55 – Letzte Hoffnung

Zum zweiten Mal klingelt es an der Tür. Seufzend nehme ich meine Kopfhörer aus den Ohren, obwohl gerade mein Lieblingslied kommt. »Julia? Julia! Gehst du?«, rufe ich durch die Wohnung und lausche nach einer Antwort, doch keine Reaktion. Na toll, denke ich und rapple mich auf. Julia hört wahrscheinlich auch Musik, doch sie hat die Lautstärke so hoch, dass sie nichts anderes mitkriegt.  Wenn Julia sich eine Pizza bestellt hat, kann sie mich mal, denke ich, als ich die Tür öffne.

Sofort erstarre ich und schaue mit großen Augen zu Liam, der vor der Tür steht. Er hat die Hände noch an den Rädern und fährt immer wieder vor und zurück. Er grinst mich unsicher mit einem hochgezogenen Mundwinkel an. 

Ich öffne den Mund, doch ich bin sprachlos. Ihn so unerwartet zu sehen, wirft mich vollkommen aus der Bahn. 

»Hi«, sagt Liam und lächelt mich mit seinem süßen Lächeln an, bei dem er diese niedlichen Grübchen kriegt.

Ich starre ihn nur an. Was macht er hier? Er wollte mich doch in Ruhe lassen, um unser beider Willen. Es sollte wieder Normalität in unser Leben einkehren. Daran habe ich in den letzten Wochen gearbeitet, ich habe jeden Tag an ihn gedacht, aber jeden Tag etwas weniger.

»Liam ... Hi«, sage ich und reiße mich zusammen. Sein Anblick tut weh, doch nur, weil ich ihn immer noch liebe. Deshalb sollte ich ihm nicht die kalte Schulter zeigen. Auch wenn es mir verdammt schwerfällt, mein Lächeln aufrecht zu erhalten.  »Ähm ... Komm doch rein«, sage ich, trete zur Seite und halte Liam die Tür auf, damit er reinfahren kann. Kurz zögert er, bevor er hereinkommt. Dann schließe ich die Tür.

»Wollen wir uns ins Wohnzimmer setzen?«, fragt er und deutet ins Wohnzimmer. 

Zustimmend nicke ich und folge ihm. Unsicher setze ich mich auf das Sofa, während er sich mir gegenüber platziert.  Kurz ist es still und wir betrachten einander. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen schaut er mich an. Peinlich berührt wende ich den Blick ab. Ich räuspere mich. »Du bist wieder hier.« Es ist eine Feststellung.

»Ja.«

»Ich dachte, es hätte nicht funktioniert. Keine Erinnerungen. Warum bist du also hier?«, frage ich und verschränke meine Hände ineinander. Sie sind kalt und schwitzig, doch so halte ich sie wenigstens davon ab, mit dem Saum meines T-Shirts zu spielen.

Liam fängt an zu lächeln und zum ersten Mal ist der unsichere und schuldbewusste Schatten aus seinen Augen verschwunden. Er sieht richtig glücklich aus.  »Vor zwei Tagen kamen welche zurück. Nur ein paar Erinnerungen, aber sie waren plötzlich wieder da. Sie kamen in kurzen Flashbacks und die letzten Nächte hatte ich so klare Träume. Ich bin mir nicht einhundert Prozent sicher, aber ich glaube, dass das auch Erinnerungen waren«, sagt er und strahlt mich an.

Mit großen Augen sehe ich ihn an, bevor ich anfange zu lächeln. Seine Freude ist ansteckend. Mit aller Kraft muss ich mich zurückhalten ihn nach den Erinnerungen zu fragen. Ob es welche von uns waren?

»Das ist toll. Ich freue mich für dich«, sage ich aufrichtig.

Er grinst mich an, doch wird wieder ernst. »Weißt du, Felix hat mich an einen Ort im Park geschleppt. Der Ort, an dem wir uns kennengelernt haben«, sagt er und wirft mir ein verschmitztes Lächeln zu.

Ich lächle unsicher und wende meinen Blick ab.  Liam räuspert sich. »Auf jeden Fall ist dann etwas Ähnliches passiert, wie in meiner vergessenen Erinnerung. Er hat eine Flasche gegen einen Mülleimer geworfen und plötzlich - boom - waren da diese ganzen Bilder und Szenen. Das ist schwer zu beschreiben.«

Ich höre ihm aufmerksam zu. Felix scheint Liam noch zu besuchen. Er versucht ihm zu helfen. Ich bin froh, dass Liam ihn in dieser schweren Zeit an seiner Seite hat. Gleichzeitig fasziniert mich die Tatsache, dass er einen Teil seiner Erinnerungen durch eine Art Nachahmung der damaligen Situation zurückbekommen hat.

»Und jetzt kommst du ins Spiel«, sagt Liam und lächelt mich bittend an.

Ich höre auf zu grübeln und sehe zu ihm. »Ich?«

»Ja. Ich weiß, es ist nicht leicht, aber ich bitte dich mir zu helfen, noch mehr Erinnerungen zurückzubekommen. Vielleicht klappt das noch mal. Wir müssen nur an einen Ort mit Erinnerungen gehen und versuchen es nachzuspielen. Bitte. Ich weiß, es hört sich dumm an. Aber was ist, wenn es funktioniert?«

Ja, was dann?

Liam schaut mich flehend an und ich schaffe es nicht diesem Blick standzuhalten. Ich soll mit ihm unsere Erinnerungen nachspielen? Das mit Felix war Zufall. Niemand hat es kommen sehen. Das wird sicher nicht funktionieren, wenn man es erzwingt.

»Liam, ich weiß nicht. Ich glaube, du steigerst dich da in etwas hinein.«

Liams Lächeln verblasst. »Und wenn schon, ich muss es versuchen! Nina, du bist meine letzte Hoffnung.« Er klingt so verzweifelt.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich kann nicht seine Hoffnungen zerstören, doch will ich das wirklich durchziehen und damit auch meine Erinnerungen von neuem aufwühlen? Ich kann doch nicht einfach Augenblicke nachspielen. Etwas zu erzählen, war schon schwer genug. Und wenn es nicht funktioniert, muss ich ihn scheitern sehen. Ich seufze. Ich habe noch mehr Angst davor, dass es funktioniert. Was tue ich denn dann?

Bevor ich etwas erwidern kann, spricht Liam weiter: »Nina, die … die Erinnerungen. Es sind auch welche von uns. Ich erinnere mich, wie ich dir gesagt habe, dass du wunderschön bist. Und ich bin auch gekommen, um dir erneut zu sagen, wie wunderschön du bist.«

Für einen Augenblick bin ich sprachlos und starre ihn an. Ein Bild von uns beiden im Park blitzt auf. Kurz danach hat er mir zum ersten Mal gesagt, dass er mich liebt. Es treibt mir Tränen in die Augen und ich schaue weg. Dann spüre ich eine unbändige Wut in mir aufsteigen, die aus mir herausplatzt: »Ich … Glaubst du wirklich, dass eine Erinnerung unsere ganze Beziehung ersetzt? So einfach ist das nicht! Und ich habe einen Freund, Liam! Du kannst nicht einfach herkommen und mir sagen, dass ich wunderschön bin. Das geht nicht!«

Liam sieht mich mit großen Augen an. 

Wahrscheinlich verletze ich ihn mit meinen Worten. Doch wie kann er es wagen nach allem, was passiert ist, so etwas einfach so zu sagen? Seine Bitte ist das eine, doch hierherkommen und mir Komplimente machen etwas ganz anderes.

»Nina, ich woll...«, setzt er an, doch ich habe keine Lust ihm zuzuhören.

»Liam, ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Aber so geht das nicht. Du kannst so etwas nicht einfach so raushauen«, sage ich seufzend und lehne mich zurück, als mich plötzlich Erschöpfung überrollt.

Liam sieht mich entschuldigend an. Ich sehe den Schmerz in seinen Augen. Er hat sich das hier eindeutig anders vorgestellt. 

»Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Überlege dir, ob du mir hilfst. Bitte. Ich wollte dir nur sagen, dass ich um meine Erinnerungen kämpfen werde. Und dann kämpfe ich um dich.«