Der junge Leutnant eilte die langen Flure der Zentrale des Nachrichtendienstes der Armee an der Berner Papiermühlestraße entlang, unter dem Arm eine dünne Aktenmappe. Vor dem Büro von Oberst Altmann blieb er stehen, richtete seine Uniform und klopfte an die Türe. Als er auch nach dem zweiten Mal noch keine Antwort bekam, steckte er seinen Kopf durch den Spalt. Der Arbeitsplatz des Oberst war unbesetzt. Er ging zum Büro nebenan und betrat es, diesmal ohne anzuklopfen.
»Wo ist der Oberst?«, wollte er von der Sekretärin wissen.
»Beim Chef. Kann ich etwas ausrichten?«
»Danke. Ich warte.«
Die Sekretärin blickte gleichgültig. »Wie Sie wollen. Kann aber dauern.«
»Ich habe Zeit.«
Der junge Offizier setzte sich auf einen Stuhl, schlug die Beine übereinander und blickte stoisch auf ein Gemälde an der Wand hinter der Sekretärin, ein Faksimile von Konrad Grobs berühmtestem Werk Winkelrieds Tod bei Sempach . Arnold Winkelried, der Mann, der sich, so die Legende, 1386 todesmutig in die Speerspitzen der habsburgischen Ritter geworfen und mit dieser Heldentat der jungen Eidgenossenschaft den Sieg über das Herzogtum Österreich und den Weg in die Freiheit gebracht hatte. Der Leutnant kannte das Gemälde. Es hing auch in anderen Büros des Armeehauptquartiers.
Oberst Altmann tauchte eine halbe Stunde später auf. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er dem jungen Offizier, ihm in das Büro zu folgen.
»Neuigkeiten?«
»So ist es. Informationen aus der Thunstraße.«
»Ah! Und?«
»Baumann und Keller haben gesprochen. Baumann hat zugestimmt. Er will in den USA aussagen.«
Altmann überflog den Bericht. »Die Quelle? Raumüberwachung? Telefon?«
»Beides.«
»Sehr gut. Das war alles?«
»Ja.«
»Gut. Die Akte bleibt hier. Und alle weiteren Nachrichten direkt an mich, verstanden?«
Der Leutnant nickte, salutierte und verließ den Raum. Der Oberst las nochmals die Aktennotiz, lächelte still und rief seine Sekretärin. »Marianne, seien Sie so lieb und verbinden Sie mich mit unserem Kontakt bei der US -Botschaft.«
So unterschiedlich die Menschen sind, die militärische Kommandozentralen betreiben – in ihrer nüchternen, machteinflößenden Architektur und der kühlen Atmosphäre, die sie ausstrahlen, sind sich die Bauwerke wiederum erstaunlich ähnlich. Vermutlich auch deshalb, weil sie letztlich alle der gleichen Aufgabe dienen: in ihnen, wenn gefordert, Kriege zu planen, zu führen und zu gewinnen. Nur dass manche dieser Einrichtungen größer sind als andere. Und einige schlicht gigantisch.
Im Gegensatz zu seinem Schweizer Pendant im beschaulichen Bern war der Weg im CIA -Hauptquartier in Langley, Virginia, ausgesprochen lang. Von der Operationszentrale im Untergeschoss des Nebengebäudes bis zu den Direktorenbüros im sechsten Stock des gläsernen Hauptgebäudes dauerte er gute zwanzig Minuten. Man nahm ihn auf sich, wenn man zitiert wurde. Oder überzeugt war, Wichtiges zu berichten zu haben.
Wie zuvor der junge Schweizer Leutnant, so war sich auch der leitende Analyst der Europaabteilung beim US -Auslandsgeheimdienst sicher, genügend Material von Interesse zusammengetragen zu haben, das einen Ausflug zum Glaspalast rechtfertigte.
John Walsh, ein freundlicher Mittvierziger mit deutlichem Bauchansatz, Glatze und Hornbrille, bestieg den engen Aufzug von seinem Arbeitsplatz im Untergrund und glitt ins Erdgeschoss. Blinzelnd trat er ins Sonnenlicht, umrundete den weitläufigen Innenhof mit Grünfläche und Fischteich, betrat das Atrium im Hauptgebäude und fuhr mit dem ungleich größeren, mit Marmor und dunklem Eichenholz ausgekleideten Aufzug hoch ins letzte Stockwerk. Nach dem Verlassen der Kabine passierte er einen Sicherheitscheck und machte sich auf den Weg den langen, geräumigen Korridor entlang, bis er nach weiteren Minuten sein Ziel erreicht hatte.
Ein paar Augenblicke nur musste er sich bei der Vorzimmerdame gedulden, dann bat ihn der Direktor Operationen Europa, am wuchtigen Schreibtisch des holzgetäfelten Büros Platz zu nehmen.
»John, lange nicht gesehen. Was gibts?«
»Eine Nachricht unserer Station bei der Berner Botschaft.«
Der Direktor hob die Augenbrauen. »Bern, Schweiz?«
»Genau, Sir.«
»Ich hoffe doch sehr, eine gute. Schlechte gab’s schon genug.« Er wedelte mit der Hand. »Los, dann mal her damit.«
John Walsh ignorierte die Bemerkung des Direktors und reichte den Hefter über den Tisch. Der Direktor überflog die Abschrift und rieb sich versonnen die Hände.
»Wenn das stimmt, dann haben unsere Schweizer Freunde die Hosen aber gehörig voll. Was meinen Sie?«
» Das glaube ich auch, Sir. Ich kann es verstehen: Unsere Leute in den Stations sagen, in Bern geht die Angst um, aus dem Spionageprogramm mit der Crypto AG zu fliegen, sollten sie sich weigern.«
Der Direktor nickte und lehnte sich nachdenklich im Drehstuhl zurück. »Hmm.« Nach einem Moment des Überlegens ließ er den Stuhl herumwirbeln, setzte sich aufrecht hin und grinste Walsh über den Schreibtisch an. »Wissen Sie was, John? Das ist gut, sogar richtig gut. Ich glaube, damit können wir endlich unser Problem lösen. Wer führt unseren Operative vor Ort?«
»Das wäre Herb. Herb Wigley.«
»Schicken Sie Wigley zu mir. Jetzt gleich. Ich will das wasserdicht haben.«
»Geht klar, Sir.«
Als Walsh wieder an dem Fischteich im Innenhof vorbeikam, gönnte er sich einen Augenblick, die Tiere darin zu betrachten.
Zwischen einem Pulk Goldfische zog auch ein mächtiger Koi-Karpfen seine Bahn und ließ die kleineren Geschöpfe in alle Richtungen stieben; sie alle kehrten anschließend wieder in seine Nähe zurück, als könnten sie sich nicht darüber einig werden, ob der große Bruder nun gefährlich war oder doch Schutz bot.
Walsh schüttelte etwas ratlos den Kopf und ging weiter. Er hatte noch nie viel für Goldfische übrig gehabt.
***
»Sie wollen Baumann ausschalten? Ist es das, was ihr denkt?«, fragte Keller.
»Davon gehen wir aus«, antwortete Monti. »Nach allem, was wir wissen, hat El Chapo Messina Denaro ein Angebot gemacht, nach dem Motto: ›Hilf uns mit Baumann, dann bleiben wir im Geschäft.‹ Eine Art Amtshilfeersuchen unter Verbrechern.«
Keller und Monti saßen in den Büros der DNA , der Direzione Nazionale Antimafia, Montis oberstem Dienstherr mit Sitz in der malerischen Via Giulia unweit des Campo de’ Fiori in Rom. Die DNA hatte zur Lagebesprechung in Sachen Matteo Messina Denaro und Cosa Nostra geladen. Denn auch zehn Jahre nach seinem Untertauchen war U siccu noch immer flüchtig, aber dennoch der capo dei capi geblieben. Monti und seine Kollegen der Anti-Mafia-Behörde wussten eines mit Sicherheit – wollte sich Messina Denaro an der Spitze der Cosa Nostra halten, musste er auf dem Territorium seines Clans bleiben, in Sizilien. Bloß wo? Es waren altbekannte Fragen, die gleichen wurden schon zu Bernardo Provenzano gestellt, und davor zu Totò Riina, dem Vorvorgänger an der Spitze der Cosa Nostra. Auch sie wurden nach Jahrzehnten der Flucht gefasst, spät, viel zu spät. Provenzano in Corleone selbst, Riina in Palermo.
Sie waren nie weg gewesen.
Es gab aber auch Fortschritte: So hatte Montis Team Informationen gesammelt, wonach ein Killerkommando U siccus einen Mordanschlag auf einen Schweizer Ex-Bankier in Vorbereitung haben sollte. Beim Ziel dürfte es sich um das von Interpol gesuchte Mitglied von El Chapos Kartell handeln, Walter Baumann.
Als die Einladung zum Treffen in Rom kam, hatte Keller mit einer Nachricht dieser Art gerechnet; jetzt, wo Monti ihn tatsächlich vor einem Racheakt der Sizilianer warnte, spürte er die Anspannung. Es wurde langsam ernst.
»Unnötig, es zu erwähnen, aber ich tu’s trotzdem: Es würde uns natürlich verdammt viel helfen, wenn ihr uns über Ort und Zeit informiert. Dann wissen wir nämlich, wie viel U siccus Leute tatsächlich über Baumanns Situation wissen.«
»Schon klar. Wir sind an ihnen dran, David. Sollte jemand unvorsichtig sein, wenn sich einer von ihnen bewegt, bekommen wir es mit.«
»Es wäre zu hoffen … Gleicher Fall, andere Baustelle: Habt ihr eine Spur zum Anschlag auf Baumanns Büro? Irgendetwas, was uns weiterbringt?«
»Leider nichts in dieser Richtung. Du kennst das ja selbst: Eine neue Telefonnummer, eine neue Figur, und wir fangen wieder von vorne an. Und manchmal braucht es auch das Quäntchen Glück. Wie auch immer: Wenn U siccu für Zürich verantwortlich war, werden wir es früher oder später erfahren.«
»Dann doch lieber früher.«
Monti rollte ob der lakonischen Bemerkung seines Schweizer Kollegen leicht gereizt die Augen: »Ach, tatsächlich?«
»Ich sag ja nur …«, meinte Keller mit gespieltem Ernst.
»Hab schon verstanden. Nun gut … dafür kann ich etwas zu den beiden Anwälten des Liechtenstein-Treffens erzählen, Rossi und Bianchi. Baumann habt ihr zwar schon aus dem Verkehr gezogen, aber ich glaube, uns könnten noch ein paar Fische mehr ins Netz gehen.«
»Dann schieß los.«
Monti schob ein Blatt über den Tisch und führte Keller mit seinem Stift durch ein Schaubild von mit farbigen Linien verbundenen Passbildern. »Das hier ist Roberto Rossi, er ist vor fünf Jahren gestorben, Herzinfarkt. Finito. Sein Partner Michele Bianchi, hier, ist aber immer noch recht aktiv. So weit, so gut. Aber jetzt kommts: Die Mailänder Kollegen haben Bianchi bereits auf dem Schirm.«
»Und weswegen?«
»Ganz einfach: Bianchi bewegt sich im Dunstkreis von Cesare Previti, auch er ein Anwalt.« Monti deutete auf ein weiteres Passfoto auf dem Blatt: »Das ist Previti. Gegen Previti läuft gerade ein Berufungsprozess wegen Richterbestechung im Auftrag seines besten Kumpels, Silvio Berlusconi. Previti war mal, nebenbei gesagt, unser Verteidigungsminister. Sind wir nicht ein großartiges Land?«
»Ein einzigartiges, Andrea. Mit punktuellen Problemzonen, zugegeben.«
»Punktuell ? In Italien steht die Scheiße so hoch, dass man Flügel braucht, David. Alle wollen ins Scheinwerferlicht, Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Lastwagenfahrer, Hausfrauen. In Italien werden auf Beerdigungen Tote beneidet. Warum? Weil sie mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Lebenden. Italien bedeutet, dass die Telefone eines Ex-Verteidigungsministers überwacht werden. Warum? Weil er ein Krimineller ist. Was wir wissen: Bianchi gehört zu jenen Leuten, mit denen sich Previti bespricht. Ein falsches Wort von Bianchi …«
»… und ihr werdet es mitbekommen. Wäre zu schön. Aber Bianchi wird doch kaum so dumm sein?«
»Bianchis Problem ist nicht seine Intelligenz, es ist sein Charakter. Er will Aufmerksamkeit …«
Keller grinste. »Die Beerdigungen, ich verstehe. Bianchi redet zu viel.«
***
Lopez und Sorbello standen im Korridor beim Kaffeeautomaten im zweiten Stock des modernen Flachbaus der DEA , der sich am nördlichen Ende von Miami befand. Es war neun Uhr abends, und bis auf die Lichter ihrer Arbeitsplätze lag das Großraumbüro im Dunkeln.
Sorbello nippte missmutig am Pappbecher.
»Lass uns unten warten«, schlug Lopez vor. »Ich könnte jetzt eine Zigarette gebrauchen.«
Der Sedan des Chiefs brauste auf die Anlage zu und hielt auf dem für ihn reservierten Parkplatz neben dem Eingang. Lundgren schwang sich wuchtig aus dem Fahrzeug.
Ohne stehen zu bleiben, eilte Lundgren an Lopez und Sorbello vorbei Richtung der Eingangskontrollen.
»In zehn Minuten in meinem Büro«, rief er seinen beiden Mitarbeitern im Umdrehen zu.
Lopez nahm einen letzten Zug und warf die Zigarette frustriert auf den Asphaltboden. Die Hausordnung war so ziemlich das Letzte, was sie im Moment kümmerte.
In den Gesichtern seiner beiden Ermittler konnte Lundgren unschwer erkennen, dass es mit der Laune nicht zum Besten stand. Vorsichtig ausgedrückt.
»Nun, ihr habt es gehört: Das State Departement möchte nicht, dass ihr beiden nochmals in die Schweiz reist.«
»Das ist ein Witz, Chief! Baumann ist unser Mann. Wir sind für ihn verantwortlich«, fiel ihm Lopez ins Wort. »Wir arbeiten seit Jahren mit ihm zusammen. Er vertraut uns.«
»So ist es. Was das State Department behauptet, ist Bullshit«, schob Sorbello hinterher. »Es gäbe Möglichkeiten. Wir müssten gar nicht einreisen. Die Schweizer geben uns Baumann so zurück, wie sie ihn damals übernommen haben. Im Flieger.«
Lundgren rieb sich heftig über sein Gesicht, was er immer tat, wenn er sich ärgerte oder frustriert war. In der Abteilung war es unter den Mitarbeitern ein Running Gag, sich zu fragen, ob und wie weit sich Lundgrens Gesicht dabei abnutzte. Sowohl Lopez als auch Sorbello verkniffen sich im Moment den Gedanken daran. Der Chief konnte sehr unangenehm werden, wenn er sich verschaukelt fühlte.
»Mag schon sein. Hilft aber nichts. So wie jetzt entschieden wurde, machen alle mit. Unser Land, die Schweiz und Baumann. Und niemand möchte riskieren, dass ihr ohne Baumann zurückkommt, nur weil es dann doch irgendein Problem gibt. Können wir uns so was leisten? Nein. Können wir etwas dagegen tun? Nochmals nein. Wenn euch das State Department keine Diplomatenpässe ausstellt, könnt ihr nicht auf Dienstreise. So läuft es nun mal. Punkt.«
Es galt als ungeschriebenes Gesetz, dass die zuständigen Ermittler, die special agents in charge , Festnahmen und Überführungen wichtiger Figuren selbst machten. Bot der Fall Aussicht auf Schlagzeilen, wurden auch gerne Fernsehstationen und Fotoreporter aufgeboten – ein lebendiger Beweis des Sieges von Gut über Böse. Für die Gegner des Rituals hingegen war es der gefürchtete Walk of Shame. Jener Moment also, bei dem Festgenommene wie Zirkusbären in Ketten einer aufgeregten Medienmeute vorgeführt wurden, am besten mit schuldhaft gesenktem Haupt.
Lopez und Sorbello ging es nicht um den Medienauftritt. Den würde es bei Baumann nicht geben. Ganz im Gegenteil. Der Schweizer Banker war ihr streng gehütetes Geheimnis, ihr Ass im Ärmel gegen die mexikanischen Kartelle. Es ging ums Prinzip. Es wäre ihr gutes Recht gewesen, Baumann persönlich in die USA zurückzuholen.
Bei Lopez war der Ärger über die verpasste Gelegenheit noch nicht gegessen. Von seiner Ermittlerin hatte Lundgren auch nichts anderes erwartet.
»Bei allem Respekt, Chief. Aber diese Vorschrift können Sie sich sonst wo hinstecken. Baumann ist verdammt noch mal unser Mann! Und das wissen Sie.«
»Weiß ich, Lopez.«
»Und nun?«
»Und nun? Ihr habt meinen Bericht gelesen: Das Ziel der Bundesstaatsanwaltschaft des Eastern District von New York ist, Anklage gegen El Chapo zu erheben. Nur reden wir von Jahren, nicht Monaten. Was bedeutet, mit Baumann könnt ihr noch so lange Händchen halten, wie ihr wollt. Wenn ihr Pech habt, bis zu eurer Rente.«
»Ist schon klar, Chief«, meinte Sorbello mit säuerlicher Miene. »So weit haben wir verstanden. Und wer bringt Baumann nun in die USA ?«
Lundgren hob entschuldigend die Hände. »Wir jedenfalls nicht. Ich weiß nur, dass das in Washington entschieden wird.«