33 – Ablenkungsparty
Am nächsten Tag schleppe ich mich hundemüde durch die Vorlesungen. Immer, wenn ich kurz vor dem Einschlafen bin, rede ich mir ein, dass ich so wenigstens teilweise etwas mitbekomme. Wäre ich mitgefahren, hätte ich jetzt gar keine Notizen und müsste mich auf Paiges – mit Herzchen verzierte – Notizen verlassen.
Als die Uni am Nachmittag zu Ende ist, bin ich mehr als erleichtert. Während ich im Bus nach Hause fahre, frage ich mich, ob Liam wirklich gefahren ist. Seine Mutter wäre sicher nicht begeistert darüber. Ich blicke auf mein Handy und es juckt mir in den Fingern, Liam zu fragen, ob er gut angekommen ist. Verärgert, dass ich so schnell schwach werde, verstaue ich das Handy in meiner Tasche.
Den Nachmittag verbringe ich mit meinem Lieblingsbuch »Harry Potter und der Gefangene von Askaban« und einer Tasse Tee auf meinem Bett. Mein Handy liegt dabei ganz weit weg von mir, sodass ich nicht in Versuchung komme, Liam zu schreiben. Immer wieder erinnere ich mich daran, dass ich nur meine Meinung vertreten habe. Dass das so ausarten würde, konnte ich doch nicht ahnen.
Ein lautes Geräusch durchdringt die Stille. Ich reiße die Augen auf und starre in das helle Licht meiner Nachttischlampe. Müde reibe ich mir die Augen, als mir bewusst wird, dass ich eingeschlafen sein musste. Mein Wecker zeigt 20:39 Uhr an. Na super, ich habe bestimmt drei Stunden geschlafen. Somit werde ich diese Nacht sicherlich kaum zur Ruhe kommen.
Ich stehe auf und schlurfe ins Bad. Dort sehe ich in den Spiegel und meine Haare stehen in alle Richtungen ab. Mit meiner Bürste versuche ich das Vogelnest auf meinem Kopf zu beseitigen. Seufzend lasse ich meine Hand sinken. Ich sehe meinem Spiegelbild in die braunen Augen. Sofort sehe ich Liams Augen vor mir, die ich so gut kenne. Eigentlich wollte ich nicht nachgeben, aber ich muss gestehen, ich vermisse ihn. Vor allem nach diesem komischen Streit, fühlt es sich so merkwürdig an, nicht zu reden.
»Dürfte ich auch mal? Du willst dich doch bestimmt gleich wieder in deinem Zimmer verkriechen«, ertönt auf einmal Julias Stimme hinter mir.
Ich zucke zusammen und werfe versehentlich Nicks Zahnputzbecher um. Dieser springt laut klappernd auf dem Boden herum, sodass Julia nun zusammenzuckt und ich aufschreie.
»Alter Schwede«, ruft Julia aus und legt ihre Hand auf ihr Herz. Ihre Augen sind weit aufgerissen.
Ich keuche lachend auf und Julia fällt mit ein, doch dann verstummt sie.
»Alles klar bei dir?« Sie schaut mir forschend in die Augen, als könnte sie dort die Antwort finden.
Mit einem Mal ist mein Lachen verschwunden und ich starre mit leerem Gesichtsausdruck auf den Zahnputzbecher. »Keine Ahnung.«
Julia hebt eine Augenbraue. »Du bist ganz schön durch den Wind. Oh Gott, jetzt sag mir nicht, dass es etwas mit Liam zu tun hat.«
Ich hebe meinen Blick und schaue sie stumm an.
»Junge, ich kann deine Gehirnzellen bis hierhin rattern sehen. Weißt du, was dir gut tun würde? Ablenkung. So'n Typ, den ich kenne, lässt 'ne Party steigen. Und da gehen wir jetzt hin.« Julia nickt entschlossen.
»Ne, Julia echt nicht«, versuche ich mich rauszureden, doch sie lässt mich sofort mit ihrem Blick verstummen. Seufzend hebe ich Nicks Becher auf und verlasse das Bad.
Es kommt wie es kommen musste. Ich lande auf der Party eines Typen, den ich nicht kenne. In einem Haus, das ich nicht kenne, mit lauter Leuten, die ich ebenfalls nicht kenne. Julia drückt mir einen Drink in die Hand, als wir ankommen, und will nur schnell einen Kumpel begrüßen. Mittlerweile sitze ich seit einer halben Stunde alleine auf einem Sofa.
Ich lasse meinen Blick über die Leute schweifen in der Hoffnung, doch noch ein bekanntes Gesicht zu finden. Doch ich entdecke nur Julia in der Menschenmenge und überlege, ob ich sie dazu drängen sollte zu gehen. Doch im Gegensatz zu mir hat sie wirklich Spaß. Ich seufze tief, leere meinen Drink und stehe auf.
Ich kämpfe mich durch die Menschenmenge und behalte dabei Julias leuchtende Haare im Blick.
»Hey!« Ich muss schreien, um die Musik zu übertönen. Schon deswegen bin ich kein Partymensch. Mich nerven die vielen Leute, die laute Musik und auch die schlechte Luft tragen nicht dazu bei, dass ich mich hier wohlfühle. Ich tippe Julia an, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Hey, da bist du ja.«
Als hätte sie mich vermisst. »Ich gehe jetzt.«
Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Allein?«, fragt sie skeptisch.
»Ja. Oder willst du mitkommen?« Ich erwarte gar keine Antwort auf diese Frage.
Julia grinst mich nur an, zuckt mit den Schultern und tanzt weiter.
Erleichtert atme ich die frische Nachtluft ein, als ich aus dem Haus trete, und mache mich auf den Weg nach Hause. Alles ist relativ ruhig, doch als mir schließlich drei Männer entgegenkommen und wir die einzigen auf der Straße sind, beschleunigt sich mein Herzschlag. Erst als ich sie nicht mehr hören kann, atme ich erleichtert auf.
Ich habe es fast nach Hause geschafft, als ich zum dritten Mal an diesem Tag heftig zusammenzucke. Mein Handy klingelt. Erst als ich den Anruf schon angenommen habe, realisiere ich, dass Liam anruft. Kurz überlege ich, einfach aufzulegen, doch die Tatsache, dass ich alleine durch London laufe, sorgt dafür, dass ich mich für den Anruf entscheide.
»Hi.« Ich klinge außer Atem.
»Nina? Alles okay?«
»Eigentlich schon. Bin nur gerade unterwegs und habe mich wegen meinem Handy erschrocken«, plappere ich drauf los.
»Allein?«
»Ja.«
»Wo willst du denn hin? Ruf dir doch lieber ein Taxi«, sagt Liam und ich höre die Sorge in seiner Stimme, was mir ein kleines Lächeln entlockt. Waren wir nicht eigentlich sauer aufeinander?
Ich erkläre ihm, dass Julia mich auf die Party geschleppt hat.
»Bist du denn bald zu Hause?«
»Alles gut. Ich bin jetzt da«, sage ich und schließe die Haustür auf.
»Echt? Das ist gut.« Ich höre ihn erleichtert ausatmen. »Eigentlich wollte ich anrufen, weil ...« Er stockt. »Mann, es tut mir echt leid. Ich hätte dich nach der ganzen Sache mit Chloe gar nicht erst fragen sollen.«
Mitten auf der Treppe bleibe ich stehen, um seinen Worten besser lauschen zu können.
»Ich dachte bloß, dass ihr - Felix und du - euch besser kennenlernen könntet.«
»Mir tut es auch leid. Wir hätten in Ruhe darüber reden sollen. Aber ich würde ihn gerne besser kennenlernen«, lenke ich ein und bin froh, dass diese Sache aus der Welt geschafft wurde.
Kurz ist es ruhig in der Leitung. »Also ist alles wieder gut?«, fragt er zögerlich nach.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. »Ja, alles wieder gut.«