Kapitel 1

Die Saat des Krieges

Bitte stellen Sie sich vor, es regnet. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, welche Gefühle, Gedanken und Empfindungen sich einstellen, wenn Sie an Regen denken.

Ich bin jedes Mal im Krieg, wenn es regnet, berühre wieder den Krieg. Zwei Regenzeiten hindurch habe ich schwerste Kämpfe durchlebt. Während der Monsune in Vietnam hinterlassen die gewaltigen Wassermassen alles nass durchtränkt und schlammig. Wenn es heute regnet, gehe ich noch immer über Schlachtfelder voller junger Männer, die schreien und sterben. Ich sehe noch immer Baumreihen vor mir, die vom Napalm zersetzt werden. Ich höre noch immer siebzehnjährige Jungen nach ihren Müttern und Vätern und Freundinnen rufen. Erst danach gelange ich an den Ort, an dem es einfach nur regnet.

In Ermangelung eines besseren Wortes schlage ich vor, diese Erfahrungen »Erinnerungsblitze« zu nennen. Es handelt sich dabei um das Wiedererleben von Erfahrungen, die ich noch nicht verarbeitet habe. Es kann passieren, dass ich in einem Lebensmittelladen eine Dose Gemüse aus dem Regal nehmen will und plötzlich von der Angst überwältigt werde, dass die Dose eine getarnte Sprengstoffladung enthält. Verstandesmäßig weiß ich, dass das nicht so ist, aber ich habe ein Jahr lang in einer Umgebung gelebt, in der es so war – und bis zum heutigen Tag bin ich nicht in der Lage, diese Erfahrung in ihrer ganzen Tiefe wirklich zu verarbeiten.

Dies ist nicht nur meine Geschichte. Sie wiederholt sich jeden Tag überall auf der Welt. Jeden Tag durchleben Menschen ihre Kriegserlebnisse und ihre Kindheitstraumata aufs Neue.

Bevor wir an einen Ort des Friedens gelangen, müssen wir mit unserem Leiden in Berührung kommen – wir müssen es umarmen und halten. Das habe ich in den letzten Jahren gelernt. Während der langen Jahre davor habe ich einzig gelernt, wie man Krieg führt.

Lernen, Krieg zu führen

Während der ersten siebzehn Jahre meines Lebens habe ich die Saat der Gewalt in mir gewässert. Nichts, was ich erlebte, sagte mir, dass Krieg nicht in Ordnung sei. Krieg war überall. Ich wuchs in einer Kleinstadt in Pennsylvania auf. Mein Vater hatte wie die meisten Männer im Ort am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Wenn die Männer über den Krieg sprachen, sagten sie nicht die Wahrheit. Weil sie nicht in der Lage waren, die Saat des Leidens zu berühren, die der Krieg tief in sie hineingelegt hatte, sprachen sie über ihn wie über ein großartiges Abenteuer. So wurde es an mich weitergegeben.

Als ich siebzehn wurde und mein Vater mir vorschlug, Soldat zu werden, hinterfragte ich dieses Ansinnen nicht. Ich wusste auch nicht viel über Politik; Politik spielte keine Rolle in meinem Leben. Heute weiß ich, warum politisches Interesse wichtig ist: Wir müssen wissen, was in der Welt vorgeht, denn was immer geschieht, hat seine Auswirkungen auf jeden von uns.

Mein Vater und die Männer und Frauen seiner Generation waren von Illusion und Verleugnung erfüllt; sie waren nicht in der Lage, Zugang zu der Wirklichkeit ihrer Erfahrungen zu finden. Das wurde weder bei ihnen noch bei mir auf irgendeine Weise gefördert. Doch während des Krieges in Vietnam geschah etwas Ungewöhnliches, etwas, das es vielen von uns unmöglich machte, die Kriegsrealität zu verleugnen.

Ich habe mich freiwillig für den Einsatz in Vietnam gemeldet, weil ich es für richtig hielt. Ich wusste nichts von der Natur des Krieges oder der Natur der Gewalt. Drei Tage nach meiner Ankunft in Vietnam begann ich zu begreifen. Es war irrsinnig. Ich kann es nicht genau beschreiben. Ich konnte und kann es schmecken und riechen und die Leere in den Augen aller um mich herum sehen. Es war, als befände ich mich in einem surrealistischen Horrorfilm. Während ich auf den Befehl wartete, der mich einer Einheit zuweisen würde, verbrachte ich meine ersten drei Tage in Vietnam damit, Tausende von verdorbenen Schokoriegeln in einem Vorratslager zu vernichten. Außerdem konfiszierte ich – das ist der militärische Ausdruck für stehlen – mit Unterstützung des diensthabenden Unteroffiziers eine Halskette aus gezüchteten Mikimoto-Perlen – eine Anschaffung, die meine finanziellen Mittel bei weitem überstiegen hätte. Zwei Tage später brachte ich die Kette zurück, denn ich wusste, dass es unrecht war, zu stehlen.

Während der Grundausbildung lehrte man mich zu hassen. Auf dem Schießstand schossen wir auf Zielscheiben, die Menschen darstellten. Wir lernten, MENSCHEN zu töten. Das ist die Aufgabe des Militärs. Nach den Schießübungen waren wir angehalten, unsere Waffen einzusammeln und zu einer Pyramide aufzustellen. Als ich mich anschickte, mein Gewehr dazuzustellen, ließ ich es fallen. Der Ausbilder, ein Oberfeldwebel, brüllte los, dass ich schlampig mit meinem Gewehr umgehe und dass mein Gewehr das Allerwichtigste in meinem Leben sei, denn von ihm hänge ab, ob ich überlebte oder starb.

Der Typ war einsfünfundneunzig groß, ich hingegen bin nur gut einssiebzig. Er baute sich vor mir auf, seine Brust wölbte sich vor meinem Gesicht, und er erdolchte mich fast mit dem Finger. Dann holte er seinen Penis heraus und pinkelte mich an, vor aller Augen. Ich durfte mich zwei Tage lang nicht waschen. Ich war so tief beschämt, dass ich an das Ausmaß meiner Gefühle nicht im Entferntesten zu rühren vermochte. Ich verspürte nichts als Zorn. Ich konnte es dem Oberfeldwebel nicht heimzahlen, denn dann hätte man mich in den Bau geschickt. Also habe ich meinen Zorn auf DEN FEIND gerichtet. Der Feind war jeder, der anders war als ich, jeder, der kein amerikanischer Soldat war. Diese Konditionierung, diese Entmenschlichung, ist notwendig, um ein guter Soldat zu werden. Ein guter Soldat kann sich dem Feind nicht verbunden fühlen. Soldaten werden darauf getrimmt, alles andere und jeden anderen als bedrohlich, gefährlich und potenziell tödlich wahrzunehmen. Du entmenschlichst den Feind. Du entmenschlichst dich selbst. Von diesem Zeitpunkt an ging eine Veränderung mit mir vor, die schlimme Konsequenzen haben sollte.

Meine Militärausbildung lehrte mich, ein ganzes Volk zu entmenschlichen. Es wurde nicht unterschieden zwischen dem Vietkong, der regulären vietnamesischen Armee und der allgemeinen vietnamesischen Bevölkerung. Doch wäre ich durch mein früheres Leben nicht auf die Militärausbildung vorbereitet gewesen, dann hätte diese Art Unterweisung nicht funktioniert. Als junger Mann wurde ich ermutigt, zu kämpfen, voller Voreingenommenheit zu sein und nationalistisch zu denken. Ich lernte, dass man Probleme durch Gewaltanwendung löst. Im Falle eines Konflikts gewinnt der Stärkere. So lernte ich es von meiner Mutter, von meinem Vater, von meinen Lehrerinnen und Lehrern und von meinen Freunden.

Als ich sechs Jahre alt war, lebte ich mit meinen Eltern in einem Apartment in einer ganz gewöhnlichen amerikanischen Gemeinde im nordwestlichen Pennsylvania. Mein Vater war Lehrer, und meine Mutter machte anderer Leute Wäsche, ging putzen und jobbte manchmal als Kellnerin oder Barfrau, um Geld dazuzuverdienen. Eines Tages wollte ich Fahrrad fahren, aber meine Mutter erlaubte es mir nicht. Ich fing an zu quengeln. Daraufhin gab mir meine Mutter einen Schubs, und ich flog mitsamt meinem Fahrrad die Treppe hinunter – zwanzig Stufen. Ich habe keine Ahnung, wieso ich mir keine ernsthaften Verletzungen zuzog. Vielleicht weil Kinder geschmeidig sind. Aber sie lernen auch entsprechend ihrer Umgebung.

Meine Mutter hat oft Gewalt angewendet. Einmal hat sie mir die Hand in den Nacken gelegt, mich herumgerissen und mein Gesicht an die Wand gedrückt – ohne ersichtlichen Grund. Anschließend hat sie mir gesagt, wenn ich ein besserer Mensch wäre, müsste sie mich nicht so behandeln. Ich lernte, keinen Schmerz zu empfinden und niemandem zu trauen, besonders Autoritätspersonen nicht.

In der Stadt, in der ich lebte, gab es einen See, und im Frühjahr stieg der Wasserpegel wegen der Schneeschmelze ziemlich an. Als ich etwa acht Jahre alt war, ging ich eines Tages hinaus, um zu spielen. Ich hatte ein Paar neue Turnschuhe bekommen, die noch ein sehr sauberes, klares Profil besaßen, und ich sollte spätestens um vier Uhr wieder zu Hause sein. Doch was weiß ein Kind schon von der Zeit? Als ich um vier Uhr nicht zu Hause war, geriet mein Vater in Sorge und machte sich auf die Suche nach mir. Er ging zum See hinunter und fand kleine Fußspuren, die zum Wasser führten, aber nicht mehr zurück. Die Fußspuren wiesen ein Profil auf wie das meiner neuen Turnschuhe. Mein Vater dachte, ich sei in den See gefallen, und der Gedanke, ich könne ertrunken sein, erfüllte ihn mit großer Furcht. Er eilte nach Hause, und als er ankam, war ich bereits dort.

Seine Reaktion auf seine Angst bestand darin, sie auf mich zu übertragen. Mein Vater konnte seine Angst nicht zulassen, er konnte das Gefühl seiner Machtlosigkeit nicht ertragen, also drückte er seine Angst durch das einzige Gefühl aus, zu dem er Zugang hatte: seine Wut. Er zerrte mich ins Badezimmer, zog mir die Hosen herunter, nahm seinen Gürtel ab und schlug mich damit, bis ich grün und blau war und vom Nacken bis zu den Fesseln blutete. Plötzlich merkte mein Vater, dass er mich ernsthaft verletzte, und hielt inne. Er begann Heilsalbe auf meine Wunden aufzutragen und erzählte mir, dass er mich geschlagen habe, weil er mich liebe. Das wiederholte er die ganze Zeit, während er mich verarztete: Er habe mich geschlagen, weil er mich liebe. Das war der Anfang einer langfristigen Beziehung, der Beziehung zwischen Liebe und Gewalt.

Mein Vater hatte nicht die Absicht, mir wehzutun. Er hatte keine andere Wahl. Mein Vater war nicht in der Lage, mit seinem Leiden in Berührung zu kommen. Und deshalb agierte er sein Leiden auf diese Weise an mir aus. Meine Mutter hatte nicht die Absicht, mir wehzutun. Sie war nicht in der Lage, mit ihren Gefühlen in Berührung zu kommen, sich ihr Leiden anzusehen, also ließ sie es an mir aus. Mein Vater, ein Soldat, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, starb im Alter von dreiundfünfzig Jahren an Alkoholismus.

Liebe und Gewalt

Liebe und Gewalt: Wenn ich mein Land liebe, müsse ich bereit sein, für mein Land zu kämpfen und zu sterben – so wurde es mir beigebracht. Als ich mit meiner Militärausbildung begann, meldete ich mich freiwillig, um in Vietnam zu kämpfen. Man sagte mir, dass ich dorthin gehe, um Frieden zu bringen. Dass Frieden mit vorgehaltenem Gewehr geschaffen werden könne. Und warum sollte ich etwas anderes glauben?

Im Alter von siebzehn Jahren verließ ich die High School und ging direkt zur Armee. Mein Vater ermutigte mich dazu. Ich brauchte seine schriftliche Einwilligung. Mir war ein Sportstipendium an der Universität angeboten worden, aber mein Vater drängte mich, es abzulehnen, denn er meinte: »Du bist nicht charakterfest genug. Du wirst versagen, und sie werden dich rauswerfen. Du bist zu wild.« Unterdessen habe ich durch die Unterweisungen des Buddha gelernt, »andere Menschen, Kinder eingeschlossen, auf keinerlei Weise zu nötigen, unsere Ansichten zu übernehmen«. Mein Vater teilte diese Überzeugung nicht.

Es steckte ein Körnchen Wahrheit in dem, was er sagte: Ich war ein ungebärdiges Kind. Wenn ich heute das eine oder andere von dem täte, was ich damals tat, würde man mich vermutlich verhaften und ins Gefängnis stecken. Damals war einfach eine andere Zeit. Ich habe regelmäßig Autos geklaut. Ich habe Autos geklaut, einzig um damit durch die Gegend zu kutschieren. Ich ging einfach nach Geschäftsschluss zum nächsten Plymouth-Händler und spähte die Gebrauchtwagen aus, bis ich einen fand, dessen Zündschlüssel steckte. Ich stieg einfach ein, fuhr los und gondelte die ganze Nacht aus reinem Vergnügen durch die Gegend. Anschließend brachte ich den Wagen wieder zurück. Weder die Autos noch ich haben je Schaden genommen. Reines Glück, glaube ich.

Ich kam immer sehr spät abends nach Hause. Niemand kümmerte sich um mich. Ich war auf mich selbst gestellt. Es gab keine festen Regeln. Mein Vater war wohl nicht in der Lage, Regeln aufzustellen, denn er war zu beschäftigt mit seiner Trinkerei, war zu sehr mit seinem eigenen Leiden befasst.

Außerdem war er oft fort. Seit ich zwölf war, wuchs ich auf, ohne dass sich jemand groß um mich kümmerte. Ich stand nicht unter elterlicher Aufsicht. Ich musste meine eigenen Regeln aufstellen.

Wie kam es, dass ich schließlich bei der Armee landete? Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun können. Ich hatte keine Ahnung. Mein Vater schlug es mir vor, und er war der Vater. Selbst ein abwesender Vater ist eine mächtige Figur im Leben einer Familie, insbesondere im Leben eines Sohnes. Er und seine Freunde, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, saßen oft herum und betranken sich und erzählten Geschichten, die den Krieg verherrlichten und ihn aufregend und romantisch erscheinen ließen. Ich lauschte diesen Geschichten nicht bloß – ich sog sie begierig ein und wollte Teil von ihnen sein. Ich verinnerlichte diese Geschichten, ohne sie zu hinterfragen, ich hörte meinem Vater zu, ohne ihn zu hinterfragen, und wurde Soldat. Doch man muss nicht unbedingt mit einem Ex-Soldaten als Vater aufwachsen, um romantisch-verklärende und irreführende Geschichten über den Krieg zu hören. Die amerikanische Massenkultur produziert am laufenden Band Filme, die den Krieg romantisch verklären und verherrlichen. Sie zeigen den Krieg fast nie so, wie er wirklich ist.

Doch der Krieg, ob echt oder im Film, ist nicht der einzige Ort, an dem eine kriegerische Mentalität kultiviert wird. Sie wird auch durch den Sport an den Schulen befördert. In der High School war ich ein guter Sportler. Im Grunde hatte ich es meiner sportlichen Begabung zu verdanken, dass ich nicht von der Schule gewiesen wurde; ich war in allen Sportarten, die angeboten wurden, ziemlich gut: Baseball, Football, Ringen. Und in all diesen Sportarten, in all den Mannschaften herrschte diese kriegerische Mentalität. Auf diese Weise wurde ich konditioniert: durch die Gesellschaft, die Kultur (Filme, Literatur …), die Geschichten meines Vaters, die Geschichten der Freunde meines Vaters und meine eigenen Erfahrungen auf dem Sportplatz. Ich kannte die Wahrheit nicht; ich hatte nicht klar vor Augen, was wirklich geschah. Ich besaß eine romantische Vorstellung von Wettstreit, von Kampf und Krieg. Für mich waren kriegerische Auseinandersetzungen nur ein weiteres Spiel.

Gleichzeitig war ich sehr unsicher, extrem unsicher, schüchtern und zurückhaltend und äußerst misstrauisch. Wenn ich Soldat wurde und in den Krieg zog, so stellte ich mir vor, würde ich eine Menge Orden einheimsen und als Held heimkehren, geliebt und geachtet und versorgt werden. So lautete der Kern der Geschichten: Genau so würde es sein, und ich würde mir über nichts groß Gedanken machen müssen. Romantische Vorstellungen bewogen mich, Soldat zu werden. »Geh zur Armee«, sagte mein Vater, »dort werden sie einen Mann aus dir machen.« Und wenn ich ein Mann war, so dachte ich, würde man mir mit Respekt, Liebe und Fürsorge begegnen.

Ich erinnere mich genau daran, wie mein Vater mich zum Bus brachte. Wir fuhren von Waterford, Pennsylvania, nach Erie, Pennsylvania, eine Strecke von etwa vierzig Kilometern. Mein Vater brachte mich zu der Stelle, an der der Bus halten sollte. Ich hatte einen kleinen braunen Koffer bei mir … den Koffer eines Pfadfinders. Ja, pfadfinderbraun. Und ich hatte mit schwarzem Filzstift meinen Namen auf den Koffer geschrieben. Mein Vater fuhr mich zur Bushaltestelle, kaufte mir eine Fahrkarte und ließ mich dort allein zurück. Er wartete nicht auf den Bus. Er ließ mich einfach allein zurück. Verließ mich. Ließ mich im Stich. Meine Gefühle waren so heftig, so stark, dass ich sie nicht zuzulassen vermochte.

Der Bus brachte mich von Erie nach Buffalo, New York, hundertfünfzig Kilometer weiter, wo ich gemustert werden sollte. Als ich in Buffalo ankam, erhielt ich einen Gutschein für ein Hotel. Das Zimmer war ziemlich groß, und ich musste es mir mit mehreren anderen jungen Männern teilen. Ich ging als Erstes los und kaufte mir was Alkoholisches zu trinken. Ich war nicht bewusst auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, aber ich muss entsetzliche Angst gehabt haben. Also zog ich los und besorgte mir Alkohol – oder jemand anders besorgte ihn – und betrank mich. Auf diese Weise konnte ich vor meiner Angst flüchten.

Am nächsten Morgen hatte ich einen ziemlichen Kater, aber ich musste aufstehen und zur Musterung erscheinen. Wir alle mussten uns der ärztlichen Untersuchung unterziehen und eine Menge Papierkram ausfüllen. Dann wurden wir in einen anderen Raum geführt und legten den Eid ab. Ich war nun Soldat.

Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Zug nach Fort Dix in New Jersey. Das letzte Stück zur Kaserne legten wir mit dem Bus zurück. Als wir ausstiegen, begrüßte uns ein Feldwebel, indem er uns unflätig beschimpfte, uns anschrie und uns demütigende Obszönitäten an den Kopf warf. Ich dachte sofort: »Meine Entscheidung war falsch. Ich habe eine schlechte Wahl getroffen. Das hier gefällt mir nicht. Mein Vater hat mich belogen. Das hier ist kein Spaß.« Ich wollte einfach nur nach Hause. Aber ich konnte nicht nach Hause gehen. Mein Leben hatte eine unwiderrufliche Wende genommen.

Als Erstes bekamen wir unsere Grundausrüstung: Decken, Uniform und Stiefel, Unterwäsche, Handtücher und eine Tasche, in der wir alles verstauen konnten. Dann mussten wir uns die Haare schneiden lassen. Wir schrieben das Jahr 1965; mein Haar war ziemlich lang. Der Einfluss der Beatles. Als ich vor dem Friseur stand, tauften die anderen mich Professor – vermutlich wegen meiner langen Haare. Ich begriff letztlich nicht, was da vor sich ging. Doch dann war ich auch schon an der Reihe, nahm auf dem Stuhl Platz, und der Friseur schor mir den Kopf. Es war demütigend.

Die achtwöchige Grundausbildung war eine schwierige Zeit für mich. Ich wollte nicht dort sein. Es war ein echter Kampf für mich. Die körperlichen Herausforderungen der Grundausbildung meisterte ich vorzüglich, aber ich hatte enorme Probleme mit der Disziplin, denn sie erschien mir sinnlos. Sie ergab für mich einfach keinen Sinn. Ich begriff nicht, dass es einzig darum ging, meinen Willen zu brechen. Meinen Willen zu brechen und mich nach ihrem Bilde wieder aufzubauen. Ich legte großen Widerstand an den Tag, und die Zeit war sehr schwer für mich.

Nach der ersten Hälfte der Grundausbildung kam ein Zeitpunkt, an dem ich äußerst mutlos war. Ich betrat die Kaserne und schlug mit der Faust jedes einzelne Fenster ein, an dem ich vorüberkam. Meine Fäuste waren voller Schnittwunden und bluteten. Ich ging nach oben und ging in ein Zimmer, schloss die Tür, verbarrikadierte sie mit einem Spind und kletterte zum Fenster hinaus. Ich setzte mich auf das Dach. Ein Oberleutnant, ein sehr aggressiver, zorniger, unsensibler junger Mann von Anfang zwanzig, kletterte zu mir hinaus. Ich weinte und wusste nicht, was ich tun sollte. Die Gefühle überschlugen sich in mir. Er reagierte darauf, indem er mich schlug. Er schlug mich ins Gesicht und boxte auf mich ein. Wenn ich das gemeldet hätte, wäre er in ernste Schwierigkeiten geraten. Doch ich kapierte gar nicht, dass er mich nicht hätte schlagen dürfen – misshandelt zu werden war für mich nichts Ungewöhnliches.

Später sprach ein Feldwebel mit mir. Er war ein freundlicher Mann, ein guter Mensch, und er zeigte ein gewisses Maß an Mitgefühl mit mir. Sein Handeln hat mich wirklich berührt. Er schien sich wahrhaftig um mich zu sorgen und hat mich sehr unterstützt; er half mir, in einer Welt zurechtzukommen, auf die ich in keinster Weise vorbereitet gewesen war. Er sagte: »Hör zu. Du wirst nicht nach Hause zurückkehren. Du wirst die nächsten drei Jahre hier sein, also mach das Beste daraus.« Die Art, wie er das sagte, veranlasste mich, emotional dichtzumachen – mich gegen all meine Gefühle vollkommen abzuschotten. Ich sagte: »Okay, dann werde ich das eben durchziehen. Ich werde mein Bestes tun, um ein guter Soldat zu sein. Ich werde einfach all meine Gefühle unterdrücken. Ich werde mein Bestes geben.«

Ein Teil von mir wollte sich wirklich davonmachen. Ich wusste bloß nicht, wie ich es anfangen sollte. Ich war auch so jung, viel jünger als all die anderen dort. Während meiner ganzen Soldatenlaufbahn war ich immer und überall der Jüngste. Ich war der Jüngste bei meiner Grundausbildung, ich war der Jüngste bei meiner weiteren Ausbildung und war der Jüngste in meiner Einheit in Vietnam. Ich war jung und hatte nicht den geringsten Durchblick.

Angesichts des ganzen Irrsinns, der Misshandlungen, der Manipulation, der Zwangsmaßnahmen und auch angesichts der Art von Menschen, mit denen ich zu tun hatte, fühlte ich mich völlig überfordert. Ich stammte aus einem kleinen Ort in einer ländlichen Gegend und wusste nicht mit dieser Art von Menschen umzugehen. Ich wurde ziemlich schikaniert, wurde häufig ausgenutzt, häufig von älteren Menschen manipuliert. Ich hatte keine Kontrolle über mein Leben, trank eine Menge Alkohol und war fast die ganze Zeit über mehr oder weniger betrunken. Ich trank jeden Tag. Sobald wir die Erlaubnis hatten auszugehen, hing ich jeden Abend in den Bars herum. Ich begann ernstlich zu leiden. Und ich hatte bald enorme Geldprobleme. Weil ich schwer trank und zunehmend alkoholabhängig wurde, reichte mein Geld nie von einem Zahltag bis zum nächsten. Infolgedessen bekam ich Ärger mit den Leuten, von denen ich mir Geld lieh, denn ich lieh mir stets mehr, als ich zurückzahlen konnte. Mein Leben geriet mir völlig außer Kontrolle. Und doch zeigte sich eine merkwürdige Kontinuität darin. Das Militär war eine natürliche Fortführung der Misshandlungen und der Vernachlässigung, die ich als Kind erlebt hatte.

Um meine zunehmend ausweglose Lage zu verändern, meldete ich mich freiwillig zum Einsatz in Vietnam. Anfangs hieß es, ich könne nicht gehen, weil ich zu jung sei. Ich blieb hartnäckig. Ich musste dem Schlamassel entrinnen, den ich angerichtet hatte. Dann hieß es, ich solle einen Aufsatz über die Frage schreiben, warum ich nach Vietnam gehen wollte, und wenn die Argumentation überzeugend sei, würde ich hingeschickt. Das war 1966. Der Krieg eskalierte, die Gefechte wurden schwerer und verlustreicher, und sie brauchten mehr Soldaten. Außerdem glaube ich, dass die Einheit, bei der ich stationiert war, froh war, mich loszuwerden. Ich war beileibe kein unproblematischer Soldat – ich war ständig betrunken und zertrümmerte Fensterscheiben und schlug sonstwie über die Stränge. Heute verstehe ich, warum ich über die Stränge schlug. Ich agierte all die Ursachen und Bedingungen meines Lebens aus – mein Leiden. Aber die Armee war nicht der rechte Ort dafür; dort scherte man sich nicht um einen jungen Mann, der nicht mit sich zurechtkam. Dort war niemand, der gesagt hätte: »He, mit diesem Jungen stimmt was nicht. Er braucht Hilfe.«

In Vietnam war ich unmittelbar für den Tod vieler, vieler Menschen verantwortlich. Doch ich betrachtete das, was ich tat, nicht als das Töten von Menschen. Das Ziel meiner Ausbildung war es gewesen, den Feind zu entmenschlichen, und dieses Ziel war erreicht worden.

Ich kapierte nicht, dass ich erschossen
werden konnte

Anfangs war ich beim 90. Reservebataillon in Tan San Nhut stationiert, und zwar für etwa zehn Tage. Jeden Morgen traten wir zum Appell an und zählten durch. Dann hieß es: Okay, die mit der Nummer eins gehen hierhin, die mit der Nummer zwei dorthin, die mit der Nummer drei machen dieses, der Rest jenes. Am zehnten Tag wurden alle, die die Nummer drei hatten, zur Kampfhubschrauber-Einheit beordert, um Bordschützen im Helikopter zu werden. An dem Tag war ich eine Nummer drei, also wurde ich Bordschütze. »Packt eure Sachen«, hieß es, »hier sind eure Befehle. Trefft euch dort drüben. Dort wird man euch sagen, wo es hingeht.« Es blieb keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit, um zu begreifen, was da eigentlich geschah.

In Phu Loi, in der Nähe von Saigon, wurde ich der 116. Kampfhubschrauberkompanie zugewiesen. Ich wurde in die Kaserne geschickt und bekam eine Pritsche und einen Platz für meine Sachen zugewiesen, und dann wurde ich dem Einsatzleiter vorgestellt, mit dem ich fliegen würde. Er zeigte mir, wo das Waffenarsenal war, der Ort, an dem das Handwerkszeug meines neuen Gewerbes aufbewahrt wurde. M-60 (Kaliber 7,62 mm/ .30-06), Maschinengewehre. Er zeigte mir auch, wie die Waffen gereinigt werden. Dann nahm er mich mit zum Hubschrauber und zeigte mir, wie die Gewehre in Position gebracht und geladen werden, und klärte mich über meine weiteren Verantwortlichkeiten zu Boden und in der Luft auf. Dann meinte er: »Heute Nachmittag fliegen wir eine einfache kleine Tour. Wir holen die Post ab und bringen ein paar Leute auf Urlaub nach Tan San Nhut Bien.«

Sobald wir abhoben, bestand meine Aufgabe darin, Obacht zu geben, ob die Luft auf der linken Seite rein war, und dem Piloten Bescheid zu sagen, wenn sich ein Flieger näherte. Ich hatte keine Ahnung, was ich da eigentlich tat. Ich hatte keinen blassen Schimmer. Ich kapierte nicht, dass ich erschossen werden konnte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich da eigentlich tat – ich wusste nur, dass ich Angst hatte und durcheinander war und dass beides nicht hätte sein dürfen. Da ich nicht in der Lage war, wirklich etwas zu fühlen, verfiel ich in einen Zustand der Fühllosigkeit oder besser gesagt, in einen emotionalen, spirituellen, psychischen Schockzustand.

An jenem ersten Tag wollten wir einfach nur die Post abholen, doch wir wurden in Kampfhandlungen verwickelt. An diesem ersten Tag, an dem ich im Hubschrauber flog, gerieten wir in schwerste Gefechte. Ich war verwirrt und völlig verstört. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich eine größere Anzahl von Leichen. Tote amerikanische Jungen und tote vietnamesische Jungen. Ich sah und hörte und spürte die Verwundeten. Ich sah, wie einer unserer Hubschrauber unter dem Bauch eines anderen Hubschraubers davongetragen wurde. Der nicht mehr flugfähige Hubschrauber wurde auf einem provisorischen Landeplatz im Dschungel abgesetzt, und ein Tankwagen voll Wasser erschien aus dem Nichts, und aus dem kletterten Leute und spritzten die Hubschrauberkabine aus, denn sie war voller Blut, war geradezu blutrot ausgemalt. Während sich diese Szenen um mich herum abspielten, hoben wir erneut ab und flogen in die nächtliche Schlacht. An diesem ersten Tag wurde ich abgeschossen, und der Hubschrauber war außer Gefecht gesetzt. Wie es im Jargon der Vietnamkämpfer heißt: »Ich verlor meine Kirsche.« Das war meine Einführung in Vietnam. Die nächsten elf Monate verbrachte ich in einem Zustand andauernder Angst und einem fortwährenden Überlebenskampf. Ich war als Infanterist ausgebildet worden, hatte den Umgang mit Handfeuerwaffen und schwerem Geschütz gelernt und eine Grundausbildung in Erster Hilfe erfahren. Aber all das hatte mich nicht auf das vorbereitet, was ich hier vorfand, also reagierte ich, indem ich auf meine Kindheitserfahrungen zurückgriff – ich spielte. Ich spielte Cowboy und Indianer, ich spielte Krieg. Ich spielte ziemlich gut.

Es gab einen Toten und zwei Verwundete. Ich versuchte einfach nur, mich ruhig zu verhalten. Ich hatte entsetzliche Angst, doch ihr durfte ich mich nicht überlassen. Ich wusste nicht, ob ich schießen oder mich ruhig verhalten sollte. Ich beschloss, mich ruhig zu verhalten, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Sobald du deine Position verraten hast, bist du verletzlich. Es war genauso wie beim Cowboy-und-Indianer-Spielen in den Wäldern, mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Kugeln echt waren und Menschen töten konnten.

Die Kampfhandlungen verebbten, und schließlich wurden wir evakuiert. Sie hatten uns nicht früher rausholen können, weil die Gefechte zu heftig gewesen waren.

Während der ganzen Zeit, die wir warten mussten, weinte ich nicht. Ich weinte nicht und ich betete nicht. Ich hörte später eine Menge Menschen, die voller Angst waren, die nach ihrer Mutter oder sonst jemandem riefen. Oder beteten. Aber ich war stolz auf mich. »Ich weine nicht, ich bete nicht. Denn worum sollte ich beten? Wenn es einen Gott gäbe, wie könnte dann das hier geschehen?« Ich betete nicht, ich wandte mich an nichts und niemanden um Hilfe. Ich war stolz auf mich. Heute weiß ich, dass der Drill, die Entmenschlichung, funktioniert hatte.

Ich wurde ein wirklich guter Soldat. Ich war wirklich gut in Vietnam und bekam eine Menge Auszeichnungen und Orden. Ich war gut, sehr gut.

Und ich genoss meinen Job! Nicht etwa so, wie man eine Wanderung in den Bergen genießen mag, doch ich genoss ihn in dem Sinne, dass ich mich nützlich fühlte, ich hatte dort eine Aufgabe. Das ergab Sinn für mich. Man stelle sich das vor: das Chaos des Krieges, der Irrsinn des Krieges – dort fühlte ich mich wohl. Das war mein Leben – dort fühlte ich mich am rechten Ort.

Dieser Junge, siebzehn Jahre alt, zu Tode verängstigt … Fort! Fort! Fort! Zack – in jener ersten Nacht, in der wir abgeschossen wurden – fort! Der Junge hatte keinen Raum dort. Diese Art von Gefühlen hatte keinen Raum dort.

Man kann nicht Gefühle haben und gleichzeitig in einer solchen Situation funktionieren. Und genauso war es bei mir zu Hause gewesen. Im Chaos war ich in meinem Element. So wuchs ich auf, also war es für mich völlig normal. Ich habe hart gearbeitet, sehr hart, um aus dieser Welt des Chaos’ herauszukommen. In Krisensituationen funktioniere ich immer noch sehr gut, aber es ist heute ganz anders. Ich muss meine Welt nicht länger nach diesem Vorbild formen, um zu funktionieren.

In Vietnam war ich mir meiner Gefühle nicht bewusst. Der militärische Drill und das soziale und kulturelle Umfeld, in dem ich heranwuchs, hielten mich von meinen Gefühlen getrennt und ließen sie mir nicht bewusst werden. Ich habe nicht für die Demokratie oder irgendwelche Ideale gekämpft, als ich in Vietnam war. Dieser Mythos starb noch während der ersten Wochen. Danach blieb mir nur, der bestmögliche Soldat zu werden, damit ich mir und so vielen jungen Männern wie nur möglich helfen konnte, am Leben zu bleiben. Das wurde Sinn und Zweck meines Handelns.

Ich wurde Mannschaftsführer für den Hubschraubereinsatz. Ich war für Transporthubschrauber zuständig – das waren Hubschrauber, die Soldaten zu Kampfeinsätzen brachten, Verletzte evakuierten, Nachschub heranschafften usw. – und für Kampfhubschrauber – das waren diejenigen, die eingesetzt wurden, um Soldaten am Boden Feuerunterstützung zu geben. Als Mannschaftsführer hatte ich nahezu jeden Tag, den ich in Vietnam war, einen Kampfeinsatz. Unter den Auszeichnungen, die ich erhielt, ist auch die Air Medal. Um sie zu bekommen, muss man fünfundzwanzig Kampfeinsätze fliegen und fünfundzwanzig Gefechtsstunden nachweisen. Ich bekam über fünfundzwanzig Air Medals. Das beläuft sich auf über sechshundertfünfundzwanzig Gefechtsstunden und Kampfeinsätze. Bei all diesen Einsätzen wurden Menschen getötet, aber ich betrachtete sie nicht als Menschen.

Ich begegnete dem vietnamesischen Volk nur auf eine einzige Weise: Ich betrachtete es als meinen Feind. Jeden Einzelnen von ihnen: Ladenbesitzer, Bauern, Kinder, Babys, Frauen, Friseure. Einmal wurden wir außerhalb eines Dorfes im Mekong-Delta abgeschossen. Aus irgendeinem Grund machte ich mich zusammen mit sechs weiteren Soldaten auf den Weg in dieses Dorf. Es war eine Gegend, in der es viele feindliche Attacken gab, aber jenes Dorf sollte friedfertig sein. Als wir das Dorf erreichten, gingen wir an drei oder vier Männern vorüber, die Mönche zu sein schienen: Sie hatten kahlgeschorene Schädel und trugen safrangelbe Roben. Als sie etwa dreißig, vierzig Meter hinter uns waren, drehten sie sich um und eröffneten das Feuer mit AK 47 Sturmgewehren. Von meinen Kameraden wurden drei getötet und zwei verwundet. Getötet und verwundet von Mönchen. Waren es wirklich Mönche gewesen? Ich weiß es nicht. Für uns sahen sie wie Mönche aus. Also waren auch Mönche unsere Feinde.

Ein andermal wurden wir von einem Dorf aus mit automatischen Waffen beschossen. Die Einheit bat uns um Verstärkung. Wir flogen mit zwei schwer bewaffneten Kampfhubschraubern hin und hatten den Befehl, das gesamte Dorf zu zerstören. Und genau das taten wir. Wir haben alles zerstört. Da gab es nichts, das nicht der Feind war. Das Töten war völliger Irrsinn. Wir haben alles getötet, was sich bewegte: Männer, Frauen, Kinder, Wasserbüffel, Hunde, Hühner. Ohne jedwedes Gefühl, ohne jeden Gedanken. Schlicht aus Irrsinn. Wir haben alles dem Erdboden gleichgemacht: Häuser, Bäume, Karren, Körbe, alles. Als wir fertig waren, ließen wir nichts als Leichen, Feuer und Rauch zurück. Es war alles wie in einem Traum, es schien nicht wirklich. Doch alles, was ich tat, geschah in Wirklichkeit – ich bemerkte es nur nicht. Der militärische Drill, dem ich mich unterworfen hatte, erwies sich als sehr wirkungsvoll. Doch er hatte seinen Preis.

Meine Aufgabe bestand darin, Menschen zu töten. Als ich das erste Mal verwundet wurde, war ich bereits unmittelbar für den Tod von mehreren Hundert Menschen verantwortlich. Heute noch, jeden Tag, sehe ich ihre Gesichter vor mir.

Mein Töten war das Ergebnis der Erziehung und Ausbildung, die ich zu Hause, in der Schule, auf dem Sportplatz und in der Armee genossen hatte. Mit Ausnahme einiger speziell militärischer Aspekte dieses Szenarios teilen wir alle, die wir in dieser Gesellschaft und in dieser Kultur aufgewachsen sind, dieselben Erfahrungen. Darin liegt die Saat des Krieges. Diese Saat liegt in der Entmenschlichung anderer Menschen, die wiederum ihre Ursache in der Entmenschlichung unserer selbst hat. Was hat mir größeren Schaden zugefügt? Die Tatsache, dass ich einen Feind getötet habe, der versucht hatte, mich zu töten? Oder die Tatsache, dass mein Ausbilder mich angepinkelt hat? Oder dass mein Vater mich grün und blau geschlagen hat und ich von Kopf bis Fuß blutete (das alles unter dem Deckmäntelchen der Liebe). Ich weiß die Antwort nicht. Aber ich glaube, dass all diese Dinge gleich viel wiegen, was ihre Wirkung auf uns anbelangt – die unmittelbare und tiefgreifende Wirkung.

Der andere Krieg

Als ich, zurück in den Vereinigten Staaten, aus dem Krankenhaus kam, in dem ich neun Monate verbringen musste, sah ich mich nicht in der Lage, unter Menschen zu sein und mich wieder in mein soziales und kulturelles Umfeld einzufügen. Zum einen, weil ich mich so anders fühlte; zum anderen, weil die Menschen zu Hause kein Interesse daran zeigten, mich oder andere Soldaten wieder zu integrieren. Wir wurden emotional, psychisch und sogar physisch auf Distanz gehalten. Wir wurden ganz klar an den Rand gedrängt. Ich verstand das, ich konnte es spüren und schmecken, aber ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Zu jener Zeit war der Krieg in meinen Gedanken allgegenwärtig. Alles, womit ich in Berührung kam, erinnerte mich an den Krieg. Ich konnte nicht mehr schlafen. Wenn ich versuchte, mit anderen Menschen darüber zu sprechen, sagten sie bloß: »Der Krieg ist vorbei – vergiss ihn. Leb dein Leben und blick in die Zukunft. Es ist vorbei. Du hast überlebt.« Doch das konnte ich nicht. Also fing ich an, Drogen zu nehmen, um meine Einsamkeit oder die Zurückweisung, die ich erfuhr, zu kaschieren; um die Erinnerungen abzumildern, um den Geräuschen, den Gesichtern, den Gerüchen zu entgehen, die an mir hingen wie Stinktiersekret in heißer, verpesteter Nachtluft.

Als ich aus Vietnam zurück und aus dem Militärkrankenhaus entlassen worden war, wollte ich wieder so sein, wie ich vorher gewesen war. Ich wollte wieder siebzehn Jahre alt sein und ein ganz normales Leben führen. Das war unmöglich. Ich fügte mich nicht länger ein. Es gab keinen Platz für mich in der Gesellschaft. Ich war zu einem Killer ausgebildet worden, und man hatte mich nie darin unterstützt, etwas anderes als ein Killer zu werden. Nun war ich einfach freigesetzt, mir selbst überlassen.

Während meines Krankenhausaufenthaltes hatte ich Genesungsurlaub und kehrte in meine Heimatstadt zurück. Mein Oberkörper war in Gips. Zu Hause besuchte ich ein Footballspiel. Ich stand in der Nähe des einen Tores und verfolgte das Spiel, und plötzlich warf jemand einen Knallfrosch. Ich warf mich instinktiv zu Boden. Die Leute um mich herum lachten. Ich mühte mich, wieder auf die Füße zu kommen, was nicht so einfach war wegen des Gipsverbandes. Schließlich gelang es mir, und ich lief voller Panik und Beschämung davon. Es war das Lachen – das Gelächter war schmerzhafter als die Kugeln. Und ich lief und lief und lief; ich versuchte, vor meinen Gefühlen davonzulaufen, mich in Sicherheit zu bringen. Erst im Jahre 1983 hielt ich in meinem Laufen inne.

Mein Laufen nahm viele verschiedene Formen an. Ich lief, indem ich Drogen nahm; ich lief, indem ich Alkohol trank; ich lief, indem ich Zigaretten rauchte; ich lief, indem ich Sex hatte; ich lief, indem ich von einem Ort in den nächsten zog. Ich blieb nie länger als sechs Monate an ein und demselben Ort, denn ich konnte es nicht ertragen, dass mir jemand nahe kam, mich kennen lernte. Denn würde man mich kennen, würde man mich verabscheuen. Die Botschaft war klar – ich empfing sie tagtäglich: Weil ich Soldat in Vietnam gewesen war, war ich nichts wert.

Als ich nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus auf dem Weg nach Hause war, musste ich auf dem Flughafen von Newark, New Jersey, umsteigen. Ich war neunzehn Jahre alt, ein hochdekorierter Soldat. Ich verspürte so etwas wie Stolz, ich wollte stolz sein. Ich glaubte an die amerikanische Propaganda, die Kriegsfilme – wenn ich als Kriegsheld heimkehrte, würden die Menschen mich lieben, Jobangebote würden mich erwarten, die Frauen würden verrückt nach mir sein. Als ich durch das Flughafengebäude ging in meiner Uniform, mit all den Orden, näherte sich mir eine junge Frau. Ich dachte, sie wolle mir danken oder mir sagen, wie sehr sie mich schätze. Ich dachte, dass sie die Arme um mich schlingen und mich innig küssen werde – so hatte ich es in vielen Kriegsfilmen gesehen, und ich war sehr aufgeregt. Doch als sie ganz nahe war, spuckte sie mich an. Das hat mich tiefer getroffen als jeder Messerstich. Und ich bin sicher, dass sie ihr Tun für gerechtfertigt hielt. Ich bin sicher, dass sie das, was sie tat, für richtig hielt. Auch in einer solchen Tat liegt die Saat des Krieges. Ich weiß nicht, warum ich nicht gewalttätig auf sie reagierte, warum ich sie nicht auf der Stelle tötete. Ich denke, es war auf meine Verwirrung insgesamt zurückzuführen. Stattdessen ging ich in die nächste Bar und betrank mich. Ich blieb bis 1983 betrunken.

Nach dem Krieg machte ich einen weiteren Krieg durch, und zwar als Überlebender des Traumas. Ich sonderte mich mehr und mehr von anderen Menschen ab, nahm mehr und mehr Drogen und lebte mehr und mehr am Rande der Gesellschaft.

Ich suchte immer außerhalb meiner selbst nach Rettung, nach irgendeiner Antwort. Wenn ich nur die richtige Zusammensetzung von Drogen herausbekam, würden die Gefühle weggehen. Wenn ich nur den richtigen Job fand, wäre alles in Ordnung. Ich musste von anderen angenommen, für wert befunden werden.

Als ich aus dem Krieg heimkehrte, ging ich zunächst auf das Slippery Rock State College in Pennsylvania. Zu jener Zeit entdeckte ich die Frauen und hatte viele Beziehungen, von denen keine andauerte. Ich weiß nicht mehr, ob ich überhaupt den Wunsch nach einer längerfristigen Beziehung hatte, doch bei jeder neuen Begegnung dachte ich: Das ist nun die Eine. Doch bei dem, was ich zunächst für eine machtvolle Verbindung hielt, war letztlich nur die physische Vereinigung entscheidend. Kaum hatten wir Sex, kehrte die Fühllosigkeit zurück, und ich verließ die Frau und suchte die nächste »Liebe«. Einige Zeit war ich mit einer katholischen jungen Frau zusammen. Eines Tages erzählte sie mir, dass sie schwanger sei. Ich wollte nicht wirklich heiraten, doch ich wollte das Kind. Ich glaubte, dieses Kind könne irgendwie meine Rettung, meine Erlösung sein. Hätte ich erst ein Kind, so würde das meinem Leben einen Sinn geben, einem Leben, das ansonsten bar jeden Sinnes, bar jeder Gefühle, bar jeder Vertrautheit und Nähe war. Wir heirateten und hatten einen Sohn. Doch so sehr ich auch geglaubt hatte, dass ich wollte, was ich nun hatte, dass dies meine Rettung sei, so sehr täuschte ich mich. Drei Jahre später verließ ich meinen Sohn und seine Mutter.

Als mein Sohn noch klein war, schlief er in seiner Korbwiege bei seiner Mutter und mir im Zimmer. Es regte mich immer furchtbar auf, wenn mein Sohn weinte; ich musste dann das Haus verlassen oder zu Drogen greifen; ich musste irgendetwas tun, um dem wilden Aufruhr, in den ich geriet, zu entkommen. Ich musste weg davon. Ich verstand nicht, warum das so war – es war mir nicht klar. Ich dachte, ich sei verrückt, irrsinnig, mit mir stimme etwas nicht. Wann immer mein Sohn in seinem Bettchen lag und weinte, verspürte ich einen ungeheuren Drang, wegzulaufen, aus dem Haus zu rennen. Oder ich flüchtete eben auf andere Weise aus der Situation: Ich trank, ich nahm Drogen. Egal was, Hauptsache, ich konnte der Wirklichkeit einer Erfahrung entrinnen, die jenseits meines Begriffsvermögens lag. Heute begreife ich es: Weinen, bei mir oder anderen, versetzte mich in schreckliche Angst, war mir unerträglich. Unglücklichsein war verboten.

Nach meiner Rückkehr aus dem Krieg wurde ich gebeten, mich der Friedensbewegung anzuschließen, und das tat ich. Doch ich machte klar, dass ich kein Pazifist war. Ich schloss mich der Friedensbewegung an, weil ich wollte, dass der Krieg beendet wurde, denn er wurde nicht ordentlich geführt. Wenn wir in Vietnam waren, dann sollten wir kämpfen, um zu gewinnen. Wenn wir nicht kämpften, um zu gewinnen, dann sollten wir nicht dort sein. Das war 1968/69 meine Einstellung.

In meinen Augen war die damalige Friedensbewegung außerdem eine Kriegsbewegung – sie war gewalttätig und hässlich. Wir Vietnam-Veteranen stellten eine geschätzte Bereicherung für die Bewegung dar und waren zugleich doch verzichtbar. Wenn wir ihren Zwecken dienen konnten, wollten sie uns dabei haben, doch wenn es um unsere Heilung ging, boten sie uns keinerlei Unterstützung an.

1969 oder 1970 traf ich mich mit anderen Vietnam-Veteranen in Washington, D. C., wo wir uns mit Handschellen an den Zaun rings um das Weiße Haus anketteten. Die Auszeichnungen, die wir für unseren Vietnameinsatz bekommen hatten, warfen wir über den Zaun. Die Polizei erschien und verprügelte uns. Das ist der Irrsinn des Krieges, der Gewalt. Das waren die Menschen, für die ich gekämpft hatte. Das waren die Menschen, für die ich mein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um deren Demokratie zu verteidigen.

Ich glaube, am Slippery Rock State College in Pennsylvania war ich zu jener Zeit der einzige Kriegsveteran dort. Es war kurz nach dem Massaker von My Lai. Ich hatte einen Kurs in Politikwissenschaft belegt. Es entspann sich eine Diskussion über das Massaker und die entsetzlichen Gräuel, die amerikanische Soldaten begangen hatten. Der selbstgerechte Tenor lautete, dass Leutnant Calley, der für diesen Trupp Soldaten verantwortlich gewesen war, zur Rechenschaft gezogen und mit dem Tode bestraft werden solle. Es waren Studentinnen und Studenten, die zu den Friedensaktivisten am College zählten, nicht etwa Soldaten, die diese Forderung äußerten.

Ich erhob mich und sagte: »Wenn dieser Leutnant ein Kriegsverbrecher ist, was ist dann mit Harry Truman? Er hat Hunderttausende von japanischen Zivilisten getötet, indem er zwei Bomben geworfen hat.« Aber darüber wollten sie nicht sprechen. Sie meinten nur: »Wer bist du schon, dass du so redest? Du verstehst die Natur des Krieges nicht.« An diesem Punkt gab ich mich als Vietnam-Veteran zu erkennen, kriegsversehrt, mehrfach verwundet, noch vor meinem zwanzigsten Geburtstag. An diesem Punkt sagte ich: »Ihr seid diejenigen, die die Natur des Krieges nicht verstehen. Ihr versteht nicht, womit Soldaten Tag für Tag konfrontiert werden, nur um euer Recht zu verteidigen, das zu tun, was ihr gerade tut. Ihr begreift nichts.« Ich war außer mir vor Rage. Rage ist keine echte Wut. Rage ist ein riesiges Pulverfass nicht bewältigter Gefühle. Rage setzt sich aus tief sitzenden Gefühlen von Traurigkeit und Machtlosigkeit, von Verzweiflung und Abgewiesensein zusammen. Doch von all dem wusste ich nichts; ich konnte diese Gefühle nur in Form von Rage ausdrücken. Das Nächste, an das ich mich erinnere: Ich werde von der Polizei mit vorgehaltener Pistole abgeführt. Vom Zeitpunkt meiner Rückkehr aus Vietnam bis etwa einen Monat, bevor ich in eine Rehabilitationsklinik für Drogenabhängige ging, trug ich eine Waffe bei mir. Ohne Waffe fühlte ich mich nicht sicher. Ich schlief damit, ich aß damit, ich ging damit zur Schule, ich hatte eine in meinem Wagen liegen. Mein Sicherheitsgefühl hing von dieser Waffe ab. Mein Sicherheitsgefühl hing von etwas außerhalb meiner selbst ab. Zu jener Zeit verfügte ich noch nicht über die Einsicht, dass Schutz und Geborgenheit nicht davon abhängen, die Welt zu beherrschen, so dass sie meiner Vorstellung von dem, wie sie zu sein hat, entspricht. Ich wusste nichts von der Zweiten Edlen Wahrheit des Buddha zu den Ursachen des Leidens: Selbstsüchtiges Verlangen, Gier und Unwissenheit. Die äußere Welt beherrschen zu wollen, so dass sie meinen Vorstellungen von dem, wie sie zu sein hat, entspricht, ist Selbstsüchtiges Verlangen, Gier und Unwissenheit. Ich wusste nur das, was meine Familie und die Gesellschaft mir vermittelt hatten. Die Lösung für eine unangenehme Situation bestand darin, die Welt so zu formen, wie ich sie haben wollte. Wenn ich die Waffe habe, bin ich am Drücker und kann die ganze Welt dazu bewegen, sich mir zu fügen. Heute weiß ich, dass Schutz und Geborgenheit einzig aus der Einsicht stammen können, dass ich die Welt nicht nach meinen Vorstellungen formen kann; ich muss lernen, in Einklang mit dem Leben, wie es ist, zu leben.

Eines Nachts im Jahre 1978 saß ich auf den Eingangsstufen zu meinem Haus mit einer ungeladenen Waffe unter dem Kinn und zog den Abzug durch – klick, klick, klick – und tobte und weinte, weil der Schmerz mich überwältigte. Ich wollte nichts als sterben. Nein, ich wollte nicht wirklich sterben; ich wusste nur nicht, wie ich mit all dem leben sollte. Ich suchte außerhalb meiner selbst nach etwas, das mir helfen könnte, das mich wieder in Ordnung bringen würde, das mich genesen lassen würde. Aber nichts funktionierte.

Oftmals habe ich gedacht, dass die jungen Männer, die in Vietnam starben, das bessere Los gezogen haben. Diejenigen von uns, die nicht gestorben sind, die mit dem Trauma und der Wirklichkeit dieser Erfahrung leben müssen, zahlen tagtäglich den Preis. Wir sind die Sündenböcke einer ganzen Nation, einer ganzen Kultur, die die Verantwortung für ihre Entscheidungen, für ihre Taten nicht übernehmen will.

Krieg beginnt nicht mit einer Kriegserklärung. Krieg endet auch nicht mit einem Waffenstillstand. Die Saat des Krieges wird fortwährend gesät, und die Ernte endet nie. Ich habe Krieg erlebt, bevor ich in den Krieg zog: in meiner Familie, im Krieg und im Krieg nach dem Krieg.

1985 ging ich nach Washington, D. C., um mir das Denkmal für den Vietnamkrieg anzusehen: eine schwarze Steinwand mit den eingravierten Namen der 57 263 Amerikanerinnen und Amerikaner, die in Vietnam gestorben sind. Bis heute ist die Anzahl der Amerikaner, die in Vietnam ums Leben kamen, auf 58 206 gestiegen. Ich bin 1968 aus Vietnam heimgekehrt. Ich habe bis 1985 gebraucht, um hinzugehen und mir diese Namen anzusehen. Das amerikanische Engagement in Vietnam endete offiziell im Jahre 1975. Von 1975 bis heute haben sich einer Schätzung zufolge über 100 000 amerikanische Männer und Frauen, die in Vietnam eingesetzt waren, das Leben genommen. Zwischen vierzig und sechzig Prozent aller Obdachlosen in den Vereinigten Staaten sind Vietnam-Veteranen. Vietnam-Veteranen haben eine Scheidungsrate, die beträchtlich höher ist als der landesweite Durchschnitt. Wie ich haben viele Veteraninnen und Veteranen die Fähigkeit zur Nähe verloren. Der Krieg ist nicht zu Ende. Er endet niemals. Meine Beteiligung an jenem Krieg hat mich in vielerlei Hinsicht gezeichnet. Sie hat meinen Körper gezeichnet, sie hat mein Herz gezeichnet, sie hat meine Seele gezeichnet. Die Wirklichkeit jenes Krieges begleitet mich tagtäglich. Sie geht nicht vorüber. Es hat keinen Sinn zu versuchen, das zu verbergen, denn der Krieg geht nicht vorüber.

Vietnam war der erste Krieg, nach dessen Ende die Gesellschaft den Schmerz und das Leid der Soldaten nicht unter den Teppich des Heldentums und der Lobhudelei kehren konnte. Die Niederlage und die Beschämung jenes Krieges haben uns ermöglicht, die Niederlage und die Beschämung eines jeden Krieges und jeglicher Gewalttätigkeit wahrhaftiger zu erkennen, aber Vietnam-Veteranen haben einen hohen Preis für diese Wahrheit bezahlt.

Die Umarmung von Familie und Freunden und die Feierlichkeit der Konfettiparaden können auf den ersten Blick viel Elend und Grausamkeit aufwiegen. Doch nachdem ich mehr und mehr mit Menschen aus der Generation meines Vaters zu tun hatte, habe ich entdeckt, wie viele Veteranen des Zweiten Weltkriegs ihr gesamtes Leben von ihrer Familie getrennt in einem Zustand stiller Verzweiflung verbringen. Sie verbringen Stunden um Stunden allein in der Garage oder im Souterrain. Viele von ihnen, wie mein Vater und die Männer aus meiner Kindheit und Jugend, versuchen die Schuld, die Scham, die Verstörung, die Angst, den Zorn, die Gefühle oder den Mangel an Gefühlen, die die Wirklichkeit des Krieges ausmachen, in Alkohol zu ertränken.

Das Militär lehrt uns, das Menschsein zu leugnen. Vieles in unserer Gesellschaft lehrt uns, das Menschsein zu leugnen. Und sobald wir das Menschsein leugnen, sobald uns dies zur Gewohnheit wird, lässt es sich nur schwer wieder ändern. Wenn wir unser Menschsein leugnen, verlieren wir unsere Menschlichkeit. Das geschieht nicht nur beim Militär. Es geschieht durch das Fernsehen, durchs Kino, durch Zeitschriften; es geschieht auf der Straße; es geschieht in Geschäften und am Arbeitsplatz. Auch Menschen, die nicht beim Militär gewesen sind, können ähnliche Muster entwickeln. Man denke an Menschen, die Schulkinder auf dem Pausenhof erschießen oder andere auf der Straße zu Tode prügeln, weil sie zum Beispiel schwul sind. Schon das Anschreien eines anderen in einer Warteschlange zählt dazu – wir tun es aus Ungeduld, die aus unseren Gefühlen des Unbehagens resultiert. In vielen Situationen erleben wir, wie unser Menschsein geleugnet wird und wir das der anderen leugnen.

Der Krieg in Vietnam, der erste, zweite und dritte Golfkrieg, der Krieg im Kosovo, der Krieg in den Straßen von Los Angeles, der Krieg in den Straßen von Hartford oder Denver oder Cleveland oder jeder sonstigen Stadt, der Krieg, der in jedem einzelnen Zuhause stattfindet … Was bildet die Saat dieser Kriege?

Vietnam ist nur eine Erscheinungsform der Saat des Krieges, die in jedem Einzelnen von uns ihren Anfang nimmt. Wir alle besitzen sie. Und nicht nur die Männer. Männer wie Frauen. Wir alle tragen die Saat der Gewalt, die Saat des Krieges in uns.

1983 suchte ich eine Rehabilitationsklinik für Drogenabhängige auf, und es gelang mir, meinen Drogen- und Alkoholmissbrauch zu beenden. Ich hatte während all der Jahre immer die Vorstellung gehabt, dass Leben noch etwas anderes sein könnte als das Leben, das ich führte, aber ich wusste nicht, wie ich dahin kommen könnte. Als ich wieder einmal sehr verzweifelt war, sagte man mir, dass mein Hauptproblem Alkohol und Drogen seien und ich damit aufhören müsse, um überhaupt die Chance zu haben, ein anderes Leben zu führen.

Nachdem ich aufgehört hatte, zu Drogen und Alkohol Zuflucht zu nehmen, den offenkundigen Rauschmitteln, gelang es mir, nach und nach zu erkennen, welche sonstigen Rauschmittel mich davon abhielten, die Natur meines Selbst zu betrachten. Und diese Rauschmittel verbannte ich ebenfalls aus meinem Leben. Ich verzichtete auf Coffein, ich verzichtete auf Nikotin, ich verzichtete auf weißen Zucker, ich verzichtete auf Fleisch, ich flüchtete nicht mehr von einer Beziehung in die nächste und übernächste. Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, mich selbst zu heilen, kehrte ich mehr und mehr zu mir selbst zurück, auch wenn ich nicht verstand (zumindest intellektuell), was ich da eigentlich genau tat.

1990 war es mir unmöglich geworden, die Wirklichkeit meiner Vietnam-Erfahrung länger zu leugnen. Die Wirklichkeit von Vietnam existierte nicht nur in meinem Kopf – sie durchdrang mein ganzes Wesen. Ich hatte über Vietnam diskutiert, aber die Wirklichkeit dieser Erfahrung hatte ich nie wahrhaft betrachtet. Der Schmerz wurde so groß, dass ich nur noch vor ihm flüchten, mich vor ihm verbergen wollte. Mein erster Gedanke war natürlich: Ich brauche was zu trinken, muss mich betrinken. Wenn ich Alkohol trinke, wird der Schmerz wie mit einer Decke zugedeckt. Doch unter der Decke, in mir, ist alles voller Stacheldraht; jedes Mal, wenn ich mich bewege, schneide ich mich, reiße ich mir die Haut auf. Wenn ich trinke, habe ich die Illusion, dass ein Puffer zwischen mir und dem Stacheldraht ist, aber das entspricht nicht der Wahrheit – weil ich betäubt bin, bin ich mir der Schnitte und Risse bloß nicht so bewusst.

Diesmal trank ich nicht. Stattdessen landete ich in einem buddhistischen Retreat für Vietnam-Veteranen bei dem Zen-Meister Thich Nhat Hanh.