58 – Der Blick des Todes
Auch wenn der Tag ganz schön war, hat er nicht den Erfolg gebracht, den vor allem Liam sich gewünscht hat. Es kam keine einzige Erinnerung zurück.
Als wir uns verabschiedeten, habe ich Liams Bedrücktheit bemerkt, auch wenn er versucht hat sie zu verstecken, um mir kein schlechtes Gewissen zu machen. Er hat viel in diesen Tag gesetzt und auch etwas gewonnen, allerdings nur den Trostpreis.
Am Abend rufe ich erneut bei Nolan an. Es ist ziemlich spät und ich weiß, dass er abends lange arbeiten muss, aber ich wollte unbedingt seine Stimme hören. Obwohl ich mich frage, ob ich ihm zeigen möchte, dass ich immer noch an ihn denke oder ob ich mir beweisen möchte, dass Nolan meine Nummer Eins ist, wie es in einer Beziehung sein sollte.
Dieses Mal nimmt er ab. Vor Überraschung bin ich eine Sekunde still, bevor ich ihn hastig begrüße.
»Hey«, sagt Nolan und es herrscht erneut Sekunden Stille. Er entschuldigt sich nicht, weil er mich morgens weggedrückt hat und ich entschuldige mich nicht, Liam geholfen zu haben.
Ich räuspere mich. »Wie geht's dir? Wie war dein Tag?« Ich fühle mich unwohl mit diesem Smalltalk.
»Wahrscheinlich nicht so toll wie deiner«, sagt er mit diesem säuerlichen Unterton in der Stimme, den ich nur bei ihm kenne, wenn wir über Liam sprechen. Es ist merkwürdig, wie er sich verändert hat, seit Liam aufgewacht ist. Wenn er Angst hat mich zu verlieren, sollte er dann nicht versuchen für mich da zu sein, anstatt ständig sauer auf mich zu sein?
»Ja, ich habe den Tag mit Liam verbracht. Aber nur um ihm zu helfen, aber das willst du offensichtlich nicht verstehen. Morgen habe ich allerdings den ganzen Tag Zeit für dich«, sage ich und versuche den genervten Unterton aus meiner Stimme zu verbannen. Ich setze mich auf mein Bett und streiche mit den Fingern über ein Kissen, während ich auf seine Antwort warte.
»Ich weiß nicht, ob ... Ja, ich kann. Ich bin morgen um zwei bei dir, okay?« Ich höre das Lächeln in seiner Stimme und frage mich, ob das jetzt echt oder erzwungen ist.
»Okay, bis dann«, sage ich und lege auf, nachdem er sich auch verabschiedet hat. Erst als ich auf den roten Hörer tippe, wird mir klar, dass wir uns gar nicht »Ich liebe dich«, gesagt haben, wie wir es sonst immer als Verabschiedung tun.
Es ist halb drei, als es an der Tür klingelt. Nolan weiß, dass ich Unpünktlichkeit hasse. Ich gehe zur Tür und versuche meine genervte Miene verschwinden zu lassen, doch ganz klappt das nicht.
Ich öffne die Tür und Nolan steht vor mir. Er hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und hat nicht mal ein Lächeln für mich übrig.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Hey«, begrüße ich ihn.
»Hi«, sagt Nolan, drückt mir einen kurzen Kuss auf die Lippen und geht direkt in die Wohnung.
Verblüfft bleibe ich an der Tür stehen und sehe Nolan hinterher, der ins Wohnzimmer verschwindet. Ich schließe die Tür und gehe mit verschränkten Armen hinterher. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachte ich die Szene. Nick und Nolan sitzen auf dem Sofa und Nick zeigt ihm ein neues Spiel, das er sich gestern geholt hat.
Wieso lässt Nolan mich links liegen? Er ist wegen mir hier, und da im Moment sowieso alles nicht so prickelnd läuft, ist das eine komische Weise, die Stimmung zu verbessern.
Ich betrete das Wohnzimmer und stelle mich vor die beiden. Ich fühle mich, als würde ich Nolan gleich eine Szene machen. Früher fand ich sowas in Filmen immer peinlich, doch gerade bin ich wirklich wütend auf ihn.
Ich räuspere mich übertrieben. Nick schaut auf und runzelt überrascht die Stirn, als er meinen Blick sieht. Ich bin wirklich angepisst und diesen Blick hat er mal den Blick des Todes genannt.
Nolan hingegen schaut mich nur genervt an, als hätte ich ihn bei etwas Wichtigem gestört.
»Ähm sorry, aber was tust du da?«, frage ich Nolan bissig und Nick sieht überfordert von Nolan zu mir und wieder zurück.
»Ich rede mit meinem besten Freund. Wonach sieht es für dich aus?«, sagt er und verzieht keine Miene.
Mein Gesichtsausdruck verdüstert sich. Er hat überhaupt kein Recht angepisst zu sein. Außerdem: Seit wann ist Nolan jemals angepisst? Er war immer ruhig, verständnisvoll und gelassen.
»Das sehe ich. Ich frage mich bloß, wieso?«
Nolan steht auf und jetzt muss ich zu ihm hinaufschauen. Er will, dass ich mich klein fühle, doch das wird er nicht schaffen.
»Wenigstens verbringe ich nicht einen ganzen Tag mit meiner Ex«, sagt er und wirft mir einen giftigen Blick zu.
Wut lodert in mir auf. »Ist das dein scheiß Ernst? Willst du es mir jetzt heimzahlen, oder was? Das ist eine komplett andere Situation. Das kannst du gar nicht vergleichen!« Ich kann nicht glauben, dass er immer wieder davon anfangen muss. Er bringt mich echt zum Ausrasten.
»Ich glaube, ich sollte gehen«, sagt Nick zögerlich und verschwindet auf Zehenspitzen aus dem Wohnzimmer. Ich bilde mir ein, ihn im Flur erleichtert ausatmen zu hören.
Nolan sieht finster auf mich herab. »Ach ja? Also darfst du angepisst sein, wenn ich Zeit mit Nick verbringe, aber ich darf keine Gefühle zeigen, wenn du einen ganzen Tag lang mit Liam unterwegs bist?«
Ich schüttle den Kopf und will eine pampige Antwort geben, obwohl ich zugeben muss, dass er vielleicht ein kleines bisschen Recht hat. Da klingelt mein Handy.
Genervt hole ich es heraus und will schon wegdrücken, als ich Liams Namen lese. Meine Miene entspannt sich etwas und Neugierde breitet sich in mir aus, denn Liam würde sich nur bei etwas Wichtigem melden. Mit einem letzten bösen Blick zu Nolan nehme ich das Telefonat an.
»Nina!«, ruft Liam aufgeregt.
»Hey, was ist los?«, frage ich und drehe mich von Nolan weg, der fassungslos die Arme in die Luft wirft.
»Es hat funktioniert! Es sind noch ein paar Erinnerungen zurück.« Er klingt aufgedreht und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, er liefe in seinem Zimmer auf und ab.
»Was? Wirklich?«, frage ich erstaunt, da ich nicht erwartet habe, dass unser Versuch noch Früchte tragen würde. Ich verlasse das Wohnzimmer und gehe in den Flur, damit ich nicht Nolans stechenden Blick in meinem Rücken spüren muss.
»Ja! Sie sind in meinen Träumen aufgetaucht, aber es sind halt keine Träume, sondern Erinnerungen. Es sind nur Fetzen, doch einige stammen ganz sicher aus Situationen von gestern«, erzählt er.
»Das ist großartig!«, rufe ich erfreut aus und ein Lächeln huscht über meine Lippen, obwohl ich vor wenigen Minuten noch den Blick des Todes aufgesetzt hatte.
»Es ist noch eine andere Erinnerung zurückgekommen.« Seine Stimme ist ruhiger.
»Was für eine?«, frage ich neugierig.
»Die Erinnerung an unseren ersten Kuss.«
Ich bin so überrascht, dass ich nichts erwidern kann. Natürlich gibt es diese Erinnerung, aber ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht, dass er diese Erinnerung zurückbekommen könnte. Sie ist etwas ganz Besonderes. Und es fühlt sich merkwürdig an, dass er sich auf einmal wieder daran erinnern kann.
Alles wird gerade auf den Kopf gestellt. Nolan und ich haben mega Zoff und ich weiß nicht, ob wir das wieder hinkriegen. Immer wieder streiten wir uns wegen Liam und ich habe das satt. Wir haben beide so unterschiedliche Meinungen und es scheint, als könnte keiner die des anderen akzeptieren. Und jetzt erinnert Liam sich wieder an unseren ersten Kuss. Es ist so eine persönliche Erinnerung, dass ich das Gefühl habe, als würde Liam wieder ein Stück zu mir zurückkommen.
»Ich ... ähm … «, stottere ich, doch ich weiß nicht, was ich überhaupt sagen wollte.
»Alles gut. Ich wollte nur, dass du das weißt. Und diese Gefühle, die ich mit dieser Erinnerung verbinde, sind so stark. Und du bedeutest mir immer mehr.« Kurz ist es still. »Das wollte ich dir nur sagen.« Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, dann legt er auf.
Ich nehme mein Handy von meinem Ohr und schaue auf das Bild von Liam, das noch kurz erscheint. Dann wird der Bildschirm schwarz. Ich lehne meinen Kopf an die Wand, atme tief durch. Er erinnert sich. Ob irgendwann alles zurückkommen wird? Ob es wieder wie früher werden kann? Nein, dafür ist zu viel passiert, aber vielleicht kann es trotzdem gut werden.
Ich denke an Nolan, der im Wohnzimmer auf mich wartet. Seufzend stoße ich mich von der Wand ab, verschränke die Arme und gehe mit erhobenem Kopf zurück ins Wohnzimmer. Zu meiner Überraschung steht Nolan nicht mehr mit seinem angriffslustigen Blick im Raum, sondern sitzt auf dem Sofa.
Er stützt sein Kinn auf seine Hände und sieht geradeaus. Als er mich hört, hebt er den Kopf. Wir schauen uns einige Sekunden lang stumm an. Dann schüttelt Nolan den Kopf und steht auf. Er kommt mit hängenden Schultern auf mich zu.
»Weißt du, man sagt, wenn man zwei Personen zur gleichen Zeit liebt, soll man die zweite wählen. Denn wenn man die erste richtig lieben würde, hätte man sich nicht in die zweite verliebt.
Doch weißt du was? Ich bin nicht deine zweite Liebe. Es gab immer nur Liam. Ich stand nie zur Auswahl. Ich versuche dir keinen Vorwurf zu machen, aber ich kann so nicht länger mit dir zusammen sein.« Seine Stimme ist ruhig und gefasst, aber hat einen endgültigen Ton. Er schaut mich ein paar Sekunden lang an. Sein Gesichtsausdruck ist leer.
Ich presse die Lippen aufeinander und sehe beschämt auf den Boden, während ich einfach nicke. Es tut mir leid, dass es so gelaufen ist, doch die letzten Wochen haben mir gezeigt, dass das mit uns nichts wird. Deshalb versuche ich nicht mal, um ihn zu kämpfen, sondern akzeptiere es einfach.
Als er das Zimmer verlässt, traue ich mich nicht in seine Augen zu sehen. Ich fühle mich, als hätte ich Nolan betrogen und es fühlt sich scheiße an.