40 – Böses Erwachen

Dunkelheit. Das ist das erste, was ich wahrnehme, als ich aus meinem tiefen Schlaf erwache. Ich fühle mich benommen und schwach. Selbst der einfache Versuch meine Augen zu öffnen, ist zu schwer für mich. Ich liege in einem Bett mit einem weichen Kissen, aber es fühlt sich anders an als zu Hause. Außerdem fühle ich mich steif, als hätte ich tagelang gelegen. Es riecht nach Desinfektionsmittel.

Ich bin nicht daheim. Zuerst höre ich ein stetiges Piepen, dann Stimmen. Es fällt mir schwer mich auf sie zu konzentrieren. Ihre Stimmen klingen dumpf, als würde ich sie durch Watte hören, doch schließlich schnappe ich etwas auf.

»David hat sich wirklich Sorgen gemacht, Amber, als er davon gehört hat«, sagt die Stimme einer Frau, die selbst sehr besorgt klingt. 

Amber ... David … Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich versuche, die Namen einzuordnen. Kenne ich Amber und David? Kenne ich die Stimme? Das Atmen fällt mir schwer, mein rasender Puls pocht in meinen Kopf. Wie heiße ich überhaupt?

Entfernt nehme ich wahr, wie das Piepen zunimmt. Ich will mich aufrichten, Antworten verlangen, doch plötzlich ist alles glasklar: Nina. Ich heiße Nina Adams und kenne keinen David und keine Amber. Auch diese Stimme habe ich noch nie zuvor gehört. Auf einen Schlag ist alles wieder da. Da war dieses Auto, das plötzlich aus einer Hauseinfahrt kam. Es konnte nicht mehr bremsen und ich konnte nicht mehr ausweichen. Es hat mich angefahren. Ich wurde durch die Luft geschleudert, ab da ist Dunkelheit. Bis jetzt.

Dann durchzuckt es mich wie ein Blitz. Ich reiße die Augen auf und schaffe es nur meinen Arm ein Stück zu heben, obwohl ich am liebsten aufgesprungen wäre.

»Liam«, krächze ich. Am liebsten hätte ich geschrien. Frustration, über das Versagen meines Körpers, lässt mich mit den Zähnen knirschen. Meine Augen fangen an zu tränen, teils aus Verzweiflung, teils wegen des grellen Lichts.

Ich höre rasche Schritte und dann erscheint das Gesicht einer Frau vor mir. Mit großen Augen schaut sie auf mich herab. »Sie ist wach, Amber«, sagt sie und schaut nach rechts. Dann greift sie neben mein Bett, drückt auf einen roten Knopf und lächelt mich an. »Willkommen zurück bei den Lebenden.«

Die Tür fliegt auf und nachdem sich noch eine Frau in einem weißen Kittel über mich gebeugt hat, geht es richtig los. Es kommt noch ein Arzt, der meinen Puls misst. Dann wird das EKG abgeschaltet und ich werde aus meinem Zimmer geschoben. Ich werde einigen Reaktionstests unterzogen und mir werden gefühlte hundert Fragen gestellt. Das Ganze nehme ich benommen hin und versuche alles zu beantworten, doch niemand will mir meine Fragen über Liam beantworten. 

Kurz nachdem ich in mein Zimmer gefahren wurde, steht jemand in der Tür. Wärme durchströmt mich, als ich meine Mutter sehe. Sie kommt mit tränenüberströmtem Gesicht zu mir. 

Meine Augen brennen und wollen immer wieder zufallen, doch ich zwinge sie dazu, offen zu bleiben, während alles um mich herum erneut verschwimmt. 

»Meine Süße, meine Kleine. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Wie geht es dir?«, fragt sie und setzt sich zittrig auf einen Stuhl neben meinem Bett. Da mein Bett in eine höhere Position gefahren wurde, kann ich sitzen und sie so besser ansehen.

»Ganz gut«, lüge ich. 

Mein Hals fühlt sich wie Sandpapier an. Meine Rippen schmerzen unglaublich und auch in meinem linken Bein sticht es heftig. Abgesehen davon habe ich einige blaue Flecken und Schürfwunden wegen dem Aufprall, aber damit bin ich noch glimpflich davongekommen, sagen die Ärzte. Wahrscheinlich sieht es schlimmer aus als es ist, auch wenn ich versuche mich so wenig wie möglich zu bewegen, aber das muss meine Mutter ja nicht wissen. Mich beschäftigt Wichtigeres.

»Wie lange war ich weg?« Ich rutsche ein bisschen hin und her. Ich habe Angst vor der Antwort. Was ist, wenn ich viel länger bewusstlos war als gedacht?

»Drei Tage, meine Liebe. Es ist Freitag«, sagt sie und streicht mir liebevoll eine Haarsträhne hinter mein Ohr.

»Mum, weißt du, was mit Liam ist?« Ich spreche noch leiser als zuvor. 

Doch wegen ihrem veränderten Gesichtsausdruck weiß ich, dass sie mich verstanden hat. Als sich plötzlich Tränen in ihren Augen bilden, entgleitet mir meine gefasste Mimik.

»Mum?«, flüstere ich mit belegter Stimme.

»Mach dir um ihn jetzt keine Sorgen. Werde du erstmal gesund.« Sie kann mir dabei nicht in die Augen schauen. 

Ich hebe meinen Arm, der vor Anstrengung zittert, und greife nach dem ihren.

Sie starrt auf meine bleichen Hände und legt ihre, mit zitternden Fingern, auf meine. 

»Mum« Tränen bilden sich in meinen Augen. 

Meine Mutter hebt ihren Blick und auch ihre Augen sind wässrig. Sie ringt um Fassung und holt ein paar Mal tief Luft.

»Liam hat ...« Sie bricht ab. »Oh Nina, Schatz. Es … Es tut mir so leid.« Sie schnieft heftig. »Liam hat es ... hat es schlimm erwischt. Er liegt im Koma.«

Kein Geräusch dringt zu mir durch. Ich sehe zu meiner Bettnachbarin, ihr Besuch ist nun weg und sie selbst schläft seelenruhig. Das dritte Bett ist unbelegt. Ein Fenster ist offen und Verkehrsgeräusche erreichen mich nur weit entfernt. Die einzigen Geräusche, die ich höre, sind das Piepen des EKGs und regelmäßiges Atmen. 

Und dann ist da der ohrenbetäubende Knall, als meine ganze Welt einstürzt. Liam und Koma. Für mich ergibt das überhaupt keinen Sinn, trotzdem schießen mir sofort die Tränen in die Augen. Liam kann nicht im Koma liegen. Er ist zu Hause. Daran, dass Liam von dem Auto getroffen wurde, kann ich mich nicht erinnern. 

»Nein«, bringe ich heraus, als die erste Träne über meine Wange läuft. 

Meine Mutter will nach meiner Hand greifen, doch ich ziehe sie weg. »Es tut mir so leid«, wiederholt sie leise, wie ein Mantra.

Ich will – nein, ich kann – die Wahrheit nicht akzeptieren. Liam darf einfach nicht im Koma liegen. Schluchzend vergrabe ich das Gesicht in meinen Händen.

»Wieso? Wieso er?« Ich glaube an meinen Tränen und dem Schmerz in meinem Herz zu ersticken. Gefühle und Gedanken prasseln auf mich ein. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst fühlen soll. 

Meine Mutter betrachtet mich mit glasigen Augen. 

Die Krankenschwester neben mir bemerke ich erst, als sie etwas in meinen Tropf spritzt. »Das ist nur zur Beruhigung.« 

Fast augenblicklich fühle ich mich müde. So unendlich müde.

»Haben Sie ihr das mit dem Jungen gesagt?«, fragt sie an meine Mutter gerichtet.

»Ich hätte es nicht tun sollen.« Sie sackt auf ihrem Stuhl zusammen.

Die Schwester legt ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. »Sie mussten. Sie muss diesen Schmerz spüren, auch wenn es grausam ist. Sie muss ihn erst spüren, um ihn verarbeiten zu können.«

Das ist das letzte, was ich mitbekomme, dann drifte ich wieder in die Dunkelheit hinab.