17 – Einfach vergessen

Liam scheint tief in Gedanken versunken zu sein, da er weder mich noch die geöffnete Fahrstuhltür bemerkt. Sein trübseliger Blick ist auf den Boden gerichtet, doch als sich die Tür wieder schließen will, hebt er den Kopf. Seine Augen weiten sich, als er mich sieht. 

Meine Hand liegt auf der Tür, damit sie nicht zugeht. Unschlüssig verlagere ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Ich weiß nicht, ob ich hinausgehen soll oder nicht. Ich weiß nicht mal, wie man atmet. Liams plötzliches Auftauchen hat mir den Atem geraubt. Zwar bin ich wegen ihm hier, aber ich hatte mich damit abgefunden, dass er nicht da ist.

Mit einem unergründlichen Blick sieht er mich an. Nachdenklich runzelt er die Stirn, dann wird sein Blick kalt und abweisend.

»Ich wollte zu dir«, sage ich und bin selbst überrascht darüber. Jedenfalls ist es besser als diese unangenehme Stille.

»Dann bist du umsonst gekommen«, sagt er und macht Anstalten in den Fahrstuhl zu fahren, aber ich versperre ihm den Weg.

»Liam, lass uns reden«, sage ich verzweifelt und gehe einen Schritt auf ihn zu, doch er weicht mir aus. 

»Es gibt nichts zu reden.« Mit leerem Blick schaut er in den Fahrstuhl als wäre ich gar nicht anwesend. Verletzt trete ich zur Seite. 

Liam sieht kurz hoch in meine Augen, bevor er in den Fahrstuhl fährt. »Vergiss mich einfach.«

Fassungslos sehe ich ihm hinterher. Durch den Spiegel sehe ich Liams Blick, der resigniert auf den Boden gerichtet ist. Nach einigen Sekunden schließt sich die Fahrstuhltür.

Einfach. Ich soll ihn einfach vergessen? Ich weiß nicht, ob er mich so leicht vergessen kann, aber ich ihn bestimmt nicht. Er hat mich aus meinem langweiligen Leben herausgeholt, obwohl er gar nicht viel getan hat. Es ist, als wäre ein Farbeimer in meine trostlose Welt geworfen worden.

Ich habe jeden Moment an ihn gedacht, mich auf unsere Treffen gefreut. Jedes Mal, wenn wir uns zufällig gesehen haben, hat er mein Herz zum Hüpfen gebracht und mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Anscheinend hat ihm das nichts bedeutet. Vielleicht hat er mir auch mehr bedeutet, als er es nach so einer kurzen Zeit sollte, aber es hat sich so wundervoll angefühlt.

Obwohl der Fahrstuhl längst nach oben gefahren ist, stehe ich noch verloren im Flur. Ich zwinge mich nach draußen zu gehen, dort ziehe ich meine Kapuze über den Kopf und gehe Richtung Park, obwohl dies ein Umweg ist. Ich möchte nicht zurück nach Hause und mit Fragen von Julia und Nick bombardiert werden. 

Plötzlich verspüre ich das Verlangen, meine Mutter anzurufen und ihr alles zu erzählen. Ich hatte nie beabsichtigt, so lange den Kontakt abzubrechen. Ich hole mein Handy heraus, aber ich bringe es nicht über mich sie anzurufen. Wenn sie das nächste Mal anruft, werde ich dran gehen, denke ich und stecke mein Handy zurück in die Jackentasche.

»Nina, hey!«, ruft jemand hinter mir.

Mein Herz beginnt wild zu pochen, doch dann höre ich Schritte hinter mir und lasse enttäuscht die Schultern sinken. Es ist nicht Liam. 

»Charlie. Hi«, sage ich zu dem jungen Mann, der auf mich zukommt. Außer Atem hält er an und schiebt seine Brille zurück auf die Nase. »Kannst ... Kannst du das hier Nick geben?«, fragt er und hält mir eine Mappe hin.

»Klar«, sage ich und nehme sie, auch wenn ich wenig begeistert bin, den Postboten zu spielen.

Charlie lächelt mir schüchtern zu. Er ist ein Uni-Freund von Nick. Vielleicht ist Freund zu viel gesagt, auf jeden Fall lernen sie öfter zusammen.

»Ich geb' sie ihm«, sage ich erneut und nicke ihm zu. Damit drehe ich mich um und mache mich mit der Mappe unter dem Arm auf den Weg zum Park, in dem ich eine Stunde verbringe, um meine Gedanken zu sortieren. 

Als ich mich schließlich doch auf den Weg nach Hause mache, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass es besser ist, Liam nicht weiter zu bedrängen, auch wenn ich ihn nicht vergessen werde.


»Für dich.« Ich halte Nick die Mappe hin.

Er nimmt sie und schaut mich fragend an. »Von Liam?«, fragt er verwirrt und es ist wie ein Finger in der Wunde. Nein, nicht von Liam, denn mit dem konnte ich gar nicht reden.

»Von Charlie«, sage ich.

Er nickt und geht, in der Mappe blätternd, zu seinem Zimmer. Doch dann bleibt er stehen und dreht sich auf dem Absatz um. »Was war mit Liam?«

Ich zucke mit den Schultern und will gerade abwinken, als ich unerwartet in Tränen ausbreche. Ich hasse mich so sehr dafür, aber ich kann es nicht verhindern. Nick zieht besorgt die Augenbrauen zusammen und kommt auf mich zu. Er legt die Mappe weg und nimmt mich in den Arm.

»Wieso tut es so weh?«, frage ich schluchzend.

Nick seufzt und hält mich noch fester, bis meine Tränen versiegen. Dann versucht er mich mit Eis und einem Film aufzumuntern. Es gelingt.