49 – Zwischen Angst und Eifer

Viele Stunden habe ich auf diesen Anruf gewartet und als er endlich kommt, wäre ich fast nicht an mein Telefon gegangen.

Ich liege mit Nolan auf meinem Bett. Er sitzt an die Wand gelehnt und ich kuschle mich an seine Schulter. Über meinen Laptop schauen wir Harry Potter und der Feuerkelch. Ich versinke gerade in Mitleid für Harry, dessen Name aus dem Feuerkelch gezogen wurde und bin deshalb wenig an meinem klingelnden Handy interessiert.

»Willst du nicht rangehen?«, fragt mich Nolan, doch ich deute ihm nur ruhig zu sein.  »Ist wahrscheinlich sowieso nur Paige oder meine Mutter«, sage ich und konzentriere mich weiter auf den Film, doch das Klingeln nimmt kein Ende. Schließlich seufze ich genervt und pausiere den Film. Schlecht gelaunt gehe ich zu meinem Handy, das auf einem Regal liegt. Unbekannt.

»Nina Adams«, melde ich mich und stemme meine Hand in die Hüfte, während ich auf eine Antwort warte.

»Nina!« Kurz runzle ich die Stirn, als ich die Stimme erkenne. Es ist Liams Mutter. Sie klingt erleichtert und total aufgeregt. So habe ich sie noch nie erlebt. »Er ist aufgewacht! Nina, oh mein Gott ... Liam ... er ist wirklich wach.«

Ich erstarre. Mein Herz setzt einen Schlag aus. »Was?«, flüstere ich. 

Sie schluchzt. »Er ist wach. Oh mein Gott. Vor einer halben Stunde ist er aufgewacht. Nina, ich kann es gar nicht fassen. Er ... lebt«, sagt sie und fängt wieder an zu schluchzen. »Das wollte ich dir ... dir nur sagen.« Mit diesen Worten legt sie auf.

Meine Augen brennen. Tränen bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Ich fange an zu schluchzen und schlage mir die Hand vor den Mund. »Oh mein Gott«, schluchze ich und lasse mich auf den Boden sinken. 

Nolan eilt zu mir und nimmt mich in den Arm. Er hält mich fest, während ich mein Schluchzen nicht stoppen kann.  Ich bin vollkommen überwältigt von meinen Gefühlen. Wie viele Stunden habe ich auf diese Nachricht gewartet? Und nun ist sie da. Es kommt mir so unwirklich vor. Hat sie das wirklich gesagt? Oder ist das alles nur ein Traum? Ich erinnere mich an diese Hoffnung in ihrer Stimme. Das hätte ich mir niemals einbilden können.

Langsam beruhige ich mich. Ich wische mit dem Ärmel über mein Gesicht. »Er ... er ist wach«, sage ich mit schwacher Stimme und winde mich in Nolans Armen, um in seine Augen zu sehen. Er schaut mich mit geweiteten Augen an. Er ringt nach Worten, doch bleibt stumm, als er keine finden kann.

Liam ist aufgewacht, schießt es mir durch den Kopf, was mache ich also noch hier?  »Ich muss zu ihm. Sofort.« Ich befreie mich aus Nolans Armen, der mich erst gar nicht loslässt. Völlig durcheinander stehe ich in meinem Zimmer. Tasche. Handy. Portemonnaie. Mehr brauche ich nicht. Wenn Liam wieder bei mir ist, brauche ich nichts anderes. Dann bin ich wieder vollständig. 

Dieser Gedanke schießt so schnell durch meinen Kopf, dass ich dessen Tragweite nicht richtig begreife, bis ich mich umdrehe und Nolan sehe, der sich aufrappelt und mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck ansieht. Er versucht sich an einem Lächeln, doch es sieht nicht echt aus.

»Soll ich mitkommen?«, fragt er. 

Sofort macht sich eine unerklärliche Abneigung gegen diesen Vorschlag in mir breit. Liam ist wieder aufgewacht und ich will einfach nur zu ihm. 

»Nein, danke. Das muss ich allein machen«, sage ich und versuche nicht gemein zu klingen. Dann schnappe ich meine Sachen und stürme aus dem Zimmer. Nolan folgt mir zögerlich, lehnt sich an den Türrahmen zum Wohnzimmer und beobachtet mich, wie ich schnell meine Jacke und Schuhe anziehe. Und weil ich Schuldgefühle Nolan gegenüber habe, gehe ich noch zu ihm und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich melde mich später.« Dann nehme ich meine Tasche und eile zur Tür. Als ich sie hinter mir zuziehen will, stocke ich.

»Was ist los?«, höre ich gedämpft Nicks Stimme aus dem Wohnzimmer. Sie scheinen nicht bemerkt zu haben, dass die Tür noch gar nicht zugeknallt ist.

»Liam ist aufgewacht.«

»Was?« Ich höre die Überraschung in seiner Stimme. 

»Ja, er ist aufgewacht«, sagt Nolan niedergeschlagen. »Ich habe sie jetzt verloren, oder?«

Ich stocke. Verletzt verziehe ich das Gesicht. Wieso sagt er das? 

»Du kannst sie nicht dafür verurteilen, dass sie sofort zu ihm will. Schließlich hat sie ihn geliebt«, sagt Nick. Seine Stimme ist undeutlich. Sie scheinen ins Wohnzimmer gegangen zu sein. 

Ich drücke mein Ohr näher an den Türspalt, denn ich will wissen, was Nolan erwidert.

»Danke für die Aufmunterung, Kumpel.« Obwohl Nolans Stimme leise ist, höre ich jedes Wort kristallklar. »Doch wir wissen beide, wenn sie sich zwischen Liam und mir entscheiden müsste, würde ich verlieren.«

Ich taumle ein paar Schritte zurück. Als mir die Tragweite der Nachricht, dass Liam aufgewacht ist, bewusst wird. Liam ist wach, Nolan ist auch noch da und ich liebe sie beide. Muss ich jetzt zwischen ihnen wählen? Ich will das nicht. Ich kann das nicht.

So leise wie möglich ziehe ich die Tür zu. Dann renne ich die Treppe hinunter, als könnte ich vor dem Gehörten fliehen. Jetzt habe ich keine Nerven, um darüber nachzudenken. Ich muss zu Liam, denke ich und sprinte zur Bushaltestelle.

 

Ich lasse mich auf einen Sitz im Bus plumpsen, als mir Felix einfällt. Liams Mutter war schon so freundlich mich zu informieren, was ich nicht für selbstverständlich halte, doch an Felix wird sie bestimmt nicht gedacht haben. Vielleicht weiß sie nicht einmal, dass Liam wieder Kontakt mit ihm hat. Und im Krankenhaus haben sie sich bestimmt nicht getroffen, da er aufgrund der Entfernung selten da war. Eine Zeit lang hat er sich gar nicht gemeldet. Doch irgendwann war er bereit und hat Liam erneut besucht. 

Ich nehme mein Handy aus meiner Tasche und suche nach Felix‘ Kontakt.

»Hi. Alles gut bei dir?«, meldet er sich fröhlich.

»Felix, Liam ist aufgewacht«, platze ich heraus, weil ich es nicht schaffe diese Nachricht zurückzuhalten.

»Was? Oh mein Gott. Wie geht es ihm?«, fragt er hastig.

»Ich weiß nicht, wie es ihm geht. Bin gerade auf dem Weg. Felix, ich ... ich kann es gar nicht fassen«, sage ich und lache auf. 

»Ich komme. Ich fahre sofort los. Wir treffen uns im Krankenhaus. Bis dann.«

»Bis dann«, sage ich. 

Kurz bevor er auflegt, höre ich ihn murmeln: »Liam, oh mein Gott, er lebt.«

Jeden Tag habe ich auf diesen Moment gewartet. Mein sehnlichster Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Ich habe mich nie auf diesen Augenblick vorbereiten können, doch ich hätte niemals gedacht, dass es sich so anfühlt. Es hat eingeschlagen wie eine Bombe. Ich kann es immer noch nicht ganz fassen, doch gleich bin ich da. Wenn ich ihn sehe, kann ich mir sicher sein, dass es kein Traum ist. Es ist Realität.

 

Ich komme am Krankenhaus an. Weil ich mich nicht zurückhalten kann, sprinte ich durch die Gänge und renne die Treppen hoch. Jetzt würde ich es nicht aushalten auf einen Fahrstuhl zu warten. Ich renne an Schwestern und Ärzten vorbei, die mir alle missmutige Blicke zuwerfen. Erst nachdem ich fast einen Mann mit einer Blumenvase umrenne, beschränke ich mich auf schnelles Gehen, bis ich endlich vor Liams Zimmertür stehe.

Mein Herzklopfen höre ich so deutlich. Ich lehne mich außer Atem, aber immer noch voller Elan, an die Wand gegenüber des Zimmers 387. 

Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Nur wegen dem Gedanken gleich einen wachen, sprechenden, lebendigen Liam zu sehen. Und als sich mein Atem beruhigt hat, kann ich nicht länger warten.

Mit schnellen Schritten gehe ich zur Tür. Ich klopfe zweimal an, doch ich warte nicht auf eine Antwort, sondern öffne direkt die Tür. Und wieder ist da diese nervige Wand, die mir die Sicht auf den Kopf des Bettes versperrt. Als ich das erste Mal hier war, war diese Wand ein Schutz vor der Realität, doch jetzt ist sie eine Qual. Ich schließe eilig die Tür und gehe mit wackeligen Beinen in das Zimmer. Meine Hände sind schwitzig und mein Herz klopft immer noch schnell. Das erste, was mir auffällt, ist, dass das Beatmungsgerät neben seinem Bett weg ist. 

Dann sehe ich Liams Mutter. Ich fange ihren Blick auf. Ihre Augen leuchten. Sie lächelt strahlend und sieht so glücklich aus wie nie zuvor.

Mein Blick fällt auf Liam. Das Kopfteil seines Bettes ist hochgefahren, sodass er sitzen kann. Seine Augen sind offen und er greift gerade unbeholfen nach einem Glas Wasser. Er ist geschwächt, aber wenn er dieses Koma überstanden hat, schafft er alles.

Tränen bilden sich in meinen Augen. Ich trete näher an sein Bett. 

Er bemerkt mich erst, als er das Glas auf den Tisch zurückstellt. Seine grünen Augen bohren sich in meine. Diese wunderschönen Augen. Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen. Ein zittriges Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Vorsichtig strecke ich meine Hand nach seiner aus.

»Liam«, sage ich schwach. »Oh mein Gott. Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.«

Er runzelt die Stirn und zieht seine Hand zögerlich weg, als ich sie ergreifen will. Ich erstarre, während er mich mit gerunzelter Stirn mustert.

»Liam«, sage ich erneut und will meine Hand an seine Wange legen, wie ich es so oft gemacht habe. 

Doch er weicht erneut von mir zurück, dieses Mal heftiger und ich schrecke zurück. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.

Während er sich so weit wie möglich von mir weg lehnt, schaut er mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Bist du im falschen Zimmer, oder so? Sorry, aber ich kenne dich nicht.«