12 – Total offensichtlich
Kommst du mit?«, fragt Liam, während er sich auf eine umständlich aussehende Weise seine Jacke anzieht.
Ich lehne mit einer Schulter an der Wand. Die Arme vor der Brust verschränkt, starre ich auf einen Punkt vor mir.
Julia sitzt auf unserer Garderobe und wippt im Takt des Liedes aus dem Radio hin und her.
Ich warte darauf, dass sie freudestrahlend »ja« sagt. Sie sah geschockt aus, als sich Liam in den Rollstuhl gesetzt hat. Obwohl dieser direkt vor dem Bett stand, scheint sie das vorher nicht begriffen zu haben. Wem soll der sonst gehören? Trotzdem war ihre gegenseitige Zuneigung in der letzten Stunde kaum zu übersehen gewesen und das nervt mich.
»Nina?«, hakt Liam nach und verwundert schaue ich zu ihm. Er sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an.
Als ich zu Julia blicke, kneift diese die Augen zusammen und schaut mich verwirrt an.
»Ich … ja«, stottere ich und stoße mich von der Wand ab.
Liam lächelt mir erfreut zu und öffnet die Wohnungstür. Ich ziehe meine Schuhe an und gehe ihm verdattert hinterher, als Julia mich aufhält. »Er ist echt toll. Vermassle das nicht.« Grinsend drückt sie mir meine Jacke in die Hand und schließt die Tür, nachdem sie mir zugezwinkert hat.
Eigentlich habe ich mich total überflüssig gefühlt, als Julia und Liam sich unterhalten haben. Unbeabsichtigt wurde ich eifersüchtig auf Julia. Und warum? Weil ich weiß, dass ich nicht so direkt, lustig und spontan bin wie sie und es auch nie sein werde. Deshalb werde ich immer die zweite Wahl bleiben. Bei Nick, freundschaftlich gesehen, vielleicht nicht, aber er zählt nicht. Doch Julias Aussage verwirrt mich. Klar habe ich bemerkt, dass Julia durch Liams Rollstuhl abgeschreckt wurde. Trotzdem sah sie sehr angetan von ihm aus.
Ich gehe nach Liam in den verhassten Fahrstuhl und drücke den Knopf für das Erdgeschoss. Liam wartet bis die Türen sich schließen, dann räuspert er sich und beginnt etwas unsicher zu sprechen: »Ich dachte schon, du kommst nicht mit.« Er schaut auf die Tür des Fahrstuhls.
Man kann kurz Licht durch den Türspalt sehen, als wir unser Stockwerk verlassen und das nächste erreichen.
»Natürlich komme ich mit, wenn du mich darum bittest«, sage ich ehrlich und schaue zu ihm.
»Okay. Ich dachte bloß, denn naja … du weißt schon, normalerweise bringt ja der Junge das Mädchen nach Hause und nicht andersherum. Außerdem hast du dich vorhin irgendwie komisch benommen«, sagt er hastig, als würde er es schnell hinter sich bringen wollen.
Ich schaue peinlich berührt auf den Boden.
»Ich fand diese Geschlechterstereotypen schon immer dumm. Und mir geht's gut. Alles in Ordnung«, sage ich. Doch ich kann mich nicht zurückhalten und sage: »Du scheinst Julia zu mögen.«
»Sie ist echt nett«, stimmt er mir zu und meine Stimmung sinkt weiter. »Aber es muss doch irgendwie stressig sein mit ihr zusammenzuwohnen, oder? Also sie ist nett, aber auch so … ich denke, verrückt trifft es am besten«, sagt er leichthin und lacht.
Ich muss mir ein erleichtertes Lächeln verkneifen. Damit, dass er Julia nett findet, komme ich klar.
»Es kann schon manchmal etwas verrückt zugehen. Aber das ist auch einfach toll. Spontan und verrückt. Diese Kombi bringt Leben in unsere WG und unsere Freundschaft.«
Ich muss grinsen, als ich mich an ein paar ihrer Aktionen erinnere. Eine Kissenschlacht, ein Lagerfeuer aus unseren Lektüren, die wir letztes Jahr lesen mussten, eine Farbschlacht am Strand, mit ausgebreiteten Armen tanzen.
»Sieht so aus, als hättet ihr schöne Erinnerungen zusammen«, sagt Liam und schaut mich an. Ich habe verträumt vor mich hin gegrinst, was er mit einem Lächeln quittiert.
Die Fahrstuhltür springt auf und vor dem Fahrstuhl warten drei Leute. Es sind Studentinnen, die zwei Stockwerke über uns wohnen. Ich kenne sie nicht wirklich, aber man sieht ihnen gleich an, dass sie viel Wert auf ihr Aussehen legen.
Liam fährt vor mir aus dem Fahrstuhl und die Mädchen schauen ihn so abwertend an, dass ich sie am liebsten geschlagen hätte. Ich werfe ihnen wütende Blicke zu, als ich an ihnen vorbeigehe. Bevor ich Liam nach draußen folge, drehe ich mich noch einmal um. Sie flüstern.
Wütend schlage ich die Haustür hinter mir zu und stapfe los.
Liam holt mich ein und legt beruhigend seine Hand auf meinen Arm. »Hey, ist schon okay.«
Also hat er es auch mitbekommen. Ich schüttele den Kopf und will mich gerade über sie aufregen, als Liam den Kopf schüttelt und mich mit seinem Blick zum Verstummen bringt.
»Lass uns einfach gehen, okay? Vergiss das«, sagt er und ich nicke, obwohl ich es nicht vergessen werde.
Wir kommen seiner Haustür immer näher. Unauffällig verringere ich meine Geschwindigkeit, um die Zeit noch etwas hinauszuzögern, doch trotz meiner kleinen Schritte sind wir viel zu schnell da.
Seufzend vergrabe ich die Hände tiefer in den Taschen meiner Jacke, als wir vor seinem Haus stehen bleiben. Ich schaue zu Liam, der immer wieder ein paar Zentimeter vor und zurück fährt und mit einem kleinen, süßen Lächeln zu mir hochschaut.
Es war ein schöner Tag mit ihm, auch wenn er nicht gut angefangen hat. Noch nie war ich so erleichtert, einen Menschen wieder bei mir zu haben.
»Sag mal, hast du morgen was vor?«, fragt Liam und grinst, aber ich merke, dass er unsicher ist. Ich stocke kurz und ein warmes Gefühl macht sich in mir breit.
»Ich … ja, nach der Uni hätte ich Zeit.“
Sein Grinsen wird breiter. »Perfekt. Ich hole dich ab, dann können wir was Essen gehen. Was hältst du davon?«
Lächelnd nicke ich. »Klingt super«, sage ich und strahle ihn an. Er hat mich wirklich zum Essen eingeladen. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu kichern.
»Dann bis morgen.«
»Ja. Bis morgen«, sage ich und warte, bis er im Haus verschwunden ist. Länger kann ich mich nicht zurückhalten. Quietschend springe ich wie eine Verrückte auf der Stelle und laufe lachend los. Eine Frau auf der anderen Straßenseite mustert mich eigenartig, aber das ist mir egal. Diese Freude kann mir niemand nehmen, denn Liam hat mich zum Essen eingeladen. Ich kann es gar nicht fassen.
Zurück in der WG beobachtet mich Nick lachend, als ich wie ein Flummi durch die Wohnung springe und dabei fast eine Lampe umwerfe. Kopfschüttelnd konzentriert er sich wieder auf seine Serie. Nach einer weiteren Minute lasse ich mich erschöpft, aber immer noch grinsend, neben ihm auf die Couch fallen.
»Jetzt erzähl schon, bevor du platzt«, sagt er und seufzt gespielt, doch auch er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Aber wirklich. Du bist ja schlimmer als ich und das ist noch nie vorgekommen. Muss ja echt was Weltbewegendes sein«, sagt Julia, die sich an den Türrahmen lehnt und mich mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet.
»Liam hat mich zum Essen eingeladen. Morgen«, sage ich und strahle beide an, aber keiner von ihnen zeigt die erwartete Überraschung oder Freude.
Nick lächelt und schaut wieder zum Fernseher. Na vielen Dank.
Julia zuckt mit den Schultern. »Das war doch total offensichtlich. Hast du gesehen, wie er dich ansieht? Ehrlich, mich hätte es nicht mal gewundert, wenn er dir einen Antrag gemacht hätte.« Sie stößt sich vom Türrahmen ab und geht. Verdutzt lässt sie mich zurück, doch da streckt sie den Kopf in die Tür. »Okay. Ein bisschen hätte es mich doch überrascht.«