ist lang, mehr als zwei Stunden. Weingegend, entlang des Highways nördlich von Santa Rosa überall neue Weingüter. Provinzkäffer, die sich in schicke Städtchen verwandeln. Noch nicht abgeschlossen, man sieht noch ein paar alte Schuppen und Schrottkarren zwischen den Villen und Porsches, aber alles, was Jim kannte, verschwindet, die Birnenplantagen und Apfelwiesen, die alten Pick-ups mit Waffenhalterung und die Bowlingcenters und Diners.
Nur Cloverdale eine Bastion. Die gleichen Scheißläden und schäbigen Häuser, die den Highway hier unterbrechen, der gesamte Verkehr gezwungen, durch den Ort zu kriechen. Das beruhigende Gefühl, dass nichts passiert, sinnlose Lebensläufe, in unverändertem Trott und so vorhersehbar wie je, das Sägewerk und die Industriebedarfsläden noch da und kein Zeichen von Fortschritt.
Sie halten bei Fosters Freeze, wie sie es immer getan haben. Hier übergab ihm Elizabeth jedes Wochenende die Kinder, als er noch in Lakeport lebte. Halbe Strecke. Millionen Male hat er hier schon den Chocolate Chip Shake getrunken, nur Kuvertüre mit Vanilleeis und ein bisschen Milch gemixt, unten im Becher immer dicke Schokoladenklumpen übrig. Und Corn Dogs, jeder zwei.
»Ihr Lohn war unermesslich«, sagt Jim. »Speisen aus aller Herren Länder, Gewürze von fern her.«
»Ja, genau das denke ich auch beim Anblick eines Corn Dog.«
»Wir haben die gleichen Gedanken zurzeit, Bruder. Wir waren uns noch nie so nah.«
»Ja. Wie geht es deiner Schulter nach dem Zusammenprall mit der Scheibe?«
»Die Delle werde ich für eine Weile haben.«
»Ich kann mir die dumme Scheiße nicht mal vorstellen, die dir in den Sinn kommt. Gegen das Fenster laufen. Was zum Teufel war das?«
»Ich wollte fliegen.«
»Das wird aber nicht funktionieren.«
»Gut zu wissen.«
»Wir sollten hier nicht essen. Mom macht Wild zum Mittagessen.«
»Ich wollte diesen Ort ein letztes Mal sehen. Wo ich meine Kinder jedes Wochenende abgeholt habe, ein Zeichen dafür, wie mein Leben verlief.«
»Es ist nicht vorbei. Es ist immer noch da.«
»Ich habe das Gefühl, dass ich schon jetzt darauf zurückblicke. Vielleicht ist so das Leben nach dem Tod, reine Nostalgie, weder gut noch schlecht. Weder Himmel noch Hölle, nur ein Abglanz von dem, was war.«
»Genug davon.«
»Bist du nicht neugierig?«
»Nein.«
Jim untersucht seinen Corn Dog, die Schichten gepressten Fleisches. Man könnte ihn häuten wie eine Zwiebel oder er könnte kalben wie ein Gletscher. Und irgendwie hat sich die Wurst in ihrer Fassung gelockert, es ist eine Lücke entstanden und die glänzenden, glatten Wände des Maisteigs liegen frei, unterirdisch. »Guck mal, was der Mais mit dem Licht macht«, sagt er. »Höhlenabenteuer. Wir könnten Eintritt nehmen.«
»Scheiße«, sagt Gary.
»Was?«
Aber Gary schüttelt nur den Kopf und starrt auf den Parkplatz raus.
Jeder Abschnitt war unerträglich. Die Ehe und die Scheidung, mit einer Familie leben und von den Kindern getrennt, arbeiten und nicht arbeiten, seine Eltern und sein Bruder in der Nähe oder weit weg. Jede Entscheidung auf ein paar verfügbare Alternativen beschränkt. Wann konnte er sich je frei entscheiden?
Sein Shake ist fast leer und sein Bauch viel zu voll, das widerwärtige Gefühl einer Überdosis Zucker. Am Grund wie versprochen die Schokoklumpen, ihre eigenartig rauen Formen, wie die Krusten, die sich bilden, wenn Lava erkaltet. Gezackte Kanten, zertrümmert vom Quirl. »Ich schaue wirklich schon zurück. Ich weiß, dass ich diesen Shake nie wieder sehen werde. Letztes Mal. Es ist kein Was-wäre-wenn. Ich bin schon weg.«
»Versuch dich einfach für einen kurzen Elternbesuch zusammenzureißen. Zwei Nächte in Lakeport und dann fahren wir zum nächsten Termin beim Therapeuten.«
»Du hast keine Ahnung, wie lang zwei Nächte sind.«
»Ja, weil ich nachts nicht wach bin. Niemand außer dir.«
»Das stimmt. Eine Nacht ohne Versunkensein. Eine Nacht außerhalb deines Lebens. Das kennst du nicht.«
»Du auch nicht. Niemand kennt das.«
»Die Rätsel der Verzweiflung. Ganze neue Territorien, die sich vor dir auftun, so wie die Höhle in diesem Corn Dog. Vielleicht lernst du sie eines Tages auch noch kennen.«
»Nein.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil ich auch weiß, dass die Dinge nicht nach oben fallen. Und dass der Boden aus Erde besteht.«
»Ich beneide dich.«
»Nein, tust du nicht. Du hast immer auf mich herabgesehen. Kein Einser-Schüler wie du.«
»Ich meine es ernst. Ich bin auf jede erdenkliche Weise neidisch.«
»Komm, fahren wir weiter«, sagt Gary, dann erheben sie sich, werfen ihren Abfall in den Müll und steigen ein. Als sie auf die Straße biegen, denkt Jim immer noch an den Mülleimer, völlig verschmiert von Eis und Schokolade, alle bestellen das Gleiche, was er bestellt hat, das Eis festgetrocknet und gelb von der Sonne.
Sie sind schnell aus der Stadt, vorbei am Sägewerk mit seinen Haufen von Zellstoff und abgewinkelten Förderbändern, am Fuß der Hügel, so grün zu dieser Zeit des Jahres, die Zuckerkiefern umgeben von frischem Gras, selbst die Eichen treiben neue Blätter aus, der Frühling da, obwohl es erst März ist. In Fairbanks tiefster Winter.
Alte Eisenbahnschienen, nur noch selten genutzt, der Highway, der längs des Flusses verläuft, und Jim reckt den Kopf, um das Wasser sehen zu können, aber die Schlucht ist an den meisten Stellen ziemlich tief, er erhascht immer nur kurze Blicke.
Lover’s Leap, Selbstmordklippe für unglücklich Verliebte, eine von vielen in Kalifornien, ein Brauch unter früheren Natives, sich von einer Klippe zu stürzen, wenn die Liebe scheiterte.
»Die haben das schon richtig gemacht«, sagt Jim.
»Was?«
»Von der Klippe zu springen. Eine echte Aussage darüber, wie sich das Ganze anfühlt.«
»Das ist nur eine Legende. Wahrscheinlich ist dort nie jemand gesprungen.«
»Hunderte, wette ich, genau dort. Hoch über dem Wasser, ausgestellter Fels, wirklich wunderschön. Man würde es genau hier tun wollen.«
»Jetzt kannst du also in die Vergangenheit blicken.«
»Ja. Unser Cherokee-Blut. Ermöglicht mir Visionen der Vorfahren. Und überleg nur mal, wie weit sie zurückreichen. Vielleicht zehntausend Jahre.«
»Bitte lass diese Scheiße bei Mom und Dad. Sie machen sich Sorgen. Sie könnten glauben, dass du tatsächlich Visionen hast. Aus irgendeinem Grund haben sie immer alles geglaubt, was du sagst.«
»Echt?«
»Ja, und nichts, was ich sage. Ich hasse es.«
»Wow. War mir nicht klar.«
»Ja. Die Welt außerhalb deines Kopfes. Überraschung.«
»Es tut mir leid«, sagt Jim. »Es tut mir wirklich leid, dass ich so vieles nicht wahrnehme. Aber natürlich kann niemand etwas dagegen tun, gegen die fehlende Wahrnehmung. Man nimmt sie ja nicht wahr.«
»Ist schon in Ordnung, mir macht das nichts aus. Ich will nur, dass du jetzt wieder gesund wirst.«
»Danke.«
Sie nehmen die Abfahrt nach Hopland, kurz vor der Brücke. Schmale Straße und auf den Wellen im Asphalt das Gefühl, abzuheben. Kleine Weinberge und dann ein Dorf mit vielleicht fünfzig Einwohnern, in dem schon immer eine Radarfalle stand. Selbst wenn man mit dreißig durch den Ort schleicht, ist man nach einer Minute schon wieder draußen.
»Kleinstädte«, sagt Jim. »Keiner von uns hat es je in einer Großstadt versucht. Ich frage mich, wie das wohl gewesen wäre.«
»Schrecklich. Zu viele Leute. Man findet nicht mal einen Parkplatz.«
»Aber überleg mal, was es aus uns gemacht hat. Wir haben Nixon unterstützt. Ohne nachzudenken, einfach weil es alle gemacht haben. Und du hast tatsächlich ›Aufstände‹ niedergeschlagen, wie du das nanntest, Indianer in der Schule verprügelt, bevor du wusstest, dass wir zu einem Teil Cherokee sind, und Dad hat damals nichts dazu gesagt.«
»Das hat nichts mit Stadt oder Land zu tun.«
»Doch, hat es. Wir besitzen Waffen, und wenn wir mal zusammen als Familie Urlaub gemacht haben, haben wir gejagt oder gefischt. Wir haben unsere gesamte Freizeit mit Töten verbracht. Menschen, die in Städten leben, tun das nicht.«
»Und wen kümmert das?«
»Es spielt alles eine Rolle. Es ist alles Teil meines Selbstmordes.«
»Es gibt diesen Selbstmord nicht.«
»Es wird ihn bald geben, und vorher will ich ihn noch verstehen. Wenn ich abdrücke, möchte ich wissen, warum.«
»Gottverdammte Scheiße.«
»Ja. Warum mich reden lassen. Und denken. Lieber erst mal Gas geben.«
Sie fahren jetzt in die Hügel hinauf, enge Kehren und Gary fährt zu schnell, beschleunigt so sehr, dass er vor jeder Kurve scharf bremsen muss, obwohl sie bergauf fahren. Heiseres Geräusch des Motors.
»Tritt durch«, sagt Jim. »So fest du kannst. Mal sehen, ob wir es schaffen, in einer dieser Kurven abzufliegen. Ist leichter für die Eltern so, obwohl sie dann zwei Söhne statt einem verlieren. Selbstmord bringt zu viel Schande.«
Gary ist wieder verstummt, umgreift fest das Steuer und geht nicht vom Gas. Einige Hänge fallen ziemlich steil ab und gehen auf Felsen hinab und würden den Zweck erfüllen. Bei anderen würden sie einfach nur in den Bäumen hängenbleiben.
»Ich glaube, unsere beste Chance ist ein Frontalcrash«, sagt Jim. »Jemand, der uns schnell von oben entgegenkommt. Sonst scheinen mir die Chancen ziemlich gering.«
Es fühlt sich an, als würden sie über etwas Größeres übersetzen, nicht einfach über den Berg nach Lakeport. Gary als Fährmann, der ihn über den Fluss in die Hölle bringt, aber selbst das ist zu einfach. Gary will ja, dass es ihm gutgeht, und glaubt, diese Besuche und zurückgelegten Meilen könnten helfen, die Abgründe in Jims Gemüt äußerlich zu überbrücken. Aber für Jim ist es alles eher wie der Aufenthalt in einem Wartezimmer.
»Wir haben es nicht eilig«, sagt er zu Gary. »Wir kommen nirgends hin und entkommen auch nicht meiner Zukunft.«
Schmale Schluchten mit Wäldern, aber die breiteren, trockeneren Hänge sind von niedrigen Büschen bedeckt, die bei bewölktem Himmel bläulich aussehen. Die Straße wird zur Bergkuppe hin breiter und Gary beschleunigt noch mehr, bis sie oben sind und die andere Seite sehen und sich unter ihnen im Tal der Clearlake erstreckt, mit Bergen ringsum. Größter natürlicher See Kaliforniens.
»Anhalten für die Aussicht?«, fragt Jim, aber Gary ist konzentriert, muss jetzt bergab in den Haarnadelkurven scharf bremsen und tritt trotzdem noch voll aufs Gaspedal.
»Es ist schön, dass ich mich nicht umbringen muss«, sagt Jim. »Danke, dass du bereit bist, mit mir zusammen zu gehen. Es wird drüben auf der anderen Seite nicht schlecht sein. Ich versprech’s. Einfach nichts und noch mal nichts, was besser ist als das Minus, in dem wir uns jetzt befinden.«
Der See erweckt immer den Anschein, als läge er zu tief, als wären die Berge am hinteren Ufer höher und beugten sich aufs Wasser hinab, eine Art Knick, der alles nach unten presst, das ganze Tal unter Druck setzt. Aber die Aussicht hält nicht lange an, schon gar nicht bei dieser Geschwindigkeit. Sie fahren in wunderhübsche kleine Täler hinein, fast ausschließlich hellgrüne Nusskiefern hier, lichter Bestand, viel freie Fläche zwischen den Bäumen, idyllische Hügellandschaft. Man wünscht sich, man könnte mit einem Gewehr oder einer Schrotflinte in der Hand einfach nur stundenlang wandern, durch leichtestes Gelände. Der Boden verschorft mit kleinen Felsen aus schwarzem, bröckelndem Gestein und dem glatteren grauen. Rote und grüne Tupfer überall und hier und da einer der fürs Lake County typischen Kristalle oder eine Pfeilspitze, aber alles so gut begehbar, dass die Stiefel fast keine Spuren hinterlassen, man muss sich nicht durch Gestrüpp kämpfen. Kleine Bäche, die man überspringen kann. Graue Eichhörnchen, die davonhuschen, ihre Schwänze zu Bögen aufgestellt, und der raue Ruf der Eichelhäher. Jim könnte hier ewig wandern.
Dann die Ebene und Gary beschleunigt wieder, heizt über das wellige Gelände, der Pick-up gefühlt zu schwer, vorangeschleppt von einem asthmatischen Motor.
»Dein Auto wird es nicht schaffen«, sagt Jim. »Wir werden das letzte Stück gehen müssen.«
Aber Gary sagt natürlich nichts. »Buddha Gary«, sagt Jim. »Was für Welten in seinem Kopf.«
Eine lange Gerade vor dem Highway, ein paar weit auseinanderstehende Häuser, und Gary gibt Gas, der Zeiger geht auf über hundert Meilen pro Stunde. Jim spürt einen Kick, kurbelt sein Fenster runter, um die kalte Luft zu spüren. Hält seinen Arm raus und schlägt außen mit der Hand gegen die Tür, wie damals, wenn sie einen Bock sahen, johlt und schreit in Richtung der Berge und irgendwelcher in ihren gemütlichen Häusern verborgenen Menschen.
Aber Gary muss hinter der Kurve verlangsamen und an der Ampel am Highway anhalten, die Geschwindigkeit und der Kick so schnell weg, und dann überqueren sie ihn und kriechen durch die Stadt, neue Geschäfte an diesem Ende der Straße, aber danach alles wieder wie eh und je.
»So klein«, sagt Jim. »So verdammt klein. Eine Stadt mit tatsächlich genau einer Straße, die originellerweise Main Street genannt wurde. Und die Nebenstraßen sind nur für die Wohnhäuser da und führen ins Nichts.«
Durch das Zentrum und flüchtige Ausblicke auf den See, den Park, eine Linkskurve und weiter zum vertrautesten Teil der Stadt mit seiner früheren Zahnarztpraxis direkt gegenüber vom Safeway, wo er die ganze Schulzeit über gejobbt hat. Irgendwie ein Witz, ihn sein ganzes Leben lang auf einer Fläche von ein paar hundert Quadratmetern arbeiten zu lassen. Gefängnisse, die wir nicht einmal sehen. Plan Gottes, für jeden von uns eine eigene Knute. »Himmelsknuten«, sagt Jim. »Ich hatte eine Vision. Lass mich dir sagen, was Gott ist, kleiner Bruder.«
»Wir sind fast da«, sagt Gary. »Behalt sie für dich. Bei mir kannst du verrückt sein, aber tu das Mom und Dad nicht an.«
»Jawohl, Sir.«
Häuser entlang des Wassers und dann kommt ihr eigenes in Sichtweite, ein langes, schmales Grundstück mit Hecke und Vorgarten, das kleine kompakte weiße Haus mit dem Erkerfenster fürs Frühstück, wo sein Vater immer sitzt, auch jetzt, fettes Gesicht mit leerem Ausdruck und starrem Blick auf den See.
Sie biegen in die Einfahrt, an Stiefmütterchen und Petunien vorbei, die seine Mutter dort ständig pflanzt, und am Granatapfelbaum. Am Seiteneingang die roten Betonstufen nach oben. Ein Stück weiter die große zweistöckige Garage, hundert Geweihe darin, die an den Dachsparren hängen. Das Haus und die Garage Orte, die sich weigern, einfach nur für sich zu stehen, die zu viel Zeit und Erinnerungen speichern.
»Ich habe das Gefühl, dass mein Gehirn von all den Erinnerungen hier zerstört wird«, sagt Jim.
»Nichts davon jetzt«, sagt Gary. »Sag einfach nichts davon zu ihnen. Ich meine es ernst.«
»Was soll ich dann sagen?«
»Weiß ich nicht. Sag, dass es schön war, deine Kinder zu sehen. Erzähl, wie Fairbanks sich verändert hat. Spiel einfach Pinochle, lass dich auf unser übliches Geplänkel ein.«
»Klingt nach einem soliden Plan. Ein paar Minuten werde ich damit durchkommen.«
»Zeit ist nicht diese große Sache, durch die man kommen muss. Sie ist nichts. Leb einfach dein Leben.«
»Aber genau darum geht es. Genau darum.«
»Behalt es für dich. Im Ernst.«
»Okay, ja, du solltest Therapeut werden.«
»Nein danke.«
»Was für ein Verlust für die Welt der Therapie.«
Gary ist die Treppe hoch und hat die knarrende Fliegengittertür geöffnet. Niemand hier hat sich in den letzten vierzig Jahren die Mühe gemacht, sie zu ölen. Das Geräusch machte sie schon, als Jim noch klein war.
Der Beton unter ihm uneben, mit Rissen und die Stufen drohen abzubrechen. Überall Ameisen, auch im Winter. In seiner Erinnerung gibt es sie nur im Sommer.
Der kleine Eingang, wie eine Speisekammer neben der Küche, gelb gestrichen und nie genutzt, für nichts. Dann die grünen Bohnen in einem Topf auf dem Herd, wo sie seit Stunden oder Tagen kochen. Nur Bohnen und Wasser, kein Bemühen um Geschmack, durchweichter Brei, den man ohne zu kauen schlucken könnte. Reine Nahrung. Die gleichen Edelstahltöpfe aus seiner Kindheit, die gleiche Herdplatte, nichts hier ändert sich je. Dasselbe dunkelgrüne Linoleum, alles eine Überforderung. Lange, schmale Küche, in der am anderen Ende sein Vater am Erkerfenster sitzt und seine Mutter auf ihrer Position an der Spüle steht, ihre Hände ruhen auf einem Geschirrtuch.
»Hallo Mom«, sagt Jim, weil es still ist und alle zu warten scheinen.
»Nun ja«, sagt sie.
»Ja«, sagt er. »Das bringt es in etwa auf den Punkt.«
Ihre Lippen schmal, besorgt, und ihr Gesicht jetzt mit so vielen Falten. Seine eigene Mutter alt geworden. Er war also lang genug da. Es ist nicht zu früh. Neununddreißig war in früheren Zeiten alt.
»Wie geht es dir, Mama?«, fragt er, bemüht sich, und ihre Lippen öffnen sich ein wenig, ihr Kopf neigt sich in Sorge und Liebe zur Seite.
»Ach, uns geht es gut«, sagt sie. »Hab viel zu tun in der Kirche. Ostern.«
Er weiß nicht, was er darauf sagen soll. Was antwortet man auf nichts?
»Wow«, sagt er schließlich. »Ihr fangt früh an.«
Sie trägt ein Kleidungsstück mit blauem Blumenmuster, das sie seit Jahrzehnten hat. Man könnte es als Hemd bezeichnen, außer dass es dafür zu steif ist und zu lang und eine Art gerafften Kragen hat, fast wie zu Shakespeares Zeiten.
»Wie nennt man diese Art von Hemd?«, fragt er.
Sie fasst den Stoff zwischen ihren Brüsten mit einer Hand und sieht besorgt aus. »Einfach eine Bluse, würde ich sagen.«
»Du hast sie schon so lange.«
»Ja.«
»Ich glaube, mir platzt der Schädel davon, wie sehr hier alles unverändert ist. Ich könnte fünfzehn sein und es sähe alles genau gleich aus. Du siehst jetzt alt aus, und du bist dicker geworden, und du hast jetzt diesen schlaffen Hals, aber ansonsten könntest du genau dieselbe sein. Du hast die gleiche Frisur wie damals, ernsthaft die gleiche Frisur wie 1955.«
»Jim!« Sie sagt es in ihrem scharfen Ton der Zurechtweisung. Lehnt sich etwas zurück, als wolle sie ihn aus größerer Entfernung sehen.
»Entschuldige«, sagt Jim, und er fragt sich, warum Gary nichts gesagt hat, nicht versucht hat, ihn anzugreifen oder zum Schweigen zu bringen. Sein Vater sieht zu, fette Hängebacken und kahler Schädel, nur weiße Büschel an den Seiten, Sonnenflecken und rotbraune Haut. Seine Hände hängen herab, eine hinter der Rücklehne und die andere über die Tischkante, dicke Finger wie Kartoffelschnitze, die zu lange in der Vitrine lagen. »Und?«, fragt Jim. »Hast du was zu sagen, Dad?«
»So sprichst du hier nicht«, sagt sein Vater.
»Ja«, sagt Jim. »Okay. Und was soll das jetzt heißen?«
»Wir haben auf dem Weg in Cloverdale gehalten«, sagt Gary. »Haben da einen Corn Dog gegessen, aber wir sollten noch genug Hunger fürs Mittagessen haben. Ist schon eine Weile her.«
»Gut«, sagt seine Mutter. »Setzt euch doch schon mal an den Tisch und ich bringe das Essen.«
»Und Dad, du trägst auch immer das gleiche Teil.« Ein dünner grüner Pullover mit Reißverschluss, aber feinmaschig gestrickt, hergestellt für die Jagd, etwas Tarnmuster. »Da weiß ich auch nicht, wie man es nennt. Es ist kein Pullover, keine Jacke, keine Weste. Was ist die Bezeichnung dafür?«
»Das reicht«, sagt sein Vater.
»Bist du schon lange so dick? Wann ist das passiert? Ich erinnere mich nämlich, dass dieses Teil, was auch immer es ist, schon so spannte, als ich noch ein Kind war. Und ist es wirklich dasselbe, oder hast du einfach immer wieder das gleiche nachgekauft?«
Gary packt ihn am Arm. Ein weiterer Ringkampf scheint vonnöten, inmitten der zerkochten grünen Bohnen und des verborgenen Bestands von hundert verschlissenen grünen Jagdpullovern und hundert blauen Blumenblusen, unter denen begraben sie kämpfen, bis sie in dem Erdloch verschwinden, das sich genau hier auftut. Jim kann sich selbst durch die Ewigkeit fallen sehen, eingewickelt in die Kleidung seiner Eltern, eine Art Geburtsvision, sich sträubend mit Armen und Beinen.
Aber Gary macht nichts weiter. Hält einfach nur seinen Arm, und irgendwie hat das Jim gebremst, zumindest einen Moment lang, wegen der Vision.
»Tarnkleidung in der Küche«, sagt Jim. »Denn du würdest nicht wollen, dass dich hier irgendjemand sieht. Musst unsichtbar bleiben.«
Und sein Vater macht genau das, wie aufs Stichwort. Sagt kein Wort und ändert auch seinen Gesichtsausdruck nicht, der aus nichts besteht, stumpf wie der eines Rindes.
»Wiedergekäut«, sagt Jim. »Alles wiedergekäut. Dieses Haus, dieses Leben und diese Familie und all unsere Jahre. Ich würde auf dich schießen, nur um eine Reaktion zu bekommen.«
»Jim!«, sagt seine Mutter.
»Tut mir leid«, sagt er. »Du hast recht. Es ist alles in Ordnung. Es war wirklich in Ordnung. Leer, aber das ist schon okay. Ich weiß nicht, warum es aufgehört hat, okay zu sein.«
»Es ist nur der Schmerz in deinem Kopf«, sagt seine Mutter.
»Ja. Und mehr als das.«
»Nur der Schmerz in deinem Kopf«, sagt sie. »Du musst die Nebenhöhlen operieren lassen oder bessere Medikamente bekommen oder irgendwelche Tabletten für deine Stimmung, irgendetwas. Es ist nur ein chemisches Ungleichgewicht.«
Der ernste Gesichtsausdruck dabei, wie sie das alles glaubt und helfen will. Wird unsere Mutter nicht der letzte Mensch sein, an den wir denken, ganz am Ende, egal wie wir enden? Warum liegt es nicht in ihrer Macht, mehr zu tun? Warum kann die Familie nichts aufhalten oder etwas erreichen? »Ich wünschte, du könntest mehr tun«, sagt Jim. »Ich wünschte, du könntest helfen. Ich brauche Hilfe, wirklich. Ich finde den Weg zurück nicht mehr, ich weiß nicht, was passiert ist.«
»Wir sind hier, um dir zu helfen«, sagt Gary.
»Wie die Bäume.«
»Was?«
»Die Bäume wollen auch helfen. Sie geben ihr Bestes. Können nur nicht sprechen und haben keine Arme und können nirgendwo hingehen, weil sie keine Beine haben. Aber sie tun, was sie können.«
»Es ist nur der Schmerz«, sagt seine Mutter. »Können sie dir nicht etwas dagegen geben?«
»Ich nehme jetzt Tabletten gegen Depressionen oder was auch immer. Die Achterbahn. Wir versuchen jetzt, Ihre Schienen auf festem Boden neu zu verlegen. Eine Bahn, die immer nur im Kreis fährt, und man braucht keinen Sicherheitsbügel, weil sie keine Loopings oder Rollen oder Abfahrten macht.«
»Wie kann ein Arzt so reden?«
»Hat er nicht. Er hat nur gesagt, dass die Tabletten für die nächsten zwei Wochen alles schlimmer machen, und gute Reise, Pilger.«
»Das ergibt doch alles keinen Sinn.«
»Das stimmt.«
»Du warst doch immer so fröhlich, so glücklich.«
»Ich war nicht glücklich.«
»Warst du wohl.«
»Okay, ich war die ganze Zeit glücklich.«
»Hör auf damit.«
»Womit?«
»So zu sprechen.«
»Du meinst, dir zuzustimmen?«
»Das bist nicht du.«
»Das ist alles, was übrig ist, was auch immer es ist. Was sonst sollte ich sein?«
Sie blickt nach unten, wendet sich wieder zur Spüle, faltet ein kleines Geschirrhandtuch und streicht es dann glatt, immer und immer wieder, erst mit der einen Handfläche und dann mit der anderen. Auch ein geblümtes Muster, aber rosa, kleine erfundene Blumen, vollkommener als echte, aber verblichen von den vielen Waschgängen. Ihr Mund ein klein wenig geöffnet.
»Du siehst so besorgt aus«, sagt er.
»Nun, das bin ich auch.«
Ihr Atem langsam und schwer, der ganze Körper angespannt. Ihr Kinn eine Art lose eingeschraubter Glühbirne, aber selbst das sieht angespannt aus.
»Es tut mir leid«, sagt er. »Ich will nichts von alldem hier irgendeinem von euch absichtlich antun.«
»Wir sollten essen«, sagt sie. »Bevor das Reh kalt wird. Du kannst die Platte zum Tisch bringen.«
Also nimmt sich Jim die vergilbte Keramikplatte mit den Stapeln von paniertem und gebratenem Wild, dunkle bröselige Bruchstücke. Einfaches, gutes Essen, und er ist bereit, es zu versuchen. Einfach dasitzen und essen und über egal was plaudern und nichts denken.
Das Esszimmer ist klein und mit Teppichen ausgelegt, mit niedriger Decke und dunkel, ein Fenster mit Vorhängen geht auf den See hinaus. Das Buffet mit glänzenden Tellern und Besteck, ein Sims mit Fotos und Nippes vor dem Fenster, zu viel Zeug, das diesen Ort belastet. Kleiner Nachttisch mit einem dicken gelben Telefonbuch, dem alten grünen Telefon. Eine Stufe hinunter ins Wohnzimmer durch einen Torbogen. Kalifornische Architektur, klein, aber mit Torbögen zu den Sternen.
»Sieht gut aus, Mom«, sagt Gary und irgendwie sitzt Jim bereits am Tisch, mit einem Stück Wild vor sich auf dem Teller. Ein paar Augenblicke des Übergangs scheint er verpasst zu haben, unklar, wo die hin sind. Er will zustimmen, kann aber nichts sagen, nickt nur mit dem Kopf.
Die grünen Bohnen liegen nass und entkräftet neben dem Fleisch, daneben dick mit Käse überbackene Kartoffeln.
»Lieber Gott«, sagt seine Mutter, die Hände zum Gebet gefaltet. »Danke für die Speisen und dass du unsere Familie zusammengeführt hast, und bitte hilf meinem Jungen Jim. Führe ihn und spende ihm Trost und lass ihn deine Liebe spüren. Hilf uns allen, diese schwierige Zeit zu überstehen. Bitte, Gott, und danke. Amen.«
»Amen«, sagt Gary. Jim und sein Vater schweigen. Jim hat nicht einmal seine Hände gefaltet.
»Bist du gläubig, Dad?«, fragt Jim. »Warst du je gläubig?«
»Das fragt man nicht«, sagt seine Mutter.
»Ich will es wissen, Dad.«
»Lasst uns essen«, sagt sein Vater.
»Glaubst du an Gott. Hast du je an Gott geglaubt. Das ist meine Frage an dich.«
»Ich weiß, was deine Frage ist.«
»Und?«
»Nur weil du ein Problem hast, heißt das nicht, dass ich auch ein Problem habe.«
»Aber du hast mich gezeugt.«
»Vor langer Zeit.«
»Du hast mich gemacht. Und ich will wissen, was mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Woher habe ich dieses Gefühl, dass ich ein Stück Scheiße bin? Von dir oder von Mom?«
»Jim«, sagt seine Mutter. »Du warst dein Leben lang in der Kirche.«
»Das ist genau, was ich meine.«
»Aber du lässt es so klingen, als sei das was Schlechtes, als hätten wir dich verletzt.«
»Das sage ich, ja.«
»Du musst Verantwortung übernehmen«, sagt Gary. »Du hast eigene Entscheidungen getroffen. Deine Frau zu betrügen. Die Scheidung. Rhoda. Alleine zu leben. Deine Familie nicht zu sehen. Und selbst die, der Kirche fernzubleiben. Deine Entscheidung, wie ich es dir gestern gesagt habe. Ich gehe nicht in die Kirche, und ich fühle mich deswegen nicht schuldig.«
Sie schneiden alle immer noch ihr Wild in Stücke. Irgendwie findet das Essen trotzdem statt, die Messer und Gabeln funktionieren. Er kann die Butter schmecken. In Butter gebraten, alles, was sie essen, mit den immer gleichen Brotkrumen. Wels, weißer Crappie, Sonnenbarsch, Forelle, Wild. Nur die Vögel werden anders zubereitet, im Grunde nur in den Ofen geschoben.
Jim kaut und kaut, das Fleisch ist gummiartig und schmeckt stark nach Wild, Blut in der Butter, und schluckt schließlich. »Du hast recht«, sagt er. »Es ist meine Schuld. Ich vermute, das ist das Problem. Irgendwie tue ich mir selbst leid, weil ich mein Leben zerstört habe, und das ist sogar noch gefährlicher, das Selbstmitleid. Ich weiß nicht, wie es funktioniert und wie ich es überwinden kann. Ich will, dass es die Schuld von jemand anderem ist, weil ich dann wenigstens auf meiner Seite kämpfen würde und irgendwas erreichen könnte.«
»Wie kannst du so reden?«, fragt seine Mutter. »Das ist doch Unsinn.«
»Nein, kein Unsinn. Wenn ich nicht für mich kämpfen kann, gibt es keinen Ausweg. Und aus irgendeinem Grund bin ich schon lange nicht mehr in der Lage dazu.«
»Du musst einfach nur aufhören damit.«
»Das ist das, was Gary sagt.«
»Nun, er hat recht.«
»Halt mal eine Sekunde die Klappe. Ich denke nach. Ich glaube, ich bin an was dran.«
»Deiner Mutter zu sagen, sie soll die Klappe halten«, sagt sein Vater. »Du gehst jetzt.«
»Hör mal einen Moment auf, so kleinkariert zu sein. Halt einfach die Klappe und lass mich nachdenken.« Jim hat eine Erkenntnis, die er nicht richtig greifen kann, eine Wahrheit, wie er es schaffen könnte, für sich selbst zu kämpfen, es ist, als würde sie neben seinem gegenwärtigen Selbst schweben, nur eine Armlänge entfernt, so dass er sie fast berühren kann.
»Hau ab!«, schreit sein Vater, und das ist so selten, so unglaublich selten, dass er seine Stimme erhebt, dass er auf irgendwas reagiert oder sich für etwas interessiert, dass ihn alle einfach nur anstarren, alle.
»Da bist du ja, Dad«, sagt Jim. »Endlich bist du da. Willkommen in der Familie. Wir haben dich das letzte Mal vor ungefähr dreißig Jahren gesehen.«
Sein Vater steht auf und kommt um den Tisch herum, schneller, als Jim es für möglich gehalten hätte, flinker, und packt mit einer Faust Jims Kragen, seine Fingerknöchel an Jims Wirbeln, reißt ihn daran hoch. Er leistet keinen Widerstand, kommt auf die Beine und wird durch die Küche und die Gittertür abgeführt und die rissigen Betontreppen hinunter und die Faust schiebt ihn immer weiter, über die Einfahrt in Richtung der Straße. Es ist so heiß hier im Sommer, siedend, so viele Jahre von Erinnerungen an diesen Beton, jetzt kalt und feucht, und sein Vater hält genau da an, wo Jims Stiefel auf den Abschnitt mit dem Kies treffen. Sein Vater lässt ihn los und geht zurück zum Tor, schlägt es zu, ein Tor, breit genug für die ganze Einfahrt, nie benutzt, Jim hatte seine Existenz vergessen. Jetzt ist er aber auf der anderen Seite. Das Tor ist jetzt zwischen ihm und der Einfahrt, die Hecke zwischen ihm und dem Vorgarten. Ein kleines Niemandsland vor der Straße. Ihm war bis jetzt gar nicht bewusst gewesen, dass dieser kleine Wendeplatz nicht zum Haus gehörte. Immer wenn er als Kind hier spielte, war er auf fremdem Terrain, ohne es zu wissen. Er hätte dort verloren gehen können.
Sein Vater ist direkt zurück ins Haus gegangen, ohne innezuhalten, ohne etwas zu sagen. Alles nicht überraschend.
Also durchquert Jim das Niemandsland, dann geht er über die Straße, ohne nach links oder rechts zu sehen, achtlos, aber natürlich wird er nicht überfahren, und als er die andere Seite erreicht, will er weiter zum See, zu dem kleinen Strand und den Binsen, aber vor Kurzem wurde hier ein Drahtzaun gezogen von der Genossenschaft, aus Versicherungsgründen. Jemand könnte stürzen oder ertrinken und die Hausbesitzer verklagen, als ergebe irgendwas davon Sinn. Also klettert er über den Zaun, fühlt sich wie ein Sträfling am Tag der Flucht, kämpft oben an der Kante, weil die Kappen seiner Stiefel zu groß und rund sind, um in die Maschen zu passen. Und der Draht dünn und hart in seinen Händen. Aber er bekommt schließlich seine Beine hinüber und springt nach unten. Mit einer Hand bleibt er kurz hängen und stellt sich vor, wie ein Finger abreißt, vorerst bleibt er aber dran.
Betonbrocken vor dem Strand, und vielleicht war das ja die Sorge. Sein Sohn hat sich an ihnen eine lange Narbe am Schienbein zugezogen.
Viel Müll unten am Wasser, blaue und rote Getränkedosen und weißes Styropor, eine Art Flagge in den Binsen, der Gestank von grünem Schaum und Fäulnis, aufgedunsene tote Karpfen. Der See war an den Rändern immer faulig, das Wasser selbst aber klar. Jetzt ist es angedickt von riesigen Algenmatten, die es auch im Winter grünlich erscheinen lassen.
Er macht Kuhlen im groben Sand, dem bisschen, was hier ist, erinnert sich an einen Strand und ans Schwimmen, aber wie konnte er das je für einen Strand halten? Er hat hier Enten geschossen, als die noch da waren und geschossen werden durften. Er erinnert sich auch an das Spray gegen Moskitos, an das ganze über das Wasser verteilte Gift. Erinnert sich an Wellen, ganz selten, und Überschwemmungen der Straße und des Vorgartens bis zur zweiten Betonstufe am Haus. Erinnert sich, wie braun das Wasser dann war. Erinnert sich daran, genau hier Jane Williams geküsst zu haben, wie er in einer Sommernacht vor wie vielen Jahren wohl an exakt dieser Stelle versuchte, seine Hand unter ihren BH zu schieben, weil Fettklumpen alles sind.
Weiter draußen sieht das Wasser mit den Lichtreflexionen kalt aus, einer der tausend Grautöne, die Wasser und Himmel annehmen können. Der Tag heute ist anders als alle anderen, widerstandsfähiger. Er wird nicht von seinen Erinnerungen geformt werden. Und er hat keine Ahnung, was er tun soll. Hier herumstehen oder wieder nach drinnen gehen oder woandershin und verschwinden. Wie soll er sich für etwas entscheiden?
Alles, woran er denken kann, ist Rhoda. Sobald ein Augenblick nicht mit etwas anderem gefüllt ist, strömt sie ein, unaufhaltsam. Die Sehnsucht nach ihr. Sie ist irgendwo in Lakeport. Sie hat ihm absichtlich nicht gesagt, wo genau, aber er kann es herausfinden. Er weiß, wo ihre Schwestern und ihr Bruder leben, kennt jedes ihrer Häuser, kennt das Restaurant, das sie besitzen, die Firma für Swimmingpools, weiß, wo sie essen und trinken. In dieser Stadt kann sich niemand verstecken.
Also klettert er wieder über den Zaun, der Draht schneidet in die Kniekehle, als er oben ist, und er springt runter auf die sichere Seite. Den Schrecken und Gefahren des Ufers entkommen, die Hausbesitzer seufzen kollektiv vor Erleichterung. Er würde gern mit einem riesigen Buttermesser unter die Stadt fahren, direkt an der Wasserkante, und das ganze Ding in den See kippen.