13 – Freundschaftsbuch - Fragen

Noch ein Wort und ich bringe dich um«, knurrt Julia. Seit einer Stunde muss sie mich schon ertragen, während ich ein Outfit nach dem anderen anprobiere. Ihre Arme hat sie um ein Kissen geschlungen, während sie auf meinem Bett sitzt und mich mürrisch anschaut.

»Aber was, wenn das total overdressed ist? Er möchte nur eine Kleinigkeit essen und nicht ins Fünf-Sterne-Restaurant gehen. Ich sollte etwas anderes anziehen«, sage ich zweifelnd, während ich vor dem Spiegel stehe.

Julia brummt. Nach dem vierten Outfit hat sie aufgehört mir zu widersprechen, da ich es doch zur Seite lege, obwohl sie mir sagt, ich sehe klasse darin aus.  Normalerweise hat sie den Sinn für Mode, doch heute konnte sie mir kein Outfit zusammenstellen, dass mir wirklich gefiel.

Ich ziehe mir das blaue Kleid wieder über den Kopf und kämpfe erneut mit der Strumpfhose, in die ich mich hineingezwängt habe.

»Kann ich gehen?«, fragt Julia zum fünften Mal. 

»Nein«, sage ich, während ich in meinem Kleiderschrank nach dem perfekten Outfit Ausschau halte. Aus Versehen fällt etwas heraus, ich hebe es auf und will es in den Schrank stopfen, als ich innehalte.

Es ist …

 

»Perfekt! Du siehst atemberaubend aus«, sagt Julia. Sie legt das Kissen weg, das sie im Arm gehalten hat und kommt auf mich zu. Daumen und Zeigefinger legt sie an ihr Kinn, während sie mein Outfit von oben bis unten scannt.

Ich trage eine weiße, langärmelige Bluse mit einem V-Ausschnitt, dazu einen schwarzen flatternden Rock, der mir bis zu den Knien reicht. Darunter noch eine hautfarbene Strumpfhose und schwarze Pumps.

Julia fängt an zu grinsen. Eine rote Strähne hat sich aus ihrem Zopf gelöst und wippt hin und her, als sie zufrieden nickt. »Du wirst ihn umhauen.« Sie wirft mir ein ehrliches Lächeln zu, kein ironisches oder überhebliches, wie es sonst ihre Art ist.

Dankbar erwidere ich es. Noch einmal betrachte ich mich im Spiegel.

Julia grinst mir aufmunternd zu.

Aufgeregt verlagere ich das Gewicht von einem Bein auf das andere. Meine Hand zuckt zu meinen Haaren, aber ich halte mich zurück. Julia hat mich ermahnt, meine Haare nicht anzufassen. Sie hat sie für mich gestylt und war zu Recht besorgt, ich könnte sie mit meiner Nervosität ruinieren, bevor Liam überhaupt da ist.

Ich stehe zu früh vor der Uni und warte auf ihn. Zum Glück ist meine letzte Stunde ausgefallen, weshalb ich nach Hause und mich fertig machen konnte, sonst hätte ich in einem verschwitzten T-Shirt und einer verwaschenen Jeans vor ihm gestanden.

Ich knete meine Hände und schaue mich ständig um. Julia hat mir zwar gesagt, dass dieses Outfit alltagstauglich und nicht overdressed ist, aber ich bin trotzdem nervös. 

Ich meine, was ist dieses Treffen? Nur abhängen, wie Freunde? Oder ein Date? Vielleicht interpretiere ich zu viel in die Sache hinein und Liam wollte nichts Großes mit mir machen. Vielleicht wollte er zu McDonald's. Oh Gott.

Ungeduldig wie ich bin, hole ich zum dritten Mal mein Handy aus meiner Handtasche und schaue auf die Uhrzeit. In knapp fünf Minuten wäre der Unterricht zu Ende, also müsste er bald auftauchen.

Und tatsächlich, nur wenig später sehe ich einen Rollstuhlfahrer auf mich zukommen. Soll ich auf ihn zugehen oder lieber stehen bleiben? Ihn angucken oder weggucken, als hätte ich ihn nicht bemerkt? Im Augenwinkel sehe ich, wie Liam winkt, womit er mir die Entscheidung abnimmt. 

Ich schaue zu ihm und winke zurück. Jetzt bloß nicht hinfallen, denke ich, als ich auf meinen Absätzen auf Liam zugehe.

»Hey«, sage ich und streiche über meinen Rock, als ich vor ihm stehe.
Liam lächelt und schaut mich mit großen Augen von oben bis unten an, weshalb ich leicht rot anlaufe.

»Hi. Du … du siehst toll aus«, sagt er und mein Lächeln breitet sich über mein ganzes Gesicht aus. Liam beugt sich nach hinten und holt etwas aus der Tasche an seinem Rollstuhl. Es ist eine einzelne rote Rose. 

»Die ist für dich.« Elegant hält er sie zwischen seinen Fingern und reicht sie mir mit einem charmanten Lächeln. 

Ich nehme sie entgegen und betrachte sie lächelnd. Nun bin ich nicht mehr aufgeregt, sondern glücklich. Ich rieche an der Rose, die einen süßlichen Duft verströmt.

»Danke«, hauche ich und kann den Blick kaum von der Blume abwenden. Sie ist wunderschön. Liam hat mir eine Rose geschenkt, denke ich und kann es nicht fassen.

»Wollen wir?«, fragt er und deutet mit seinem Kopf in Richtung der Innenstadt. 

Ich nicke und folge ihm, als er losfährt.

»Okay, jetzt erzähl mal, was machst du sonst so, wenn du nicht gerade meinen Arsch retten musst?«, fragt Liam und schaut mich grinsend an.

Ich lache. »Ähm … nichts Besonderes«, weiche ich aus und kann es nicht lassen an einer Haarsträhne zu zupfen.

»Komm schon. Du hast doch eine Kamera, oder?«, stochert Liam weiter.

Ergeben seufze ich. Ich hasse diese Fragen. Etwas Persönliches preiszugeben ist Höchstleistung für mich. »Ich fotografiere gerne. Und ich lese gerne«, sage ich zögerlich und hasse mich dafür, dass ich so langweilig klinge.

»Cool«, sagt Liam und bei ihm hört es sich wirklich so an. »Ich wünschte, ich könnte mich fürs Lesen begeistern, doch das hat die Schule nie geschafft.«

Ich schnaube. »In der Schule liest man ja auch schreckliche Bücher.«

Er lacht. »Das stimmt auch wieder.«

»Was machst du dann, wenn du nicht liest?«, frage ich.

»Ich liebe Filme. Zu Hause habe ich eine große Sammlung von Filmen. Vielleicht können wir mal einen ansehen«, sagt er leichthin und merkt nicht, wie er damit meinen Herzschlag beschleunigt.

»Und was ist dein Lieblingsfilm?«

»Oh Gott«, stöhnt er. »Das ist eine unmögliche Frage.«

Ich lache. »Okay. Dann: Lieblingsfarbe?«, frage ich grinsend.

»Ich glaube, diese Frage habe ich das letzte Mal in einem Freundschaftsbuch beantwortet. Und wie damals schon ist es dunkelblau. Nicht hellblau. Ich hasse hellblau«, sagt er ernst und ich muss lachen.

»Wie kann man dunkelblau mögen und hellblau hassen?«, frage ich lachend.

Er zuckt mit den Schultern und zieht eine Schnute. »Ich habe doch auch keine Ahnung«, meint er theatralisch.

Einige Minuten später haben wir uns immer weiter in Freundschaftsbuch-Fragen hineingesteigert.

»Okay, ich hab noch was: Lieblingsobst?«, frage ich und muss lachen, als ich Liams Gesichtsausdruck sehe.

»Ehrlich jetzt? Okay, also ich liebe Weintrauben, aber Birnen gehen gar nicht.«

Schockiert sehe ich ihn an. »Was hast du gegen Birnen?«

»Sei lieber ruhig. Du bist diejenige, die früher Justin Bieber gefeiert hat.«

»Ey«, sage ich lachend und bereue mein früheres Schwärmen für Justin Bieber.

»Ehrlich, ich kann nicht fassen, dass ich ein Mädchen mag, dass Justin Bieber Fan war«, fährt Liam neckend fort. Wie immer scheint er nicht zu merken, was er gerade gesagt hat.

»Wo gehen wir eigentlich hin?«, frage ich ihn, um ihn von Justin Bieber abzulenken. Die Straßen sind mir unbekannt.

»Zu einem kleinen Restaurant hier in der Nähe. Nichts Großes, aber ganz nett. Hier rein«, sagt er und biegt in eine kleine Nebenstraße ein.

 

»Bestell, was du möchtest. Ich zahle«, sagt er so lässig wie möglich. Wir haben uns an einen kleinen Tisch am Fenster gesetzt. Die Bedienung hat netterweise ohne Aufforderung einen Stuhl weggestellt, sodass Liam nicht darauf hinweisen musste.

Ich bin noch nie in diesem Restaurant gewesen. Es ist gemütlich und heimelig eingerichtet, nicht besonders nobel oder schick, einfach schön.

»Was? Nein«, sage ich entschlossen und er seufzt. Anscheinend hat er damit gerechnet. Aber ich will nicht, dass er Geld für mich ausgibt. Darum geht es mir nicht. Er soll kein zahlender Gentleman sein, sondern einfach Liam. 

Er nickt bloß und steuert ein neues Thema an.

Nachdem wir gegessen haben, bezahlt Liam schließlich doch für mich, aber nur weil ich vor der Bedienung nicht lange mit ihm diskutieren will.

»Das hättest du nicht tun müssen«, sage ich, als wir wieder draußen sind und die Straße entlang schlendern. Der Tag war wundervoll bis jetzt. Das Lächeln auf meinen Lippen will gar nicht mehr verschwinden. In Liams Gegenwart fühle ich mich einfach wohl und es fühlt sich richtig an, mit ihm Zeit zu verbringen, auch wenn er mich immer wieder mit Justin Bieber aufzieht. Diesen Tag werde ich so schnell nicht vergessen, auch wenn ich nicht weiß, ob es ein Date war oder nicht.

»Ich weiß«, sagt er und bleibt stehen. Er schaut mir tief in die Augen. »Aber ich wollte es tun. Für dich. Ich ...«, er stockt. »Ich habe noch etwas geplant. Komm mit«, sagt er schließlich und fährt los.
Ich gehe neben ihm her, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er eigentlich etwas anderes sagen wollte.

Ich betrachte die Rose, die ich in meiner Hand halte. So zerbrechlich und wunderschön. Eine Metapher fürs Leben. Für die Menschen. Für mich. Vielleicht auch für Liam, aber das werde ich noch herausfinden.