45 – Die richtigen Worte
Felix’ Müdigkeit ist mit einem Schlag verschwunden. Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen, in denen sich seine Überraschung widerspiegelt, an. Ihm entfährt ein Seufzen und er reibt sich mit der Hand über das Gesicht. Als er mich wieder ansieht, ist sein Blick ernst.
»Nina, was ist passiert?«, fragt er.
Die Direktheit seiner Frage überrumpelt mich. Ich presse die Lippen zusammen, kann seinem Blick nicht Stand halten. Wie soll ich ihm diese Nachricht überbringen? Ich weiß nicht mal, was ich sagen soll. Ich hätte es jemand anderem überlassen sollen. Wir kennen uns nicht mal. Ich seufze, als mir niemand anderes einfällt.
Felix hat Liam doch erst zurückbekommen und jetzt muss ich ihm mitteilen, dass er ihn verloren hat. Erneut. Warum ist das Leben so grausam? Ich kaue auf meiner Unterlippe, während ich fieberhaft nach den richtigen Worten suche. Ich finde sie nicht.
Ich blicke auf. »Kann ich vielleicht reinkommen?« Mein Vater hat mich gelehrt, wichtige Dinge nicht zwischen Tür und Angel zu besprechen, außerdem habe ich so mehr Zeit, mir einen Text zu überlegen.
»Natürlich«, sagt Felix und tritt zur Seite.
Als er die Tür hinter uns schließt, werde ich von einer wohligen Wärme eingeschlossen. Seine Familie ist auf jeden Fall wohlhabend, wenn sie sich so ein riesiges Haus in dieser Gegend leisten kann. Schon im Flur sieht jedes Möbelstück unglaublich teuer aus und obwohl in einer Ecke ein verschnörkelter Sessel steht, bin ich mir sicher, dass solche Einrichtungsgegenstände nur zur Dekoration gedacht sind. Und ich war froh, als ich mir einen ordentlichen Schreibtischstuhl für die WG leisten konnte.
Ich ziehe meine Schuhe aus, um die weißen Fliesen nicht zu beschmutzen und hänge meine Jacke vorsichtig auf. Dann stehe ich unbeholfen vor Felix und warte, dass er vorgeht. Niemals hätte ich gedachte, dass ich mal alleine bei Felix zu Hause sein würde. Und wenn ich an den Grund denke, würde ich am liebsten gleich wieder hinausrennen.
»Meine Eltern besetzen gerade das Wohnzimmer und meine Schwester ist in der Küche. Ist es okay, wenn wir in mein Zimmer gehen?«, fragt er mich und deutet die Treppe hinauf.
Ich nicke und folge ihm nach oben. Dort sieht es genauso luxuriös aus wie unten. Ich begleite Felix in ein Zimmer. Als ich hinein gehe, bin ich erleichtert, dass es hier normal aussieht. Es ist eben ein gewöhnliches Jungenzimmer, mit dem Plakat einer Rockband an der Wand und einer Menge Klamotten auf dem Boden. Es erinnert mich an die Situation bei Liam zu Hause.
Felix nimmt einen weißen Hoodie und zieht ihn über. Mit einem schiefen Lächeln deutet er auf seinen Schreibtischstuhl, auf den ich mich setze, während er sich auf sein Bett plumpsen lässt.
Mein Herzschlag erhöht sich, weil ich weiß, dass ich jetzt reden muss, doch ich weiß nicht wie.
»Also, ich denke mal, du bist nicht hier, um mich zu besuchen«, durchbricht Felix die Stille.
»Leider nicht ...«, sage ich seufzend und sehe auf den Boden. Mein Hals ist trocken, während ich nach Worten ringe. Felix beginnt ungeduldig mit dem Bein zu zappeln, was mich noch nervöser macht.
»Sag es einfach, bitte. Das Warten macht mich verrückt.«
Ich blicke weiter auf den Boden und schließe die Augen. Ich muss es ihm sagen. Es gibt sowieso keine perfekten Worte. Es wird so oder so wehtun. Mein Herz schmerzt, als ich tief durchatme. »Liam und ich hatten einen Unfall. Wir waren zu Fuß unterwegs. Ein Auto kam aus einer Einfahrt. Der Fahrer hat uns nicht gesehen und uns angefahren.«
Felix holt zischend Luft.
Ich hebe meinen Blick und sehe ihm in die Augen. »Liam liegt im Koma. Die Ärzte wissen nicht, ob er jemals aufwachen wird.« Es tut weh es auszusprechen, vor allem, weil ich weiß, was ich ihm gerade damit antue.
Felix starrt mir mit ausdruckslosem Blick in die Augen. Er ist komplett ruhig und das verunsichert mich. Dann steht er auf und geht auf und ab. Dabei fährt er sich ständig durch die Haare. Leise murmelt er: »Das kann nicht sein ... Nein ... Das kann nicht sein … «
Hilflos sehe ich ihm zu, wie er zerbricht.
Plötzlich dreht er sich ruckartig zu mir um und stürzt auf mich zu. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Er stützt sich auf die Lehnen. Bedrohlich steht er über mir. Seine Miene ist verzerrt zwischen Wut und Schmerz. Ich sinke tiefer in den Stuhl.
»Soll das ein kranker Scherz sein, oder was? Du tauchst hier einfach auf. Letztens habe ich noch mit ihm gesprochen und gelacht und jetzt soll er... «
Mit aufgerissenen Augen sehe ich zu ihm hinauf. Mein Herz klopft schnell. Doch Felix' Züge werden weicher. Er richtet sich auf und man kann den Schmerz wie einen Schatten vor seinen Augen sehen.
»Er kann doch nicht …« Seine Stimme bricht und er rauft sich die Haare. Dann dreht er sich weg und legt seine Hände vors Gesicht.
Ich hole tief Luft. Ich hatte keine spezielle Vorstellung von seiner Reaktion, aber das habe ich nicht erwartet. Vorsichtig richte ich mich wieder auf dem Stuhl auf, wobei ich ihn nicht aus den Augen lasse.
Seine Schultern heben und senken sich ein paar Mal, als er tief durchatmet. Er senkt die Arme und wendet seinen Kopf zu mir, doch er dreht sich nicht um. »Es tut mir leid.«
Ich glaube ihm.
Für eine Weile herrscht Stille. Ich sitze auf dem Stuhl und versuche keinen Laut von mir zu geben. Nach diesem Ausraster kann ich Felix überhaupt nicht einschätzen. Ich weiß nicht, was als nächstes kommt. Er steht mit dem Rücken zu mir im Zimmer und starrt nachdenklich ins Leere. Es tut weh ihn so zu sehen. Felix war doch der lustige Typ, der gute Geschichtenerzähler.
Die Stille ist mittlerweile ohrenbetäubend, doch ich traue mich nicht, sie zu brechen. Schließlich dreht Felix sich zu mir um und sieht mir in die Augen.
»Es tut mir wirklich leid, Nina«, flüstert er und ich weiß nicht, ob er seinen Ausraster meint oder Liam ... Er sieht so gebrochen aus wie ich mich fühle. Zum ersten Mal in dieser grausamen Woche fühle ich mich verstanden. Ich stehe auf und umarme ihn, weil es sich richtig anfühlt. Für eine Sekunde ist er so überrascht, dass er nur dasteht, bevor er seine Arme ebenfalls um mich legt. Seine Wärme und Nähe sind tröstlich, auch wenn sie die Leere in meinem Inneren nicht komplett füllen können. Felix lässt mich los und wir stehen einfach stumm voreinander. Wieder ist er es, der zuerst das Wort ergreift: »War er glücklich? Im letzten Moment vor dem Koma?«
Es raubt mir für einen Moment den Atem, als sich unser letzter gemeinsamer Abend vor meinem Auge abspielt. Der Weihnachtsmarkt. Die ausgelassene Atmosphäre. Das Riesenrad. Unser Kuss. Meine Augen brennen, während sich ein trauriges Lächeln auf meine Lippen schleicht. »Ja. Er war glücklich«, sage ich.
»Gut. Weißt du, wir haben die letzten Monate oft geredet. Und Mann, er hat echt oft über dich geredet.« Felix lacht auf. »Aber ich habe ihn gelassen, denn dann ... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Da war etwas in seiner Stimme. Als würde er über das Wichtigste auf der Welt reden. Oh Mann, ich habe ihn noch nie verliebt gesehen und er war früher komplett abgeneigt von dieser ganzen Beziehungssache. Der Unfall hat ihn verändert, aber, wow, du hast aus ihm einen besseren Menschen gemacht.«
Felix lächelt mich liebevoll an und ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Und dann überrumpelt mich der Schmerz komplett. Ich fange an zu schluchzen.
»Warum ist er nicht hier? Er sollte hier sein. Hätte es nicht mich treffen können?« Die Worte platzen unüberlegt aus mir heraus und sie erschrecken mich, doch es ist wahr. Ihm ist schon so viel Ungerechtes wiederfahren, warum auch noch das?
Felix‘ Blick ist entschlossen, als er mich an den Schultern packt und mir in die Augen starrt. »Hör sofort auf. Das darfst du nicht mal denken. Hast du mir nicht zugehört? Er hat dich geliebt, okay? Er liebt dich immer noch. Und ich kenne ihn. Hätte er die Entscheidung gehabt, er wäre hundertmal für dich ins Koma gefallen.
Er hätte gewollt, dass du lebst, Nina.«