03 – Die beschissenste Frage
Liam will schon etwas sagen, als er stockt. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen und er sieht aus, als hätte ihn die Frage aus dem Konzept gebracht. Forschend wandert sein Blick über mein Gesicht. Mit den Fingerkuppen trommelt er auf die Armlehne seines Rollstuhls.
»Was?«, fragt er und schaut mir in die Augen.
Die Röte schießt mir ins Gesicht. Ich kann nicht mal eine vernünftige Frage formulieren. Ich knete meine Hände und schlucke einmal, aber ich zwinge mich meine Gedanken weiter auszuführen: »Hier. Jetzt. Warum bist du geblieben? Du hättest mit ihm gehen können oder …«
»Er nervt«, unterbricht Liam mich.
Ich nicke. Ich hatte schon vorher den Eindruck bekommen, dass die beiden sich nicht besonders mögen. »Und warum bist du nicht jetzt weggefahren?«
Er schaut zum See, an dem ich vor kurzer Zeit noch Fotos gemacht habe und zieht seine Stirn in Falten. Schließlich schaut er wieder zu mir hoch. Es ist komisch auf ihn herunter zu blicken, obwohl er in vielerlei Hinsicht stärker ist als ich.
»Keine Ahnung. Vielleicht wollte ich hören, was du zu sagen hast.« Er fährt sich mit der Hand durch die Haare, wodurch ihm weitere Strähnen ins Gesicht fallen. Genervt versucht er, sie wegzupusten, doch sie fallen ihm wieder vors Auge. Er zieht eine Schnute, die der eines kleinen Jungen gleicht, dem verboten wurde, Schokolade zu essen.
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Als er es bemerkt, ist sein Blick genervt, doch als er wieder wegsieht, schleicht sich ein kleines Grinsen auf sein Gesicht.
Ich räuspere mich. »Und was ist die beschissenste Frage?«
Er schaut mir in die Augen und sein Blick fesselt mich.
»Die Frage nach dem Warum.«
»Warum du …?« Ich stocke und deute auf den Rollstuhl.
Er beugt sich vor, doch hält unseren Blickkontakt. »Das ist sie. Die beschissenste Frage.« Seine Stimme ist ruhig und leise, trotzdem hat sie etwas Bedrohliches. Als er sich schließlich wieder zurücklehnt, sieht er weg. »So viele Menschen haben mir diese Frage schon gestellt. Verwandte, Geschäftspartner meiner Eltern, die sich nur einschleimen wollten. Selbst Fremde, die mich nur bemitleideten.
Ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe, aber wie kam es, dass Sie heute im Rollstuhl sitzen?«, ahmt er die hohe Stimme einer Frau nach.
Ich verziehe das Gesicht und in mir keimt instinktiv Mitleid für Liam auf, obwohl er genau das nicht will.
»Ja, verdammt, Sie treten mir zu nahe. Und sie werden mich nur als den armen Jungen im Rollstuhl in Erinnerung behalten. Aber das bin ich nicht, verdammte Scheiße!«
Ich zucke zusammen, als er lauter wird. Mit großen Augen schaue ich ihn an.
Schwungvoll dreht er seinen Rollstuhl um und ich denke, er fährt weg. Überrascht merke ich, wie mich ein Anflug von Bedauern und sogar etwas Furcht überkommt bei dem Gedanken, unser Gespräch könne bereits beendet sein. Aber er bleibt.
Erneut fährt er sich durch die Haare. Ich beobachte wie sich sein Kiefer anspannt, während er versucht seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen, was ihm jedoch nicht sofort gelingt.
Hilflosigkeit macht sich in mir breit, als ich ihn so sehe. Doch ich bin wohl die letzte Person, die etwas für ihn tun könnte. So trete ich von einem Bein auf das andere und warte ab, was als nächstes passiert.
Ich bemerke, wie sich seine Armmuskeln anspannen. Liam fasst nach den Rädern und dreht sich langsam wieder zu mir um. Die Räder knirschen auf dem Sand. Dann verschränkt er die Arme vor der Brust und sieht mich mit unergründlicher Miene an.
Ich schlucke. »Und warum sitzt du jetzt … naja … im Rollstuhl?«
Sein Blick fixiert mich und seine Augen funkeln vor Wut.
Als ich bemerke, dass ich etwas Dummes getan habe, ist es zu spät.
Liams Hände krallen sich um die Räder des Rollstuhls. Seine Knöchel stechen weiß hervor. Sein ganzer Körper ist angespannt. »Ist das dein Ernst? Nach … Ich …« Er schnaubt verächtlich, während er sich sammelt.
Mein Hals wird trocken und ich klammere mich an die Griffe des Rucksacks, als ob er mir Halt geben würde
»Keine Ahnung, warum ich dir die ganze Scheiße überhaupt erzählt habe. Es scheint dich einen Dreck zu interessieren. Du … « Seine Stimme zittert vor Wut.
Meine Augen brennen, aber ich halte die Tränen zurück. Seine Worte sind wie Schläge.
»Und du hast nichts Besseres zu tun, als das zu fragen. Genau wie alle anderen siehst du mich nur als ein Objekt, das plötzlich interessant geworden ist. Fickt euch alle«, brüllt er.
Einige Spaziergänger sehen zu uns herüber. Ein Mann, der ein paar Meter entfernt ist, ist stehen geblieben und mustert uns kritisch. Nach einem kurzen Blick auf Liams Rollstuhl geht er weiter.
Durch den Rollstuhl wird Liam als schwach angesehen. Er wird verurteilt von Menschen, die ihn nicht kennen. Würden sie hier stehen, wüssten sie, dass er nicht schwach ist. Doch durch meine Frage, denkt er, ich würde dazugehören.
»Und vor allem ...« Liam fährt auf mich zu und bleibt genau vor mir stehen. Die Räder berühren schon meine Fußspitzen. Er muss noch steiler nach oben sehen, um mich anzusehen. Seine Augen funkeln. Mit zusammengepressten Lippen fährt er wieder ein Stück nach hinten. Mit erhobener Hand deutet er auf mich. »Und vor allem solltest du dich ficken. Du kannst mich mal.«
Er schreit nicht. Die Worte zischen zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch. Es scheint ihn aus der Bahn geworfen zu haben, dass er immer zu Leuten heraufschauen muss, selbst wenn er wütend ist. Ohne zu zögern, dreht er seinen Rollstuhl und fährt davon. Er verschwindet um dieselbe Ecke wie sein Begleiter zuvor.
Es waren wenige Minuten, in denen Liam und ich miteinander gesprochen haben. Wenige Minuten, in denen ich so viel Neues über Liam erfahren konnte. Es war das erste richtige Gespräch nach Jahren und ich will nicht, dass wir so auseinander gehen.
Doch ich gehe ihm nicht hinterher. Ich atme tief durch, drehe mich um und gehe. Diese Begegnung lässt mich auf dem ganzen Weg nicht los. Warum ist er in London? Ob er studiert? Vielleicht sehe ich ihn wieder. Aber wie soll ich ihm nach diesem Gespräch erneut unter die Augen treten? Obwohl ich mir irgendwie wünsche, ihn wiederzusehen, muss ich realistisch bleiben. Ich würde mich sowieso nicht trauen, ihn anzusprechen. Die Gedanken kreisen in meinem Kopf. Auch dann noch, als ich eine halbe Stunde später die Wohnung betrete.
»Du siehst grauenvoll aus«, sind die ersten Worte, die ich zu hören bekomme, als ich hereinkomme.
»Vielen Dank auch«, rufe ich Julia hinterher, die schon wieder in ihrem Zimmer verschwunden ist.
Seufzend betrachte ich mein Spiegelbild. Meine mittellangen braunen Haare, die von Natur aus schon wellig sind, sind vom Wind vollkommen zerzaust worden und auch sonst sehe ich ziemlich fertig aus. Meine, von Natur aus, helle Haut sieht noch blasser aus als sonst. Grandios. Nur meine dunkelbraunen Augen strahlen trotz meiner Müdigkeit noch.
Auf dem Weg in mein Zimmer sehe ich Nick in der Küche herumwerkeln. Ich runzle verwirrt die Stirn und frage mich, warum er schon wieder zurück ist, doch mir fehlt die Motivation, um zu fragen.
»Perfektes Timing, Nina«, sagt er und grinst, als er mich entdeckt und lehnt sich an den Türrahmen. Er wischt sich die Hände an einem löchrigen Tuch ab. »Hast du die Paprika?«
Verärgert schlage ich mir gegen die Stirn. Shit.
Nicks Lächeln verschwindet. »Oh nein«, sagt er und schaut zu seinen köchelnden Töpfen auf der Herdplatte.
»I - Ich kann nochmal los gehen«, sage ich und deute auf die Tür. Eigentlich will ich nicht. Ich will mich in meinem Bett verkriechen, an die Wand starren und nachdenken. Über Liam und darüber, was für eine Idiotin ich bin.
Er hat sich schon jetzt in meinem Kopf eingenistet, dabei war er nicht mal nett. Er hat seinen Begleiter angeschrien und eine Flasche durch die Gegend geworfen. Okay, kurz hat er normal mit mir geredet, doch dann hat er auch mich angeschrien. Wie früher sollte ich ihn als Arschloch abstempeln und weitergehen. Aber irgendwie kann ich das nicht. In den letzten vier Jahren ist viel passiert und er hat sich verändert.
»Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt Nick und schaut mich forschend an. »Komm. Setz dich.«
Ich widerspreche nicht und gehe in die warme Küche und lasse mich auf einen Stuhl plumpsen. Es riecht einfach köstlich nach verschiedensten Gewürzen. Nick ist der Koch unserer WG, wofür Julia und ich sehr dankbar sind, sonst würde es nur Tiefkühlkost geben.
Nick schließt die Tür. Dann setzt er sich mir gegenüber und stellt mir einen Tee hin. »Eigentlich für mich, aber du kannst ihn haben.«
»Danke«, sage ich und nehme schlürfend einen Schluck. Erdbeertee. Nick ist verrückt nach dem Zeug.
»Schieß los. Was ist passiert? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
So ähnlich. »Ich habe einen Jungen aus meiner alten Schule wiedergesehen.«
Ich sehe Liam vor mir, wie er in seinem Rollstuhl sitzt, mich mit seinen grünen unergründlichen Augen anschaut und wie ihm die Strähnen ins Gesicht fallen.
»Der scheint aber Eindruck hinterlassen zu haben«, sagt Nick und wackelt grinsend mit seinen Augenbrauen.
Gezwungen ziehe ich einen Mundwinkel hoch. Wenn er nur wüsste.