10 – Berührungen
Ich kann Liam nicht ansehen. Mit verschränkten Armen schaue ich verbissen auf den Boden. Um die sich anbahnende Tränen aufzuhalten, beiße ich mir auf die Unterlippe und blinzle hektisch. Ich habe mir die ganzen letzten Tage Vorwürfe gemacht wegen der Dinge, die mein Vater ihm an den Kopf geworfen hat. Aber irgendwann kam die Frage in meinem Kopf auf, warum Liam den Kontakt mit mir abbricht. Ich trage keine Verantwortung für die Worte meines Vaters und ich hatte vorher wirklich geglaubt, dass wir hätten Freunde sein können. Und jetzt steht er hier vor mir, obwohl er mich nie wieder sehen wollte.
Ohne Erbarmen strömt der Regen auf uns hinab. Meine Sachen sind durchweicht und kleben an meinem Körper. Es ist kalt.
»Nina … Ich …«
»Was willst du?«, unterbreche ich ihn scharf. Verbissen ziehe ich meine Augenbrauen zusammen, als ich ihn ansehe. Gleichzeitig wird der Kloß in meinem Hals größer. Ein Schluchzen entfährt mir. Es ist, als wäre ein Damm gebrochen. Die mühsam zurückgehaltenen Tränen fließen über meine sowieso schon nassen Wangen. Schnell drehe ich mich weg. Er soll das nicht sehen. Verzweifelt fahre ich mir durch die nassen Haare.
»Nina. Es tut mir leid.«
Schwungvoll drehe ich mich um. Fast verliere ich das Gleichgewicht. »Es tut dir leid? Du hast gesagt, wir sollen uns nicht mehr sehen. Du bist gegangen. Und jetzt, nach Tagen, fällt dir ein, dass es dir leid tut? Ich habe dich gesucht. Ich war bei dir zu Hause. Doch du warst nicht da«, fahre ich ihn an und hebe drohend die Hand. »Du kannst mich mal, Liam Taylor.«
Ich gehe. Meine Augen sind rot und ein Schluchzer schüttelt mich. Vielleicht bin ich einfach zu schwach. Ich verlasse das Gelände und überquere die Straße. Auf der anderen Straßenseite gehe ich eilig weiter.
»Nina! Warte«, höre ich Liam hinter mir rufen.
Ich schließe kurz die Augen, aber gehe weiter.
»Nina, bitte! Du...«, ruft er, dann ist es still, bis er leiser ruft: »Kannst du mir helfen?«
Ich bleibe stehen. Zögernd drehe ich mich um. Liam steht vor dem Bürgersteig und kommt nicht über den Bordstein. »Bitte. Ich komme hier nicht hoch. Mal wieder ...«, fügt er leiser hinzu.
Ich könnte gehen. Ich schlucke. Mit meinem Ärmel versuche ich mein Gesicht zu trocknen. Zwecklos, denn obwohl ich nicht mehr weine, regnet es noch immer in Strömen. Mit einem Kloß im Hals gehe ich zurück.
Er schaut mir nicht in die Augen. Seine nassen Haare fallen ihm ins Gesicht und zusammen mit seinem traurigen Blick sieht er umwerfend aus. Wie ein einzigartiges Kunstwerk.
Ich nehme die Griffe und mobilisiere alle Kräfte. Gemeinsam mit Liams Hilfe steht der Rollstuhl bald auf dem Bürgersteig.
»Du solltest abnehmen«, rutscht es mir heraus, als ich außer Puste neben ihm stehe. Liam fängt an zu lachen und als mir bewusst wird, was ich gesagt habe, verdecke ich vor Scham mein Gesicht mit meinen Händen. Wie peinlich.
Sachte spüre ich Liams Finger, die meinen Unterarm umschließen und meine Hand von meinem Gesicht ziehen. Seine Finger wandern meinen Arm hinab, bis er sanft und vorsichtig seine Finger mit meinen verschränkt. Er fasst mich nicht nur an, er berührt mich und das auf eine Weise, wie es noch niemand getan hat. Es ist unglaublich. Wo er mich berührt hat, kribbelt meine Haut auf eine angenehme Art.
»Ich will nicht, dass du gehst.« Er hat den Blick auf unsere Hände gerichtet. Unsere umschlungenen Finger, die so gut ineinander passen.
»Ich gehe nicht.« Ich blicke in seine grünen Augen.
Bedrückt kaut er auf der Unterlippe. »Ich will es dir erklären. Wirklich«, sagt er schließlich.
Ich schüttle den Kopf. »Musst du nicht.« Nicht mehr. Jetzt ist das alles egal. Liam ist wieder hier, bei mir. Das Chaos in meinem Kopf wurde durch eine Berührung weggefegt. Rational betrachtet muss ich verrückt sein, ihm einfach zu verzeihen. Doch für manche Dinge gibt es keine rationale Erklärung.
»Will ich aber. Wollen wir irgendwohin, wo es trocken ist. Zu mir? Oder zu dir?«, fragt er und ich muss über seine Unsicherheit schmunzeln. Ich nicke.
Als wir bei mir angekommen sind, halte ich Liam die Haustür auf, damit er hineinfahren kann.
»Eine der wenigen Studentenbuden, die einen Fahrstuhl haben«, sagt Liam anerkennend, als wir auf den Fahrstuhl warten, der uns nach oben zu unserer Wohnung bringt.
»Bei dir hört sich das wie etwas ganz Tolles an. Ich gehe gerne die Treppen«, sage ich schulterzuckend und trete nach ihm in den kleinen Fahrstuhl. Er ist schon alt und bei jedem Start und Stopp knarrt und knackt er unheilvoll.
»Ja. Ich auch«, sagt Liam ironisch. Ich forme ein O mit meinen Lippen und sehe besorgt zu ihm, aber er grinst nur. Erleichtert lächle ich zurück.
»Es ist viel schöner, wenn die Leute einfach sagen, was sie denken, ohne Rücksicht zu nehmen. Mir ist doch klar, dass ihr laufen könnt. Niemand muss Angst haben, das auszusprechen. Das einzige, was wirklich scheiße ist, ist jemand wie mein Onkel.«
Knarrend und ruckelnd kommt der Fahrstuhl zum Stehen. Kaum öffnen sich die Türen, springe ich heraus. Ich hasse dieses Ding.
»Wieso?«, frage ich und werfe ihm einen Blick zu, während ich die Tür aufschließe.
»Er hat mir ausführlich berichtet, wie anstrengend es doch sei, jeden Tag joggen zu gehen. Und dabei hat er mich die ganze Zeit vorwurfsvoll angesehen. Ich habe nur darauf gewartet, dass er mir sagt, ich solle mehr joggen gehen oder so was. Das war kurz nachdem ich hier drin gelandet bin, als ich nichts mehr wollte, als eine Runde joggen zu gehen.«
Mit der Schulter drücke ich die Tür auf, während ich ihn ungläubig ansehe. »Das ist echt bescheuert«, sage ich und Liam nickt.
Ich gehe in die Wohnung und halte Liam die Tür auf, während er hereinrollt und sich umsieht. »Ups«, sagt er plötzlich und sieht auf den Boden vor sich.
Mal wieder liegen Julias Schuhe mitten im Flur. Schnell bücke ich mich, um sie wegzuräumen. Ich schiebe noch ein Paar Socken zur Seite, damit Liam sich ohne Probleme bewegen kann.
»Nina? Es tut … ohh.« Nick kommt aus dem Wohnzimmer und sieht Liam mit verdutztem Blick an. Was auch immer er erwartet hat, das ist es nicht. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaut er zu mir.
Ich zucke mit den Schultern. Ich weiß doch auch nicht, wie meine Stimmung von mir-ist-alles-egal, zu traurig und schließlich zu glücklich gewechselt ist.
Es ist verrückt, wie man Tag ein, Tag aus hunderten Menschen begegnet und keiner berührt dich. Und dann trifft man diese eine Person und dein Leben hat sich für immer verändert. Ob es für immer ist, weiß ich nicht, aber es ist für den Moment und gerade reicht mir das.