26 - Schnappschuss
Nina? Willst du mit frühstücken?«, fragt Nick von der Tür aus.
Ich ziehe mir die Bettdecke über den Kopf und rolle mich zusammen. Als wäre das nicht Antwort genug, kommt Nick zu mir und versucht mir meine Decke wegzuziehen.
Ich kralle meine Finger in den Stoff, doch schließlich reißt er sie mir doch aus den Händen. Wütend springe ich auf und greife nach meiner Decke. Er lässt nicht los.
»Nein, ich will nichts essen«, zische ich und ziehe mit einem Ruck die Decke aus seinen Händen. Ich schmeiße sie auf mein Bett und setze mich mit verschränkten Armen drauf.
»Dann eben nicht.« Nick schaut mich wütend an und geht aus dem Zimmer. Als er weg ist, atme ich tief durch und lege meine Hand vors Gesicht.
Liam und ich sind vorgestern Nachmittag wieder in London angekommen. Ich habe Nick erzählt, was passiert ist, allerdings ohne große Erklärungen. Seitdem liege ich in meinem Bett und habe seit gestern nichts mehr gegessen. Ich weiß, dass das dumm ist, aber ich kann einfach nicht.
»Nina? Wir gehen jetzt!«, ruft Nick aus dem Flur. Kurz wartet er auf eine Antwort, dann schließt sich die Wohnungstür.
Julia und Nick gehen zur Uni, aber ich habe mir eine Auszeit genommen. Nur für gestern und heute. Ich werde schon nichts Weltbewegendes verpassen, denke ich und kuschle mich in meine Decke ein. Ich starre die Wand an, die in einem schlichten Mintgrün gestrichen ist. Ich starre sie so lange an, bis ich sie gar nicht mehr wahrnehme.
Schließlich schlafe ich ein, denn ich bin so unendlich müde. Ich konnte die letzten Nächte nicht einschlafen, zum einen, weil ich zum ersten Mal mit Liam in einem Bett geschlafen habe und zum anderen, weil ich jedes Mal, wenn ich meine Augen geschlossen habe, Chloe vor mir gesehen habe.
Ein lautes Geräusch reißt mich aus dem Schlaf. Erschrocken setze ich mich auf. Mein Herz rast, bis ich verstehe, dass es der Klingelton meines Handys ist. Ich lache auf und stolpere aus dem Bett zu meiner Fensterbank, wo ich scheinbar mein Handy hingelegt habe. Ein Bild von Liam lacht mir entgegen. Ich nehme den Anruf an.
»Hey«, sage ich und gehe zu meinem Bett zurück.
»Hi. Du bist nicht in der Uni, oder?«, fragt er und ich höre keinen Vorwurf in seiner Stimme, weshalb ich ohne Umschweife die Wahrheit sage.
»Das bedeutet, du hast Zeit, musst mal raus und abgelenkt werden. Wir treffen uns in einer halben Stunde im Park. Da, wo wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Keine Widerrede. Ach ja, und nimm deine Kamera mit«, sagt er und ich höre das Grinsen in seiner Stimme. Ohne mich überhaupt zu Wort kommen zu lassen, legt er auf.
Verblüfft sehe ich mein Handy an. Dann blicke ich an mir hinab. Ich fasse einen Entschluss. Ich stehe auf, öffne das Fenster und lasse frische Luft in mein Zimmer. Dann beginne ich mein Bett zu machen und einige Sachen wegzuräumen, die ich herumliegen hab lassen. In meinem Schrank suche ich frische Klamotten und im Bad spritze ich kaltes Wasser in mein Gesicht. Jetzt fühle ich mich um einiges besser und lebendiger.
Nach weiteren zehn Minuten verlasse ich unsere Wohnung, eingepackt in eine dicke Jacke und mit einem kuscheligen Schal um den Hals. In meinem Rucksack habe ich meine Kamera gepackt, die ich schon länger nicht mehr benutzt hatte.
Als ich bei der Bank ankomme, auf der ich damals saß, kann ich Liam noch nirgends sehen. Ich lasse mich auf das kalte Holz nieder und schaue mich um. Mein Blick bleibt an den rot, gelb und orange gefärbten Blättern der Bäume hängen. Wunderschön. Ich nehme die Kamera aus meinem Rucksack und gehe zu den Bäumen. Ich suche nach dem perfekten Winkel, um die Blätter perfekt in Szene zu setzen. Ich schieße einige Fotos und schaue sie mir gerade an, als ich angetippt werde. Ich sehe auf und blicke in Liams Gesicht.
»Ich wusste doch, dass die Kamera eine gute Idee war.« Lächelnd sieht er zu mir herauf.
Der Herbst ist so wundervoll, weshalb ich versuchen muss, so viel wie möglich festzuhalten. Gerade will ich Liam ein besonders gut geratenes Bild zeigen, als ich bemerke, wie er gedankenverloren in die bunten Blätterkronen schaut. Ich schieße ein Bild von ihm, ohne dass er es bemerkt. Als ich einen Blick auf den Schnappschuss werfe, wird es sofort zu meinem Lieblingsbild. Seine Augen schimmern im Sonnenlicht und reflektieren die Farben der gefärbten Blätter. Er sieht nachdenklich, aber auch glücklich aus.
Nach einer Weile gehen wir zu einer Bank. Ich helfe ihm über die Kante, die den Weg vom Rasen trennt, und setze mich an die Seite, damit wir nebeneinander sitzen.
Liam nimmt meine Hand, was meine Stimmung sofort hebt.
Ich schaue wieder zu den Bäumen und ein kleines Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Ich schaue zu Liam und erwische ihn, wie er mich anstarrt.
»Was ist?«
»Nichts. Du bist bloß wunderschön«, sagt er und streckt seine Hand aus, um mir über die Wange zu streichen.
Ich werde rot und senke meinen Blick.
»Ich glaube, ich habe es dir nie richtig gesagt und wahrscheinlich ist das hier der komplett falsche Moment, aber ich liebe dich, Nina«, flüstert er
Ich schaue in seine grünen Augen. Eine wohlige Wärme breitet sich in mir aus und mein Herz scheint vor Freude zu platzen. Ich fange an zu lächeln. »Ich liebe dich auch, Liam.«
Mit seiner Hand, die immer noch auf meiner Wange liegt, zieht er mich sanft zu sich, den Blick auf meinem Mund gerichtet. Ich schließe meine Augen, mein Herz pocht aufgeregt, während ich Liams Duft einatme. Unsere Lippen legen sich aufeinander. Das Gefühl ist überwältigend. Atemlos lösen wir uns voneinander und ich blicke schüchtern auf den Boden. All die Probleme, all die anderen Gefühle treten in den Hintergrund. Es gibt nur ihn und mich. Als ich mich traue meinen Blick zu heben, grinst Liam mich an, wobei seine Grübchen zum Vorschein kommen. Seine Augen strahlen. Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus.
Nach ein paar Minuten bricht er das Schweigen. »Sag mal, hast du Hunger?«
Überrascht hebe ich die Augenbrauen. »Nicht wirklich«, sage ich, obwohl mein Magen total leer sein muss.
Doch er achtet gar nicht auf meine Antwort. »Dann wirst du jetzt meine Kochkünste kennenlernen«, sagt er und fährt schon los.
»Du und kochen?«, frage ich belustigt, da ich mir das schlecht vorstellen kann.
»Du wirst schon sehen.« Mit einem verschmitzten Grinsen zwinkert er mir zu, während wir durch den Park in Richtung seiner Wohnung schlendern.