war gemacht.
Zwei Tage und fünf Spiele später saßen sie beide in einer ruhigen Ecke von Rose’s Bar. Baumanns Laune war nun besser. Die Revanche hatte er gewonnen. Dass seine Spielpartnerin hin und wieder eine Kugel haarscharf danebensetzte, sobald sie drohte zu gewinnen, Baumann hatte es nicht bemerkt.
Denn diese Cynthia hatte sein Interesse geweckt. Seine Spielpartnerin war nicht nur äußerst attraktiv. Sie war auch Investmentberaterin.
»Ob Sie’s glauben oder nicht, ich bin im gleichen Geschäft. Seit über zwanzig Jahren. Meine Basis ist Zürich. In Miami besitze ich ein Haus. Welche Klientel betreuen Sie?«
Cynthia lachte. »Meine Klientel ist anspruchsvoll. Und diskret.«
»Noch eine Gemeinsamkeit«, erwiderte Baumann. »Sagen wir es so: Ich arbeite in einem Nischenmarkt. Stiftungen und Offshore. Ich betreue eigentlich nur Großkunden. Dementsprechend ist das Bargeldvolumen.«
»Oh, interessant … riskant?«
Sie wurden von Mike dem Barmann unterbrochen, der an ihrem Tisch vorbeischaute. »Na, ihr beiden! Alles bestens bei euch? Noch einen Drink?«
Cynthia antwortete, bevor Baumann etwas sagen konnte. »Danke Mike, sehr aufmerksam. Für mich einen Bluecoat Gin mit Tonic, auf Eis. Und könntest du mir meine Handtasche bringen? Sie liegt an der Garderobe.«
»Sofort, Cynthia. Und was darf’s für den Herrn sein?« Baumann entschied sich für einen Whiskey Soda.
Fünf Minuten später war Mike mit der Bestellung und Cynthias Tasche zurück. Baumanns Begleitung wühlte in ihrer Börse, zog elegant ihre roten Lippen nach und legte Stift und Handtasche in die Mitte des runden Clubtischs.
Sie lehnte sich zurück.
»Sie haben mein Interesse geweckt, Mr. Howard.«
Lopez’ teure Alexander McQueens landeten mit Schwung in der Ecke.
»Verfluchte High Heels! Jetzt sag mir bitte, dass ich nicht für nichts gelitten hab.«
Barkeeper Mike Sorbello, im Hauptberuf Lopez’ Partner bei der DEA , saß am Aufnahmegerät in einer Abstellkammer im hinteren Teil von Rose’s Bar und applaudierte. Er besaß die klassischen, scharf geschnittenen Gesichtszüge der Italo-Amerikaner, und sein dunkles, leicht gelocktes Haar wurde bereits grau an den Schläfen. Sorbello war jetzt vierzig, nach wie vor mit seiner ersten Frau Libby verheiratet und Vater von drei Kindern. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht.
»Jedes Wort auf Band. Good Job! «
Lopez’ Schminkstift war eine kleine Wunderwaffe. Nicht nur hatte er Baumanns Aufmerksamkeit auf Marthas Gesicht mit den verführerischen Lippen gelenkt, er hatte auch jedes Wort des Tête-à-Têtes mitgehört.
»Ich meine, der Kerl ist doch das, was wir schon immer wussten.«
Mike legte den Kopfhörer zur Seite. »Bringt uns aber nur weiter, wenn er auf deinen Vorschlag eingeht. Und die entscheidenden Worte fallen. Und das alles auf Tonband. Liegt also an dir, meine Liebe.«
»Er wird. Ich weiß es.«
»Baumanns Codename ist? Genau: Skorpion. Keine zufällige Wahl. Er wird dich beobachten, er wird dich überprüfen. Und wenn ihm nicht gefällt, was er sieht, wenn er nur den kleinsten Verdacht schöpft, wird er zustechen. Wir haben Monate gebraucht, deine Legende aufzubauen. Wir haben eine Firma aufgesetzt, dir eine neue Identität gegeben. Cynthia Brown existiert. Aber nur, solange er dir glaubt.«
Lopez sah ihn leicht gereizt an. Ihr Abend war schon anstrengend genug gewesen, und Sorbellos logisch-bedächtige Art, die sie sonst an ihm schätzte, ging ihr gerade mächtig auf die Nerven.
»Hey! Ratschläge von dir sind das Letzte, was ich jetzt brauche. Ich weiß, wie so was läuft. Ein paar Treffen noch und ich hab ihn bei den Eiern.«
»Und du liebst es, wenn du sie bei den Eiern hast, stimmts?«
»Halt’s Maul, Mike«, schnauzte Lopez zurück. »Wir sehen uns dann morgen im Büro.« Sie sah auf ihre Uhr. »Was mich betrifft, frühestens vierzehn Uhr.«
Wortlos sammelte sie die verstreut in der Ecke liegenden McQeens ein und schaffte es trotz der schmerzenden Füße, einen tadellos eleganten Abgang hinzulegen. Nichts anderes hätte ihr Stolz zugelassen.
Der weiße, fensterlose Dodge Ram stand schon seit dem frühen Morgen in einer Seitenstraße um die Ecke von Baumanns Anwesen in West Palm Beach. Chief Lundgren und Special Agent Sorbello saßen vor der Monitorwand im Heck des Wagens und verfolgten jede Bewegung und jedes Geräusch. Die Luft war stickig, es roch nach Fast Food und abgestandenem Kaffee, den der Chief mit bedächtigen Bewegungen aus einem Pappbecher nippte.
Chief Lundgren war ein vierschrötiger, hellhäutiger Riese Ende fünfzig mit Bürstenhaarschnitt und langen, kräftigen Armen. In dem breiten, teigig wirkenden Gesicht funkelten stahlblaue Augen, was ihm die Ausstrahlung eines halbwegs gezähmten Wikingers verlieh, Lundgrens Erbe als Nachkomme skandinavischer Einwanderer. Obwohl Lundgren äußerlich ruhig wirkte, konnte Sorbello die gleiche Anspannung bei seinem Chef spüren, die sich auch in ihm breitmachte. Auf diesen Moment kam alles an – wenn Lopez jetzt gute Arbeit leistete, könnte es ihr lang ersehnter Durchbruch sein.
»Eins Komma neun Millionen sagst du?«
»Fürs Erste, ja. Plus zwanzig Prozent Kommission für dich. Das scheint mir fair.«
Baumann lehnte sich auf der Couch zurück, zündete sich eine Zigarre an und nippte am Whiskeyglas.
»Und wieso kommst du damit zu mir, Cynthia? Du kennst noch andere Finanzverwalter. Nehme ich mal an.«
»Nun, ganz einfach …« Lopez sah Baumann direkt in die Augen. »Mein Kunde ist ein mittelgroßes, sagen wir, Familienunternehmen aus Südamerika. Kein Großkunde, wie du sie kennst. Du verstehst? Meine Partner in der Branche verfügen nicht über die Finanznetzwerke, wie du sie hast, mit Ablegern in der Schweiz, Liechtenstein, Panama. Darum sind meine Kunden auch großzügig. Sie geben dir zwanzig Prozent.«
Baumann nahm einen Schluck aus dem Whiskeyglas und blies den Zigarrenrauch gegen die Decke. »Hmm … Familienunternehmen. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll, Cynthia.«
Lopez ging hinüber zu Baumann und stellte sich herausfordernd vor ihn. Er blickte erwartungsvoll durch den Zigarrenrauch zu ihr auf.
Bei den letzten Treffen hatte sie ihre Reize sehr bewusst zum Einsatz gebracht, und jedes Mal ein bisschen mehr. Sie war sich absolut sicher, dass sich der vor Selbstbewusstsein strotzende Banker mehr von ihr versprach als nur ein gutes Geschäft. Also hatte sie mit jeder Begegnung sein Begehren etwas mehr angefüttert. Den letzten Schritt hatte sie allerdings nicht gemacht, und Lopez war sich auch nicht sicher, ob sie dazu auch bereit wäre.
Langsam setzte sie sich auf Baumanns Schoß. Seine Hände wanderten wie selbstverständlich über ihren nackten Rücken und suchten nach dem BH -Verschluss. Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass es keinen gab, weil Cynthia nichts unter ihrem Kleid trug.
»Damit wir uns richtig verstehen: Bei einer solchen Kommission … dann ist es schmutziges Geld?«
»So ist es. Na ja, das meiste zumindest.«
»Wie schmutzig?«
»Ziemlich.«
Baumanns Hände wanderten weiter zu Cynthias Schoß.
»Drogen?«
»Drogen.«
Seine Hände fuhren unter Cynthias Kleid, dann zu ihrem Hintern.
Baumann lächelte. »Sorry, Cynthia.«
Im Van starrten sie auf den Monitor. Hatte Baumann soeben sorry gesagt? War das ein Nein?
»Sorry?« Lopez blickte Baumann verwundert an. »Was meinst du mit sorry, John?«
»Ich meine, nicht für zwanzig.«
Baumann hatte die erste Kugel gelocht.
Na gut. Lopez rutschte langsam von Baumann Schoß, richtete ihr Kleid und band ihre offenen Haare zusammen. Dann goss sie sich einen Gin Tonic ein, setzte sich in einen Sessel gegenüber von Baumann und schaute ihr Gegenüber einen Moment schweigend an. Sie schlug dabei ihre Beine aufreizend übereinander.
»Du verlangst also mehr als zwanzig? Nun, mein lieber John. Kein Vorwurf. Aber wir kennen uns noch nicht so lange. Ich glaube nicht, dass meine Kunden das gerne hören. No way.«
No way?? Was zur Hölle …? Chief Lundgren riss sich das Headset vom Kopf und sah fassungslos zu Sorbello. Der DEA -Agent mahnte den Chief mit einem stummen Handzeichen zur Geduld: Abwarten. Lopez bekommt das hin . Hoffentlich.
»Was ist denn dein Anteil, Cynthia? Wenn du mir die Frage gestattest?«
Lopez schaute Baumann ungerührt an. »Fünf. Du siehst, von uns beiden machst du das dicke Geschäft. Ist mir recht. Ich baue mir grade meine Zukunft auf. Ich muss strategisch denken. An Investitionen.«
Baumann stand auf, ging hinaus auf die Terrasse und blickte über den weitläufigen Park mit Kokospalmen und mächtigen Virginia-Eichen.
Die DEA -Agentin sah ihm aufmerksam hinterher; der Schweizer spielte tatsächlich großes Theater vor großer Kulisse.
Unvermittelt drehte er sich um.
»Kommission bei Übergabe?«
Jetzt hab ich dich, du kleiner Wichser , schoss es Lopez durch den Kopf. Gelassen nippte sie an ihrem Drink.
»Wie gesagt. Wir sind bereit. In einer Stunde kann das Geld hier sein. Deine Entscheidung.«
Baumann schien nachzudenken, dann setzte er sich wieder an den Couchtisch. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, es wirkte selbstgefällig.
Der Schweizer hob sein Whiskeyglas. »Na gut, Miss Cynthia Brown. Auf den Deal.«
Lopez stand auf und schmiegte sich eng an Baumann. »Dann entschuldige mich kurz, Mister John Howard«, hauchte sie. »Ich bin gleich zurück.«
Was Baumann nicht sah, war ihr kurzes Augenzwinkern hinter seinem Rücken. Es galt ja auch nicht ihm. Es war an den kleinen schwarzen Knopf, versteckt im Feuermelder an der Decke, gerichtet.
Die taktisch notwendige, aber nervenzehrende Stunde seit Baumanns Zusage war vorbei. Streifenwagen hatten das Quartier weiträumig abgeriegelt. Sorbello reichte den Geldkoffer an Lundgren.
»Auf gehts, Chief, schnappen wir uns den Kerl!« Nur allzu gerne hätte Sorbello den Einsatz selbst gemacht. Aber seit seinem Auftritt als Barmann in Rose’s Bar war er für den Schlussakt ihrer Operation verbrannt.
Lundgren straffte den Rücken, schlug in Sorbellos Hand ein und schlüpfte aus dem Van. Zu Baumanns Anwesen war es nur eine Gehminute. Die linke Hand in der Hosentasche und in der rechten den Geldkoffer, ging er über die Straße. Seine Handflächen schwitzten, krampfhaft umklammerten die Finger den Ledergriff des Koffers.
Seit drei Jahren waren sie hinter Baumann her, mit Dutzenden von Ermittlern. Tausende Arbeitsstunden lagen hinter ihnen.
Lopez hatte ihren Teil erledigt, jetzt lag es nur noch an ihm. Danach ging es zurück ins Büro, mit Korkenknallen und Applaus, mit der versprochenen Beförderung, auf die er nun schon so lange wartete.
Oder mit bleiernem Schweigen.
»Señor Winter? Sie werden bereits auf der Terrasse erwartet.« Chief Lundgren trat über die Schwelle und folgte der mexikanischen Haushälterin durch das weitläufige Anwesen.
Lopez erhob sich aus ihrem Korbsessel.
»Alfred! Schön, dass es geklappt hat. John, darf ich vorstellen, Alfred Winter. Alfred, John Howard.«
Die beiden Herren schüttelten sich die Hände.
»Sehr erfreut. Meine Kunden sind sehr glücklich, dass sie auf Sie zählen können, John.«
»Ganz meinerseits. Bitte setzen Sie sich. Mit Cynthia haben Sie eine sehr talentierte Vermittlerin zur Hand. Ich denke, wir werden Ihre Mandanten nicht enttäuschen.«
»Davon sind wir überzeugt. Über Cynthia kennen wir Ihre Referenzen. Sie sind ausgezeichnet.«
»Vielleicht einen Whiskey, Alfred?« Baumann deutete auf eine Flasche edlen Balvenie auf dem Barwagen.
»Danke, sehr freundlich von Ihnen. Ich habe noch einen langen Arbeitstag vor mir. Aber ein Glas Wasser wäre nett.«
Der enthaltsame Gast wuchtete den schweren Koffer auf den Tisch in der Mitte der Sitzgruppe.
»Wollen Sie sich kurz überzeugen? Es ist beides da, Ihre Kommission und das Geld für die Schweiz. Zuoberst Ihr Anteil, vierhundertachtzigtausend Dollar. Darunter die restlichen eins Komma neun Millionen. Apropos Schweiz, wie kommt das Geld in die Schweiz? Wenn Sie die Frage gestatten.«
Baumann blätterte die obersten Geldscheine durch, klappte den Deckel wieder zu und lächelte. »Keine Blüten. Was ich auch nicht erwartet hätte. Zu Ihrer Frage: Privatjet mit einer zuverlässigen Crew. Absolut diskret.«
»Ausgezeichnet.« Lundgren nickte zufrieden und schob den Koffer über den Tisch zu Baumann. »Dann sind wir uns einig?«
Baumann streckte die Hand aus. »Sind wir.«
Lundgren schlug ein. »Dann ist es nun Ihr Baby. Passen Sie gut darauf auf.«
Baumann zwinkerte zurück und hievte das schwere Gepäck neben sich auf den Boden. »Sie werden zufrieden sein, Alfred. Schweizer Qualität, Schweizer Diskretion.«
Lundgren schenkte Baumann das denkbar ergebenste Lächeln und nickte zu Lopez.
»Cynthia Brown ist unsere Vertrauensperson. Sie wird die weiteren Formalitäten mit Ihnen regeln.«
Lopez hatte sich unauffällig in Baumanns Rücken postiert. »Der Ordnung halber sollten wir einen Punkt vielleicht gleich jetzt klären.«
Entspannt drehte sich Baumann zu der Stimme hinter ihm um.
Der Lauf von Lopez’ Revolver zielte direkt auf seine Stirn. Lopez’ Stimme war ruhig.
»Keine Bewegung. Und nun langsam die Hände über den Kopf.«
Baumann glotzte ungläubig in die Mündung der Waffe. Der hässliche Revolver wollte so überhaupt nicht zum eleganten Äußeren von Cynthia passen. Lopez neigte ihren Kopf leicht zur Seite.
»Mr. Baumann? Habe ich mich vielleicht nicht klar genug ausgedrückt?«
Baumann bewegte seinen Mund, aber es war kein Ton zu hören.
»Sie wollten etwas sagen? Reden Sie, nur zu. Das müssen Sie früher oder später so oder so.«
Baumann schielte in Richtung des Besuchers mit dem Geldkoffer. Wenn er sich Hilfe von dem Mann erhofft hatte, der ihm eben noch zwei Millionen Dollar übergeben hatte, musste er feststellen, dass seine Lage ziemlich beschissen war. Auch der Geldbote hatte eine Waffe auf ihn gerichtet. Um seinen Hals baumelte eine Dienstmarke.
»Machen Sie schon, Baumann! Hände über den Kopf!«, blaffte der Koffermann in seine Richtung. »Sind Sie Walter Baumann, Schweizer Staatsbürger, alias John Howard, britischer Staatsbürger? Und weiß der Teufel, wer Sie sonst noch sind …«
Wenn er die Dienstmarke richtig erkannt hatte, war er in eine Falle der DEA getappt.
Jenseits der Terrasse bemerkte er, wie schwarz vermummte, bewaffnete Einsatzkräfte des Miami Police SWAT -Team zwischen Palmen und Virginia-Eichen über den gepflegten Rasen vorrückten.
Das Anwesen war umzingelt, es war vorbei.
Sein Haupt zwischen die Schultern gezogen, hob Baumann langsam die Hände. »Okay … Okay! Ich habe verstanden. Aber müssen Sie unbedingt auf meinen Kopf zielen?«
Lundgren und Lopez ließen ihre Waffen sinken, wenn auch nur um ein paar Zentimeter.
Für einen kurzen Augenblick huschte ein seltsam entspanntes Lächeln über Baumanns Gesicht.
»Danke. Und ja, mein Name … mein richtiger Name ist Walter Baumann.«
»Na schön, Walter Baumann. Hätten wir das geklärt. Ich bin Special Agent Martha Lopez. Und das ist mein Boss, Chief Lundgren. Bundesdrogenbehörde der Vereinigten Staaten. Sie sind festgenommen. Sie haben das Recht zu schweigen, Sie haben das Recht auf einen Anwalt.« Lopez wandte sich an den Einsatzleiter des SWAT -Teams. »Danke, Miguel. Die Haushälterin ist okay? Keine weiteren Personen im Haus? Gut. Durchsuchen Sie den Gentleman hier. Dann Handschellen an, und raus mit ihm.«
Als sie ihn abführten, blieb Walter Baumann kurz stehen und warf einen betrübten Blick zurück in den weitläufigen Wohnraum; wie ein Tourist, der nach einem endlos scheinenden, traumhaft schönen Urlaub wieder in die Realität zurückkehren muss.
Die hinterste Sitzreihe war für sie reserviert. Baumann saß in der Mitte, Lopez rechts und ein stämmiger Agent des Federal Air Marshal Service links neben ihm.
Es musste um 1980 gewesen sein, als Baumann zuletzt Economy geflogen war. Das war nach Abschluss seines Studiums in Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich, bei einer Urlaubsreise nach Gran Canaria. Baumann wusste bereits damals, dass er in Zukunft First Class reisen würde. Oder eben im Privatjet.
Nun reiste er zum zweiten Mal in seinem Leben in der Economy, sieben Stunden über den Atlantik, von Florida nach Zürich. Aber für diese Reise hätte er selbst im Frachtraum Platz genommen.
Nach der Landung in Zürich verließen die Passagiere das Flugzeug über die vordere Gangway. Baumann, Lopez und der Air Marshal blieben auf ihren Plätzen sitzen und warteten, bis Schweizer Justizbeamte die Kabine betraten. Die Formalitäten dauerten nur wenige Minuten. Baumann wurden Handschellen angelegt. Dann wurde er zum bereitstehenden Gefangenentransporter geführt, der ihn zu seinem vorübergehenden Zuhause in die Strafvollzugsanstalt Saxerriet fuhr.
Er kannte das Dorf im Osten der Schweiz. Auf dem Weg zu Geschäftsterminen in Vaduz war er oft an dem weitläufigen Gelände der Strafanstalt mit Gefängnistrakt, Viehstallungen und Ackerland entlanggefahren. Liechtenstein lag nur wenige Kilometer weiter Richtung Süden, auf der anderen Seite des Rheins.
Nun kehrte er als Sträfling nach Saxerriet zurück.
Baumann konnte trotzdem zufrieden sein. Nach achtzehn Monaten Reststrafe in einer Vollzugsanstalt in der Schweiz würde man ihn vorzeitig entlassen. So stand es in einem geheimen Urteilszusatz, zuvor vereinbart zwischen den US -amerikanischen und Schweizer Justizbehörden.
Lopez und Baumann hatten bei der Übergabe kein unnötiges Wort gewechselt, dafür war in den Wochen zuvor ausreichend Zeit gewesen.
Als die Amerikaner verstanden, dass Baumann für sie draußen mehr wert war als drinnen, musste er der DEA und dem District Attorney’s Office klarmachen, dass der Plan, ihn zurück nach Mexiko zu schicken, nur dann funktionieren würde, wenn er weiterhin über sein Geflecht an Offshore-Gesellschaften, Stiftungen und Bankkonten verfügen konnte. Was sonst hätte er den Kartellen anbieten sollen?
Sie begriffen rasch, weshalb der Prozess vor dem District Court in Miami auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hatte.
Das Gericht hatte auch abzusegnen, was nun folgte: Baumann beriet die DEA , wie und wo sie Gesellschaften gründen musste, damit ihre Ermittler die Geldflüsse seiner Kunden überwachen konnten. Dabei ging es nicht um irgendeinen Kunden. Es ging um das mexikanische Sinaloa-Kartell des Joaquín Archivaldo Guzmán Loera, genannt El Chapo, der Kurze, Boss der mächtigsten Narco-Organisation der Welt.
Am Ende hatte Baumann nicht nur sein Geldwäsche-System zurück – es war noch raffinierter als zuvor.
Die Frage war einzig, ob ihm die Mexikaner nach seiner unerwarteten Auszeit noch vertrauen würden.
Beide, Baumann und die DEA , wussten, sie mussten bald, sehr bald, mit einer guten Geschichte um die Ecke kommen, wieso Baumann für die nächste Zeit nicht erreichbar sein und keine Reisen würde machen können. Denn an Baumanns achtzehn Monate Gefängnis führte kein Weg mehr vorbei.
Nicht, dass die DEA nicht mit allen Mitteln versucht hätte, eine Haftstrafe für Baumann zu vermeiden. Chief Lundgren reiste nach Washington, traf sich mit Vertretern des US -Justizministeriums und später mit dem Richter am District Court in Miami und versuchte, den Juristen darzulegen, warum ihre Topquelle, um glaubwürdig zu bleiben, sich nicht wie ein normaler Bürger in ein Sabbatical verabschieden konnte. Es half nichts. Wohl stimmten die Beamten in Washington einer Undercover-Operation und Straferleichterungen zu. Sie bestanden aber auf einer Gefängnisstrafe.
Die Bezirksrichter stießen ins gleiche Horn. In ihren Augen war es schlicht undenkbar, dem Geldwäscher eines Drogenkartells keine Gefängnisstrafe aufzubrummen. Egal, wie viel Gutes er in Zukunft – angeblich – für die Vereinigten Staaten noch leisten würde.
Es war ein Rückschlag. Aber noch gab sich die DEA nicht geschlagen. Dafür war die Quelle Walter Baumann zu wertvoll. Im Gegensatz zu den Sesselfurzern in der Hauptstadt und am District Court glaubten Chief Lundgren, Sorbello und Lopez an ihre Chance, und die wollten sie nutzen.
»Wie wäre es mit Krebs? Nichts Tödliches, aber er muss ihn operieren lassen. Dann eine Therapie und anschließend Reha. Das dauert dann locker ein Jahr. Und danach nimmt er seine Arbeit wieder auf und macht dort weiter, wo er aufgehört hat.«
Sorbello blickte gespannt in die Gesichter von Lopez und Chief Lundgren.
»Warum nicht gleich auf die Internationale Raumstation? Die Mexikaner werden es verstehen.«
»Ausgezeichneter Beitrag, Lopez.« Chief Lundgren warf Lopez einen ratlosen Blick zu.
»Wenn Sie keine Lust mehr haben, dann sagen Sie es. Ich finde Ihnen schon morgen einen Job im Archiv. Ob Sie es glauben oder nicht: Uns alle kotzen diese bescheuerten Bürokraten in Washington und Miami an. Aber wir ziehen das durch.«
Chief Lundgren sammelte seine Unterlagen ein. »Die Krebsgeschichte gefällt mir, das könnte klappen. Dass uns nicht viel Zeit bleibt, dürfte allen klar sein. Sprecht mit Baumann, schließlich muss er die Geschichte an El Chapo verkaufen. Bereitet ihn darauf vor. Dann macht einen Einsatzplan. Bis Montag liegt er auf meinem Tisch. Fragen?«
»Ja. Heute ist Freitag«, stellte Lopez lakonisch fest.
Der Chief hatte den Raum bereits verlassen, steckte den Kopf aber nochmals durch den Türspalt. »So ist es, Lopez. Im Gegensatz zu Mike oder mir haben Sie aber keine Familie, der Sie erklären müssen, warum Sie auch dieses Wochenende nicht zu Hause sein werden. Oder irre ich mich?«
Lopez’ Stinkefinger hatte der Chief nicht mehr mitbekommen. Aber er hatte ihn sich denken können.
Drei Wochen nach seiner Festnahme schickte Baumann mit seinem Nokia-Handy unter Lopez’ Aufsicht eine kurze Textnachricht an El Chapos Stellvertreter, Ismael »El Mayo« Zambada García:
Melde dich nur, wenn dringend.
Sag es auch den anderen.
Ich ruf dich zurück.
1433.
1433 war ein Codewort. Die Zahl 14 war Baumanns Nummer. Jeder im inneren Zirkel des Kartells hatte seine eigene Kennzahl. Die 33 stand für »Nachricht ist echt«. Hätte er die Nachricht mit 66 anstelle 33 signiert, würde es »Falschmeldung, Falle« bedeuten. Sollte also jemand in die Fänge der Polizei oder rivalisierender Kartelle geraten und gezwungen werden, eine Nachricht abzusetzen, konnte man mit dem Codesystem eine Warnung absetzen, die nur Eingeweihte verstehen würden.
Ismael hatte sich das System ausgedacht, nachdem sie einen Verräter in ihren Reihen enttarnt hatten, den ihnen die Arellano-Felix-Brüder vom Tijuana-Kartell untergeschoben hatten. Zumindest war es das, was El Chapo und Ismael damals glaubten. Der Mann, einer ihrer Fahrer, hatte es bis zuletzt bestritten und um sein Leben gefleht. Bevor sie ihm den Gnadenschuss gaben, schnitten sie ihm beide Ohren sowie die Zunge ab und stachen ihm die Augen aus. So verfuhr El Chapo mit jenen, die seiner Meinung nach zu viel gehört, geredet und gesehen hatten. Anschließend karrten sie die Leiche in den Norden des Landes und warfen sie vor einem Lagerschuppen des Tijuana-Kartells auf die staubige Straße.
Seine Betreuer bei der DEA waren überzeugt, dass die Textnachricht an Ismael Walter Baumanns erster Verrat am Kartell war. Und dass sie damit den ersten Schachzug im Krieg gegen das Sinaloa-Kartell gemacht hatten.
Nichts von alledem traf zu. Dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits verloren hatten, konnten die DEA -Ermittler nicht wissen.