44 – Zu Hause
Ich bin zurück im Haus meiner Eltern. Es bietet mir etwas Schutz vor der Realität. Ich kann einfach so tun, als wäre ich noch siebzehn Jahre alt. Dieses Haus wäre noch mein Zuhause und ich würde noch zur Schule gehen. Dort war ich zwar nicht wirklich glücklich, aber die Außenseiterin zu sein kommt mir jetzt so viel erträglicher vor als die Realität. Chloe würde leben. Wir würden jeden Abend telefonieren. Doch vor allem würde die siebzehnjährige Nina nicht eine Sekunde an Liam denken. Er wäre nur ein unwichtiges Detail ihres Lebens.
Gerade kommt mir diese Vorstellung tröstlich vor, doch in Wirklichkeit würde ich meine Erinnerungen an Liam niemals hergeben wollen, auch wenn sie im Moment so unglaublich schmerzhaft sind. Ständig frage ich mich, was ich tun soll. Es beschämt mich selbst, aber der Gedanke ihn wieder zu besuchen ängstigt mich. Er war so leblos. Wie soll ich denn nur mit der Hülle von ihm sprechen? Ich weiß ja nicht, ob es überhaupt etwas bewirken würde. Ich weiß nicht mal, wie schlimm es ihn wirklich getroffen hat. Nur das Wort Schädel-Hirn-Trauma konnte ich einmal aufschnappen. Doch das hilft mir nicht weiter. Was ich weiß ist, dass er im Koma liegt und es ungewiss ist, wann oder ob er überhaupt wieder aufwachen wird.
»Nina, es gibt Essen! Kommst du bitte runter?«, werde ich von meiner Mutter aus meinen Gedanken gerissen.
Auch sie tut so, als wäre ich die siebzehnjährige Nina. In der ganzen letzten Woche hat sie Liam und den Unfall nicht mit einem Wort erwähnt. Aber ich kann die Sorge in jedem ihrer Blicke sehen. Meiner Mutter zuliebe gehe ich nach unten und betrete das Esszimmer, das nicht mehr so aussieht wie vor drei Jahren. Es holt mich endgültig in die Gegenwart zurück und zeigt mir, dass ich keine siebzehn Jahre mehr bin und sich sehr vieles geändert hat. Dass ich mich verändert habe.
Meine Mutter lächelt mich breit an. Ihre erzwungene Freundlichkeit macht mich noch krank. Mein Vater sitzt mir mit seinem harten Blick gegenüber. Dieser zeigt mir noch deutlicher, dass ich keine siebzehn mehr bin. Damals konnte ich ihm noch von meinen Träumen, Ängsten und Gefühlen erzählen. Er hat mich verstanden. Doch heute ist alles anders. Ich frage mich, ob es wirklich an seinem Missverständnis gegenüber Liam liegt oder ob wir beide uns so stark verändern haben, dass wir uns heute kaum noch ansehen können. Es tut weh und fühlt sich wie ein weiterer Messerstich in meinem Herz an, doch ich habe nicht genug Stärke und Willenskraft, das jetzt zu klären. Ich kann seinen harten Blick nur ignorieren und an die besseren Zeiten denken.
Ich stochere in meinem Essen herum, doch zwinge mich letztendlich dazu, alles aufzuessen, damit sich meine Mutter nicht noch mehr Sorgen macht.
»Nina, willst du nicht ein paar Freunde besuchen? Du kannst dir ruhig das Auto ausleihen«, schlägt meine Mutter vor und schenkt mir ihr grausam fröhliches Lächeln.
Eine Sekunde starre ich auf die Pilze auf meinem Teller, die ich übriggelassen habe. Ich nicke. »Ja, das könnte ich machen«, zwinge ich mich zu sagen.
Meine Mutter nickt erleichtert.
Ich schiebe meinen Stuhl zurück und gehe nach oben, um meine Jogginghose gegen eine Jeans zu tauschen, denn auch wenn es mir scheiße geht, weiß ich, dass meine Eltern mich nur in vernünftigen Sachen aus dem Haus lassen.
»Ich fahre dann«, rufe ich ins Wohnzimmer, während ich meine Jacke überziehe und mir den Autoschlüssel nehme. Ich gehe aus dem Haus, setze mich ins Auto und schlage die Tür zu. Die Mühe, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, mache ich mir erst gar nicht.
Zu welchen Freunden sollte ich denn fahren? Zu meinen Uni - Freunden? Ich habe keinen Nerv für oberflächliche Freunde. Die einzigen, zu denen ich könnte, wären Julia und Nick. Doch die sehe ich sowieso bald, wenn meine Mutter mich wieder gehen lässt.
Nach meinem Zusammenbruch wusste Nick nicht, was er tun sollte und hat meine Mutter angerufen. Sie hat mich mitgenommen, doch sie hat auch keine Ahnung, wie sie mir helfen soll. Selbst in der WG fühlt es sich mehr nach zu Hause an als hier. Da ich schon eine Woche hier bin, ist das lange genug, damit meine Mutter sich einreden kann, dass sie alles versucht hat.
Ich lasse mich tiefer in den ungemütlichen Sitz sinken und ziehe meine Beine an mich, sodass sie gegen das Lenkrad lehnen. Mein Bein schmerzt dabei, doch ich ignoriere es einfach. Es ist muffig im Auto. Mein Dad hängt immer diese schrecklichen Duftbäume an dem Rückspiegel, um den schlechten Geruch zu entfernen. Es ist still. Man hört nur die Geräusche der vorbeifahrenden Autos, aber als Stadtmensch nehme ich diese kaum wahr. Ich schaue einfach aus der Frontscheibe, ohne irgendetwas Bestimmtes zu fokussieren.
Ich fühle mich, als wäre ich gar nicht wirklich da. Als wäre das alles nur ein böser Traum, aus dem ich am Morgen aufwachen kann. Und dann steht Liam vor meiner Tür und zieht mich in seine starken Arme, denn nur dort will ich sein. Nicht in diesem muffigen, stillen Auto. Ich bin zwar wieder in meinem alten Elternhaus, trotzdem fühle ich mich dort nicht so sicher und wohl wie bei ihm. Manchmal ist zu Hause kein Ort, sondern eine Person. Liam ist mein Zuhause und jetzt bin ich obdachlos.
Auf einmal weiß ich, zu wem ich fahren kann. Zu wem ich sogar fahren muss. Dort einfach aufzutauchen wird merkwürdig, aber wenigstens habe ich endlich das Gefühl zu wissen, was ich tun muss. Meine Beine sind eingeschlafen, doch ich zwinge sie, sich in Bewegung zu setzen. Ich strecke meinen Rücken und starte den Motor.
Es ist schon dunkel, als ich nach einer anderthalb stündigen Fahrt in Addlestone ankomme. Zuerst orientiere ich mich an Chloes altem Haus, auch wenn sich bei dem Anblick ein Kloß in meinem Hals bildet. Von dort aus versuche ich mich an die Wegbeschreibung zu erinnern, die Liam mir vor ein paar Monaten gegeben hat.
Als ich mir einigermaßen sicher bin, in der richtigen Straße zu sein, parke ich am Fahrbahnrand und steige aus. Kalter Wind lässt mich erzittern, doch dadurch fühle ich mich lebendiger. Ich spüre etwas. Ich laufe die Straße entlang und suche jemanden, den ich nach dem Weg fragen könnte. Ein paar Häuser entfernt, entdecke ich einen alten Herrn. Ich beschleunige meine Schritte, um ihn einzuholen, dabei macht sich die Prellung an meiner Hüfte schmerzhaft bemerkbar.
»Entschuldigung?«, rufe ich, doch meine Stimme ist nur ein Krächzen. Ich räuspere mich und versuche es noch einmal.
Der Mann dreht sich verwundert, aber mit einem freundlichen Lächeln, um. »Entschuldigen Sie, aber wissen Sie, wo die Familie May wohnt?«, frage ich ihn.
Er nickt und Erleichterung durchströmt mich. »Das Haus auf der anderen Seite. Sehen sie, dort. Das mit der Beleuchtung im Garten.« Er zeigt auf ein großes weißes Haus mit einem hübsch wirkenden Garten, der mit ein paar Strahlern beleuchtet wird.
Ich bedanke mich und eile auf das Haus zu. An der Haustür bleibe ich kurz verunsichert stehen, doch als ich mich versichert habe, richtig zu sein, klingle ich. Nach ein paar Sekunden sehe ich eine Bewegung hinter dem Milchglas. Die Tür öffnet sich.
In einer Jogginghose, mit nacktem Oberkörper und verstrubbelten Haaren steht er mir gegenüber. In einer anderen Situation wäre es mir peinlich gewesen, aber jetzt lässt es mich kalt.
»Hi, Felix.«