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Sie hatten fertig zu Abend gegessen und saßen jetzt noch am Esstisch in Kellers Wohnung bei einem Glas Wein zusammen, an dem sie eher lustlos nippten.

»Mir ist auch nicht wohl dabei, David.«

»Und nun? Was machen wir jetzt?«

Julie zuckte ratlos mit den Schultern. Sie wusste es ja auch nicht.

Vor zwei Tagen war beim Schweizer Justizdepartement die Mitteilung der US -Botschaft eingegangen, dass anstelle der »ausgereisten« DEA -Beamten Lopez und Sorbello FBI Special Agent Julie Banks mit der Überführung Baumanns in die USA beauftragt wurde. Zwei Sicherheitsbeamte des Genfer US -Konsulats sollten Special Agent Banks unterstützen.

»Ich finde es einfach fahrlässig. Irgendein so ein Sesselfurzer in Washington denkt, er hat eine geniale Idee, die auch noch Geld spart, dabei sind wir es, denen die Mafia ein Killerkommando hinterherschickt.«

»Ich weiß, Honey.« Sie lächelte ihn müde an.

Die überraschende Anordnung hatte sie beide kalt erwischt. Die Vorgehensweise des State Departments war keineswegs abwegig, ganz im Gegenteil. Aber der Fall Baumann hatte bisher in ihrer halblegalen Beziehung nur eine theoretische Rolle gespielt, wie ein strategisches Spiel, über dessen Winkelzüge sie gemeinsam beraten konnten. Was für Keller bitterer Ernst und eine moralische und berufliche Verpflichtung war, drängte plötzlich in ihren gemeinsamen geschützten Raum hinein und setzte Julie einer Gefahr aus, in die er sie auf keinen Fall bringen wollte.

Zwei Tage lang war besonders Julie ungewohnt wortkarg geblieben. Heute Abend hatten sie dann beim Essen ausführlich über die Ausgangslage gesprochen. Sie kannten die Umstände. Sie wussten, was auf dem Spiel stand.

»Kannst du nicht einfach ablehnen?« Er wusste, dass es eine ziemlich blöde Frage war.

»Gott, David! Dir muss ich nun wirklich nicht erklären, dass ich da wenig Mitspracherecht habe. Genau genommen überhaupt keins.«

»Ja, entschuldige. Es ist nur …« Keller rieb sich genervt über die Schläfen. Er fühlte sich hilflos. Es war bei Gott nicht das erste Mal, dass über seinen Kopf hinweg entschieden worden war, aber dieses Mal war es persönlich und fühlte sich gar nicht gut an.

Julie langte über den Tisch und nahm seine Hände in ihre. Sie blickte ihn eindringlich an. »Es ist eine zweistündige Autofahrt, Honey. Und ich bekomme Unterstützung aus Genf. Ich krieg das hin.«

Keller musste lächeln. Wenn sie es so sagte, klang es fast wie ein lächerlich einfaches Kinderspiel.

Sie lächelte zurück und küsste ihn. Im Grunde hatte sie recht. Sie waren schließlich ein gutes Team.

Er streckte sich, nahm einen Schluck Wein und verzog das Gesicht. »Der schmeckt echt nicht. Ich hol einen anderen.«

Keller stand auf und verschwand hinter der Küchentheke, wo sie hören konnte, wie er mit den Flaschen herumhantierte. Julie schaute ihm kurz hinterher und drehte stumm ihr Weinglas in den Händen. Ihre Zuversicht hatte plötzlich einem ernsten Ausdruck Platz gemacht.

***

»Ja, wir beide kennen uns bereits recht gut. Die Zusammenarbeit wird kein Problem sein.« Keller klang so sachlich wie ein Finanzbeamter.

»Ich denke, die Resultate der letzten Monate können sich sehen lassen«, fügte Julie mit einem charmanten Lächeln an.

Moser nickte. »Schon klar, Miss Banks. Keine Frage. Nur geht es hier nicht um Al-Kaida-Gelder auf Schweizer Bankkonten. In Ihrer Heimat ist Baumann Kronzeuge gegen El Chapo, und in der Schweiz steht er im Zeugenschutzprogramm. Und das aus gutem Grund. Die Cosa Nostra hat Baumanns Exekution angeordnet, sie hat Profis losgeschickt. Sollten sie ihn finden, werden sie ihn töten. Das wäre nicht sehr vorteilhaft. Für keinen von uns.«

»Dessen sind wir uns bewusst, Sir«, bestätigte Julie.

»Wir haben es ausführlich durchgesprochen, Pius. Wir sind gut vorbereitet.« Keller warf Julie einen Blick zu, den sie mit einem kurzen Nicken erwiderte.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, kann uns Ihre Behörde beim Transport nach Bern unterstützen? Ihre Botschaft hat mitgeteilt, Baumann und seine Partnerin werden nur eine Nacht in Bern bleiben. Und dann mit einem Linienflug von Zürich in die USA reisen.«

Julie nickte wieder. »Soweit uns das mit unseren Mitteln möglich ist, Sir. Allerdings sind wir nicht auf komplexere operative Einsätze vorbereitet.«

»Oh? Ist das so? Wir haben da schon Erstaunliches festgestellt.« In Mosers Antwort schwang eine gehörige Portion Sarkasmus mit.

»Die DEA ist die DEA . Wir sind das FBI , Sir.«

»Das sagen sie alle, Miss Banks.« Moser hatte Julies Kommentar mit einer verärgerten Handbewegung zur Seite gewischt. Was ihn betraf, war die kaltschnäuzige Aktion der DEA vor seiner Haustüre noch nicht vom Tisch. »Wie auch immer. Die beiden Sicherheitsleute, die Ihnen zur Seite stehen, sie gehören zum FBI ? Wir brauchen deren Personalien.«

»Dazu habe ich noch keine Angaben, Sir. Ich werde das abklären.«

»Das wäre nett.«

»Selbstverständlich, Sir.«

Moser drückte Keller einen Umschlag in die Hand. »Euer Auftrag. Die Amtsleitung hat ihn heute Morgen besprochen und genehmigt. Macht euch Gedanken, wie wir Baumann und seine Partnerin wohlbehalten zu uns nach Bern bringen. Nur so viel: Ich will es unauffällig, ein kleines Team. Ein taktischer Fahrzeugwechsel auf halber Strecke scheint mir sinnvoll. Was die Übernachtung in Bern betrifft: Eine Pritsche im Untersuchungsgefängnis können wir Baumann leider nicht ersparen. Damit schlafen zumindest wir besser. Danach erledigen wir die Formalitäten mit Ihrer Botschaft, Miss Banks. Dafür sollte der Vormittag reichen. Und dann ab nach Zürich und hinein in die Swiss-Maschine nach New York. Je schneller Sie und Baumann aus der Schusslinie sind, Miss Banks, umso besser für uns alle.«

Keller fuhr von der Autobahn ab, parkte neben den Tanksäulen und eilte zum überdachten Eingang der Raststätte. Es hatte kräftig zu regnen begonnen. Der Sommer war dem Herbst gewichen. Noch war kein Schnee gemeldet. Aber hier, kurz vor dem Gotthardtunnel an der Wetterscheide zwischen Nord- und Südeuropa, war man besser auf alles vorbereitet. Handschuhe und Schneeketten lagen im Kofferraum.

Keller setzte sich an einen Tisch und bestellte eine Portion Schnitzel mit Pommes. Dann rief er Baumann an.

»Wie gehts? Koffer gepackt?«

»Wir können es kaum erwarten. Rita leidet. Sie ist diese Temperaturen nicht gewohnt. Es ist wirklich verdammt kalt geworden hier oben.«

»Ich kenne den Ort. Verfeuern Sie noch den Rest Kaminholz, Sie werden es nicht mehr brauchen. In zwei Stunden sollte ich bei Ihnen sein. Ich fahre einen schwarzen VW Transporter. Zwei Minuten vor der Ankunft rufe ich Sie nochmals an. Dann wissen Sie, dass ich es bin. So weit klar?«

»Alles klar.«

Es war noch zu früh, um Julie anzurufen. So aß er erst zu Mittag, bezahlte und fuhr weiter, hinauf auf der kurvigen Autobahn in Richtung Süden, links und rechts eingeschlossen von den schneebedeckten Gipfeln des Gotthardmassivs. Eine knappe Stunde später erreichte er das Nordportal und fuhr in den dunklen, stinkenden und endlos scheinenden Gotthardtunnel ein. Nach weiteren zwanzig Minuten hatte er das Südportal erreicht und rollte die Südflanke der Alpen hinunter in Richtung Bellinzona. Die Ferienzeit war vorüber, es herrschte nur wenig Verkehr. Wahrscheinlich würde er schneller am Ziel sein als gedacht. Auch gut.

Julie meldete sich. »Wie ist der Verkehr? Wo bist du jetzt?«

»Für einmal kein Stau, alles bestens. Bin gerade durch den Tunnel. Und du? Wann fahrt ihr los?«

»Ich bin noch zu Hause. Meine Leute holen mich gleich ab.«

»Hast du eure Fahrzeugdaten an Moser gemeldet? Er will die Polizeidienststellen entlang der Strecke informieren. Vergiss das nicht.«

»Hab ich doch gestern bereits gemacht. Immer noch der Volvo V50 von Hertz.«

»Dann verbleiben wir wie besprochen: Du rufst mich an und bestätigst, wenn ihr am Treffpunkt seid. Eine Stunde noch, dann bin ich bei Baumann.«

»Okay. Und übrigens, ich hab vorhin den Wäschekorb nach unten gebracht.«

»Ach, Mist, den hatte ich stehen lassen.«

»Hast du.«

»’tschuldige.«

Keller konnte Julies Atem hören. Ein Moment der Stille folgte. »I love you, babe«, sagte sie schließlich.

Von ihnen beiden war Julie definitiv die Gesprächigere. Trotzdem: Diese Worte hatte er von ihr schon länger nicht mehr gehört. Auch wenn sie es nicht offen aussprach – Julie schien sich mehr Sorgen zu machen als er selbst. Gestern Abend hatten sie den Ablauf nochmals durchgesprochen, beim Essen, und danach im Bett, nachdem sie sich geliebt hatten.

Julie war Finanzermittlerin. Und wie sie selbst meinte, kannte sie die italienische Mafia aus Vorträgen an der FBI -Akademie sowie aus Hollywoodfilmen. Keller hatte ihr versichert, dass niemand Baumanns Aufenthaltsort kennen konnte. Keine Chance für die Killer aus Sizilien, ihren Auftrag zu Ende zu bringen.

Und er würde nicht zulassen, dass ihr etwas zustieß.

Alles würde gut werden.

»Love you, too. Jetzt lass uns Baumann nach Bern bringen. Und wenn du ihn erst mal in Miami abgeliefert hast, nehmen wir uns ein paar Tage frei. In Ordnung?«

Wieder schwieg Julie für ein paar Sekunden, in denen er nur ihren leisen Atem hören konnte.

»Die Jungs sind da. Ich muss los.«

Eine halbe Stunde später hatte Keller die Abzweigung Richtung Verzascatal erreicht. Es folgten enge Haarnadelkurven, die ihn hoch zum Vogorno-Stausee brachten. Der Regen war noch stärker geworden. Je schneller er beim Haus ankam, umso besser.

Auf halbem Weg zwischen Gerra und Vasco bog er nach links ab. Die schmale Straße führte den Berg hoch in ein Waldstück, links und rechts standen vereinzelt schmucke Ferienhäuser in den Lichtungen. Nach einem weiteren Kilometer endete die befestigte Straße. Ein Gitterzaun versperrte die Weiterfahrt.

Auf einem Schild stand der Hinweis »Privato«. Tatsächlich gehörte das Grundstück der Armee, aber Pius Moser kannte die richtigen Leute. Wenn die Bundeskripo kurzfristigen Bedarf für eine diskrete Unterbringung hatte, wusste Moser, wen er auf ein Feierabendbier treffen musste.

Keller rief Baumann an, stieg aus dem Fahrzeug und öffnete die Schranke mit dem mitgebrachten Schlüssel. Nach weiteren dreihundert Metern durch den Wald erreichte er die Lichtung. Das Fahrzeug parkte er auf dem kleinen Vorplatz.

Es goss nun aus allen Kübeln. Rita erwartete ihn mit einem übergroßen Regenschirm in der Hand. Zusammen eilten sie ins Haus, wo Rita eine Kanne heißen Tee aufgesetzt hatte. Rita war von Anfang an die Entspanntere gewesen im Umgang mit Keller, was durchaus nachvollziehbar war. Baumann war der Kriminelle, der Gejagte, Rita bloß seine Begleitung.

Keller nippte an der Tasse. »Schmeckt hervorragend. Danke.«

»Eine venezolanische Mischung. Ohne die hätte ich nicht überlebt, hier oben.«

»Von jetzt an werden Sie in einem gut beheizten Zimmer schlafen. Keine Sorge. Das Gepäck ist bereit?«

»Alles bereit.«

»Lassen Sie nichts zurück. Noch mehr Taschen voller Bargeld zum Beispiel.«

»Welches Bargeld?«, knurrte Baumann, der mit düsterer Miene am kleinen Holztisch saß, und sich nervös die Hände rieb. »Das haben Sie.«

»Nur so ein Gedanke, Baumann. Keine Ahnung, wo überall Sie noch Geld versteckt haben.«

»Hier ganz bestimmt nicht.«

»Der Nachmieter würde sich freuen. Und wegen Ihres Geldes – das hatten wir bereits: Wenn es denn sauber ist, bekommen Sie es wieder.«

In der Zwischenzeit war die Strecke zurück ins Tal zu einer Schlammpiste geworden. Immer wieder kam der Wagen ins Schlittern, und Keller hatte größte Mühe, den Transporter in der Spur zu halten. Jetzt bloß keinen blöden Unfall.

Unten auf der Talstraße hatten sich riesige Pfützen gebildet, und bis zum Stausee musste Keller im Schritttempo fahren. Bereits während des Beladens hatte sich Julie gemeldet. Sie und ihre beiden Begleiter waren am vereinbarten Ort angekommen. Jetzt konnte er Moser anrufen. Alles lief nach Plan.

»Für dich zur Information, David: Die Tessiner Polizei hat zwei verdächtige Fahrzeuge bei Baumanns Anwesen festgestellt.«

»Wurden sie angehalten?«

»Nein, die Observation läuft noch.«

»Und Italien?«

»Ich hab mit Monti gesprochen. Keine Aktivitäten.«

»Profis halt.« Keller hielt seine Bemerkungen kurz. Im Fond saß Baumann mit Rita und hörte schweigend zu.

»Wir bleiben bei unserem Plan«, meinte Moser. »Kein Grund, deswegen etwas zu ändern.«

Als sie die schlechten Straßen hinter sich gelassen und auf die Autobahn Richtung Norden aufgefahren waren, informierte Keller seine beiden Passagiere über das weitere Vorgehen.

»Auf halber Strecke werden wir einen kurzen Zwischenhalt einlegen. Sie beide werden in ein anderes Auto umsteigen. Das Gepäck können sie hierlassen. Eine Sicherheitsmaßnahme.«

Baumann nahm es gelassen. »Was immer Sie sagen, Keller.«

Nachdem sie Luzern hinter sich gelassen hatten, fuhr Keller von der Autobahn ab, steuerte auf das Parkfeld der Raststätte Neuenkirch zu und umrundete es im Schritttempo. Nur eine Handvoll Fahrzeuge stand verstreut über das weitläufige Areal. Wenigstens etwas Gutes hatte das miese Wetter.

Julies Volvo wartete am vereinbarten Platz in der ersten Parkreihe neben der Treppe zum Restaurant Marché. Der Platz daneben war ebenfalls frei.

Keller wählte Julies Nummer.

»Wir sind hier. Können wir parken?«

»Wir sind bereit.«

Keller stoppte in der Lücke neben Julies Fahrzeug und löste die Verriegelung. Einer von Julies Sicherheitsleuten zog die Seitentüre auf und winkte wortlos ins Wageninnere. Baumann und Rita kletterten über die Sitze und stiegen auf die Rückbank des Volvos.

Bevor er die Schiebetüre wieder zuwarf, hob der Amerikaner den Daumen und zwinkerte Keller zu. Unter seiner linken Schulter lugte ein Pistolengriff hervor.

»All right man, see you later.«

Keller hob ebenfalls den Daumen, allerdings nicht mehr ganz so schwungvoll wie der Kollege, wobei er sich fragte: Julies Leute trugen Waffen? Das war definitiv nicht so vereinbart und komplett illegal. So war es eben mit den Cowboys aus Übersee. Es gab sie nur im Gesamtpaket.

Die Übergabe hatte geklappt, Baumann und seine Rita waren bei Julie. Das war erst mal das Wichtigste.

Julie saß auf dem Beifahrersitz. Keller versuchte, ihren Blick zu erhaschen. Aber sie hatte sich nach hinten umgedreht und unterhielt sich mit Baumann.

Julies Volvo setzte zurück und brauste davon. Keller blieb am Steuer sitzen und beobachtete die Umgebung. Wäre jemand dem Volvo gefolgt, hätte er sich an dessen Fersen geheftet und bei Moser Alarm geschlagen.

Aber auf dem Parkplatz blieb alles ruhig.

Sobald Julie mit ihrer Fracht auf die Autobahn Richtung Bern aufgefahren war, würde sie sich bei ihm melden. Erst mal aber war Gelegenheit für die überfällige Pinkelpause und einen Anruf bei Moser.

»Julie ist losgefahren. Niemand in ihrem Schlepptau.«

»Schön. Sie soll sich nicht zu viel Zeit lassen. Die Tessiner sind sich nicht mehr sicher, ob sie noch an den richtigen Leuten dran sind. Hat wohl einen Fahrzeugwechsel gegeben, den sie nicht gesehen haben.«

»Oops. Wie lange ist das her?«

»Zweieinhalb, drei Stunden.«

»Hm … aber mal ehrlich: Ich kann mir nicht vorstellen, dass U siccus Leute die geringste Ahnung haben, wie und wo wir unterwegs sind.«

»Man sollte es meinen. Trotzdem. Du erinnerst dich noch an die Sache bei den Tessiner Kollegen mit der schönen Riccarda? Wie nannten sie die noch mal?«

»Ach die … ungern, ja. La cozza nera.«

»La cozza nera. Drei Jahre hat es gedauert, bis jemand geschnallt hat, dass die Kellnerin des Cafés beim Tessiner Polizeikommando nicht nur eine gute Partie im Bett ist, sondern auch eine Verwandte U siccus. Gott alleine weiß, wie viel Bettgeflüster da lief. Was ich sagen will …«

»Riccarda ist weg, Pius. Alle haben daraus gelernt.«

»Ich will’s hoffen«, brummelte Moser.

»Ich muss mich jetzt bei Julie melden, ich ruf dich wieder zurück.«

»Ich warte.«

»Ach übrigens: Julies Sicherheitsleute sind bewaffnet. Wusstest du das?«

»Wie bitte? Nein, das wusste ich nicht.«

»Ich behaupte mal, Julie auch nicht. Mindestens einer trägt eine Pistole. Beim anderen weiß ich es nicht.«

Moser seufzte verärgert. »Wieso bin ich nicht überrascht? Wir klären das später.«

Die zuckenden Blaulichter der Autobahnstreife waren schon von Weitem zu sehen. Die letzten zwanzig Kilometer hatte er das Gaspedal komplett bis zum Anschlag durchgedrückt, und mit quietschenden Reifen und für die enge Kurve viel zu schnell nahm er nun auch die Ausfahrt. Um ein Haar hätte er ein anderes Auto gerammt, das ihm aufgeregt hupend von rechts vor die Nase fahren wollte.

Einen halben Meter weiter, und auch die beiden Streifenpolizisten, die bei den Parkplätzen auf der Rückseite der Raststätte neben Julies Volvo auf ihn warteten, wären unter der Vorderachse des Transporters gelandet.

»Keller, Bundeskripo.« Keller hatte sich mit einem Satz hinter dem Steuer hervorgeschwungen und hielt seinen Dienstausweis in die Höhe. »Was habt ihr gesehen? Wo sind die Insassen?«

»Das fragst du uns? Das würden wir gerne von dir wissen, Kollege«, meinte der ältere der beiden. »Dein Büro meldete etwas von Zeugenschutztransport? Vielleicht Entführung?«

»Verdammt … ja! Die Türen? Unverschlossen?«

»So siehts aus. Der Schlüssel steckt. Auch die Papiere sind alle da.«

Keller ging einmal um das Fahrzeug und betrachtete aufmerksam den Innenbereich. Keine Spuren von Gewalt. Keine Einschusslöcher. Keine Gegenstände im Fahrzeug.

Und auch kein Blut.

Keller zwang sich, ruhig zu bleiben. Bloß keine Panik jetzt. Sein Blick wanderte über den Parkplatz, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis, ein Zeichen von Julie und ihrer Gruppe zu entdecken. Aber nichts. Julie war weg, Baumann war weg, und der einzige Zeuge war der verlassene, sauber eingeparkte Mietwagen.

Was um Himmels willen war hier geschehen? Julie hatte sich nicht wie vereinbart gemeldet. Nach einer halben Stunde rief er sie auf dem Mobiltelefon an, dann Baumann. Keine Reaktion.

Dann der Anruf bei Moser. Hatte sich Julie bei ihm gemeldet? Sie versuchten es noch ein paarmal, aber die Telefone blieben stumm.

Nun war es doch passiert, ihr Albtraum war wahr geworden: Sie hatten sie verloren, Baumann, Julie und die Wachmannschaft. Schließlich hatte Moser entschieden, einen Entführungsalarm auszulösen.

Kaum eine Viertelstunde später hatte sich die Autobahnstreife gemeldet: Das gesuchte Fahrzeug stand auf dem Rastplatz Gunzgen Nord, Fahrtrichtung Bern.

Keller sah sich weiter um. »Was ist mit den Überwachungskameras?«

»Haben wir überprüft. Die gibt es, aber nur auf der Vorderseite, bei den Tanksäulen. Wegen der Raubüberfälle.«

Erneut spürte Keller die aufsteigende Panik. Es gelang ihm, ruhig und sachlich zu klingen. Zumindest hoffte er es. »Sie müssen ja irgendwie von hier weggekommen sein. Und wir haben wirklich keine Bilder?«

»Wie gesagt, nur, wenn sie so dumm waren und nach vorne zum Tanken gefahren sind. Wir können es versuchen. Aber wonach sollen wir überhaupt suchen?«

Nein, dumm waren die Sizilianer nicht. Sie hatten sie ausgetrickst, an der Nase herumgeführt. Und sie mussten Hilfe von außen gehabt haben, von jemandem, der ihre Pläne kannte.

So offensichtlich es schien – irgendetwas in Keller sträubte sich zu glauben, dass dieses Desaster ein Werk der Mafia war, von Messina Denaro, den Mexikanern. Zu sauber das Ganze, zu glatt. Doch wenn nicht sie, wer sonst?

Eine letzte kleine Chance blieb: Denn wenn Baumann liquidiert werden sollte, war es jedenfalls nicht hier auf der Raststätte passiert.

Sie mussten jetzt schnell sein. Hastig wählte er Pius’ Nummer.

»Folgendes: Hier wurde niemand getötet, auch keine Spuren von Gewalt, kein gar nichts. Erinnerst du dich an Zürich? Sie wollen Baumann nicht loswerden. Oder noch nicht. Sie wollen an seine Informationen, sein Geld, weiß der Teufel. Ich denke, sie halten ihn irgendwo fest. Bis sie von ihm haben, was sie wollen.«

»Was meinst du damit? Dass sie ihn wieder laufen lassen?«

»Wenn sie fertig sind, räumen sie ihn aus dem Weg. Alles andere ergibt keinen Sinn.«

Moser zögerte. »Julie und Rita?«

Die Frage hatte er aus seinen Gedanken verbannt. Er wollte sie nicht hören. Nicht jetzt. »Die anderen … keine Ahnung.«

»Okay. Reden bringt uns auch nicht weiter. Wir weiten die Fahndung aus, an jede Polizeistreife, jeden Grenzposten. Mehr können wir nicht tun.«

Moser hatte aufgelegt, Keller stand auf dem Parkplatz der Raststätte, das Telefon in der Hand, auf der Autobahn rauschte der endlose Strom an Fahrzeugen vorbei, auf dem Weg zu ihrem Ziel, zur Arbeit, zur Familie. Keller hatte seines gerade verloren. Fahl im Gesicht schleppte er sich zu den WC -Anlagen. Ihm war schlecht geworden.