, dass sie geht, aber sie tut es. Er steht nackt am Fenster und blickt ihr nach, die Pistole unbenutzt neben sich. Er war sich so sicher, dass sie zum Einsatz kommen würde.
Sie in die linke Brust schießen, während sie auf dem Bett kniet, so was in der Art. Und dann entweder den Lauf auf seinen Kopf richten oder schnell zum Pick-up gehen und nach Hause zu seiner Familie fahren, um sie mitzunehmen, und vielleicht nicht nur Gary und seine Eltern, sondern auch Elizabeth und die Kinder. Das war die Entscheidung, vor der er stand. Aber jetzt gibt es keinen Anfang. Er ist auf sich allein gestellt und wird sie nie wiedersehen. Ein Ende und kein Anfang.
Er hat sie noch nicht mal gefickt. Schlappschwanz-Jim, sein neuer Name in diesem Western. In die Stadt geritten, um nichts zu ändern und niemanden zu ficken und keinen Schuss abzugeben.
Er nimmt die Pistole in die Hand, spürt das kalte Gewicht, wirft sie aufs Bett, von dem sie hochspringt und wieder landet. Eine kleine Komödie, die hüpfende Pistole. Spielbereit.
Die Heizung ist nicht an und er ist nackt, also legt er sich unter die Decke, um sich aufzuwärmen. Die Möglichkeit, sie auf diesem Bett zu erschießen, besteht immer noch. Irgendetwas in ihm weigert sich zu akzeptieren, dass die Gelegenheit bereits verstrichen ist. Das gilt für seine gesamte Wahrnehmung. Sie hinkt hinterher, das deutlichste Zeichen dafür, dass er nicht glaubt, dass die Welt real ist. In seiner Wahrnehmung ist alles, was passiert, nur eine Version.
Er hat noch immer das Gefühl, dass die Welt, wenn er auf die richtige Art Nein sagen würde, einfach anhielte. Die Vögel würden am Himmel erstarren, das Wasser würde aufhören zu fallen. Eine Absage an die komplette Abwesenheit von Kontrolle über unsere Leben.
Er würde nackt nach draußen treten und wäre das Einzige, was sich bewegt. Er würde in die Luft steigen, wenn ihm danach wäre, Schritt um Schritt, oder auf dem See sitzen oder im Boden versinken. Er würde die Form von Bergen mit dem Finger verändern und nachts Sterne vom Himmel herunterstoßen, nur durch seinen Atem. Er würde sich weigern, nach Fairbanks und zu seinem kleinen, braunen, klappbaren Kartentisch zurückzugehen. Denn dorthin ist er jetzt auf dem Weg. Wenn Rhoda nicht erschossen wird und infolgedessen auch sonst niemand, dann geht er zurück nach Alaska und dort gibt es nur einen einzigen Platz zum Sitzen. Er hat es nicht geschafft, mehr Möbel zu besorgen, so erstaunlich, was daraus jetzt folgt.
Er muss lächeln bei dem Gedanken. Sein Leben, was für ein dummer Scherz.
So erschöpft. Wie rau sich die billigen Laken anfühlen, modriger Geruch des alten Motels, das Kissen zu hart, aber irgendwie schläft er ein, gnädig, wacht auf und draußen ist es dunkel. Die Desorientierung nach jedem Nachmittagsschlaf, Aufwachen in ein Ende hinein, das Gefühl, etwas verloren zu haben. Aber er ist jetzt ruhiger, nicht mehr so verzweifelt.
Er hat einen Ständer und muss pinkeln. Versucht, sich einen runterzuholen, kann aber an nichts Bestimmtes denken und hat keinen Porno dabei und gibt auf. Er fragt sich, ob er noch einmal Sex haben wird, bevor er stirbt. Höchstwahrscheinlich nicht. Aus dem Spiel genommen.
Er knipst die Deckenlampe an, die ein grelles Licht wirft. Pinkelt und fühlt sich noch so erschlagen von seinem Nickerchen, dass er sich hinlegt und einschläft. Wacht frierend auf, nicht zugedeckt, und will heiß duschen, aber das Wasser ist nicht heiß und hat kaum Druck. Er trocknet sich mit etwas ab, das ungefähr so weich wie Stacheldraht ist, und legt sich wieder hin.
»Zeit zu gehen«, sagt er, aber fühlt sich komatös und kann sich nicht zum Aufbruch motivieren, also schläft er wieder, und nun muss es wirklich mitten in der Nacht sein. Es gibt hier keine Uhr, also holt er seine Armbanduhr aus der Reisetasche und sieht, dass es fast ein Uhr ist. »Ganz toll«, sagt er. Jetzt wird er nicht mehr schlafen können. Er wird die ganze Nacht wach liegen, und was soll er dann tun?
Er ist am Verhungern, also zieht er sich Garys zu großes Hemd und seine Jeans an, wie ein Kind, das Erwachsener spielt. Auch Garys Stiefel zu groß. Er tritt nach draußen und vermisst eine Jacke. Kalt um diese Zeit. Niemand in der Nähe, keine Lichter an außer an der Rezeption, wo er seinen Zimmerschlüssel in den Schlitz wirft.
Der Pick-up startet nur zögerlich, zittert sich ins Leben, und Jim biegt auf die Straße, als Einziger unterwegs. Langsame Kurven am See entlang, das Wasser schwarz, ein tieferes Schwarz als der Himmel. Bereiche mit Binsen, die in den Scheinwerfern größer werden, nach oben gestreckt und dann zur Seite abfallend, ein mattes Grün. Ein Auto kommt ihm entgegen, so spät aus der Stadt hinaus, da muss etwas dahinterstecken. Niemand ist nachts an einem so kleinen Ort wach, ohne dass etwas dahintersteckt.
Kehliges Geräusch des Pick-ups bei niedriger Drehzahl, einfach nur die Straße entlanggleitend. Die Häuser am Wasser alle einstöckig und alt. Noch mehr Maschendrahtzäune, neu. Der Katalog eines Ortes, den er gut kennen müsste, aber er fügt sich zu nichts zusammen. Nur der See selbst könnte etwas sein.
Er fragt sich, ob das Diner wohl geöffnet hat. Donna oder Jim wären jetzt nicht da, in der Nachtschicht. Irgendwo muss es auch einen McDonald’s geben. Früher sind sie immer zum A & W gefahren, aber der hatte nicht rund um die Uhr geöffnet. Nichts hatte in der Nacht offen, nicht einmal eine Tankstelle. Wenn man nicht zur gleichen Zeit wie alle anderen schlief, hatte man halt Pech.
Die Dunkelheit beeindruckend. Der Mond geht momentan früh unter, keine Sterne, eine bedeckte schwarze Nacht und der See weigert sich, irgendetwas zu spiegeln, und absorbiert stattdessen das kümmerliche Licht der weit voneinander entfernten Straßenlaternen. Tote Zonen zwischen den Lampen, Orte, an denen man unsichtbar werden kann. Und so wenig Licht von den Häusern, nur hin und wieder die Beleuchtung einer Veranda, keine Geschäfte hier in der Gegend.
Er kurbelt das Fenster runter, um zu horchen, aber hört nur seine Reifen und einen anderen Ton vom Motor. Das Geräusch der Reifen klingt besonders einsam, und er fragt sich, warum das so ist. Wie kommt unser Verstand auf solche Dinge?
Wie wäre es, wenn er seinen Verstand in diesem Moment noch einmal auf den Anfang zurücksetzen könnte, wenn er einfach die Welt betreten und vergessen könnte, dass er irgendwelche Probleme hat? Ganz normal den Tag und die Nacht erleben? Warum ist das so schwer? Allen anderen scheint es zu gelingen.
Er spürt die Feuchtigkeit der Luft, die durch den See abgekühlt wird. Hält seinen Arm mit hohler Hand aus dem Fenster, um sie einzufangen. Fährt auf der falschen Straßenseite, um näher am Wasser zu sein. Schließt seine Augen auf gerader Strecke, um zu spüren, wie die Bewegung sich anfühlt, wenn man transportiert wird.
Aber er ist so hungrig, dass er eigentlich an gar nichts anderes denken kann. Er will einen Schokoshake. Und einen großen Burger mit Barbecue-Sauce und Speck. Unser letzter Trost, Essen. Wenn nichts anderes verfügbar ist. Und Rhoda weg.
Er fährt im Schneckentempo am Haus seiner Eltern vorbei. Alle Lichter aus. Alle schlafen tief und fest, so scheint es, ohne Sorge um Jim. Die Eiche im Vorgarten erscheint riesengroß und lässt das Haus winzig wirken. Die Hecke zu niedrig, Hindernis für nichts und niemanden.
Er fährt weiter, drosselt beim Safeway und der alten Praxis erneut das Tempo, sein anderer Lebensbereich. Ein paar herrenlose Autos auf dem Parkplatz, einige andere Lichter und das Auto eines privaten Sicherheitsdienstes, jemand, der wach bleibt, um auf Lebensmittel aufzupassen. Muss sich nichtsnutzig anfühlen, eine falsche Uniform und keine Waffe, und kein Mensch interessiert sich dafür, was man bewacht. An der Kasse hat er damals wenigstens etwas zu tun gehabt.
Jim versucht, bedrohlich zu wirken, lässt den Motor des Pick-ups im Stand laufen und starrt hinüber, aber aus zweihundert Metern zu starren ist natürlich sinnlos. Jim könnte genauso gut ein Tourist sein, der sich auf dem Weg nach Konocti oder Lucerne oder einer anderen faszinierenden Destination verirrt hat.
Also fährt er weiter, sein Magen knurrend, und überlegt, noch mal umzudrehen und dem Typen sein Sandwich zu klauen. Er hat keine Pistole, also könnte Jim ihn einfach niederschlagen und das Sandwich nehmen, und sogar den Hut und das Uniformhemd von dem Typen anziehen.
Nichts hat offen. Er wird sich aufs Verhungern einstellen müssen. Er fährt am Diner vorbei, das selbstvergessen daliegt. Auch A & W dunkel. Die Tankstellen geschlossen. Das gesamte Stadtzentrum nichts als Leere, nicht einmal eine Bar ist offen.
Doch als er in den neue Teil der Stadt kommt, in Richtung Highway, sieht er ein paar Lichter und Autos, Nachtwanderer, und tatsächlich leuchtet das große, gelbe M auf. Ekelhaft sogar im Vergleich zu Drecksläden wie A & W oder Fosters Freeze, und den riesigen Burger mit Speck, von dem er träumt, wird er hier nicht bekommen, aber wenigstens wird er nicht verhungern. In Alaska die unwahrscheinlichsten Burger, nur um der Idee des Ortes gerecht zu werden. So groß wie ein Teller. Keine Ahnung, wo sie solche Brötchen herbekommen. Und immer mit irgendeiner exotischen Fleischsorte: Karibu! Elch! Luchs! Luchs natürlich nicht so richtig wahrscheinlich, aber wer würde das je überprüfen?
Er parkt zwischen anderen Pick-ups und gesellt sich zu Männern mit Tattoos und Baseballkappen, Leute von hier, Lakeside ein mieser Ort heutzutage, doch in Wirklichkeit ist Jim derjenige, der hierhergehört, hier aufgewachsen ist. Sohn dieser Stadt, geboren an diesen Ufern.
»Wie geht’s«, sagt er zu der Bedienung, die seine Bestellung entgegennimmt. Ein Atavismus, um zu zeigen, wer er ist. Die Magnum hat er wieder unter seinem Hemd stecken. Er hätte gern einen Grund, sie zu benutzen, also wird er sich hier nicht still verhalten. Spricht mit lauter Stimme. Sollen es ruhig mitkriegen, die tätowierten Wichser.
Aber natürlich sehen sie ihn gar nicht. Er bestellt zwei Fischfilet-Burger, als würden sie die wirklich mit einzelnen Filets belegen und nicht mit pürierten Köderfischen, die in Quadrate gepresst und frittiert werden. Freut sich schon auf den kleinen Klecks Remoulade und das Käsequadrat, das obendrauf liegt, als hätte man es dort vergessen.
Er steht am Tresen und wartet. Nur drei Mitarbeiter, die alle Haarnetze tragen, als ob sie zu einer Gang gehörten, alle fett und weich und speckig, geformt vom Essen hier. Der leere Brötchengrill, um diese späte Stunde wird tatsächlich jeder Burger auf Bestellung eigens zubereitet. Er sollte Sonderwünsche anmelden, sich irgendwas ausdenken, wonach er fragen könnte, aber sein Kopf ist leer.
»Bestellung 51«, sagt die Frau, als sie ihm das Tablett reicht, als könne es zu Verwechslungen kommen.
»Lassen Sie mich mal kurz auf der Quittung nachsehen«, sagt er. »Nur um sicherzugehen, dass ich auch wirklich die 51 habe.« Er hält sie hoch ins Licht, studiert sie, sieht eine 51. Sie hält ihm währenddessen das Tablett hin. »Stimmt«, sagt er. »Ich sehe eine 51. Zwei Filet-O-Fish-Burger und einen Schokoshake. Ist das da drauf?«
»Ja, Sir«, sagt sie und scheint nicht einmal irritiert. Ihr Job ist so beschissen, dass das als eine normale Interaktion durchgeht. Ihr Mund steht leicht offen, um an zusätzlichen Sauerstoff zu kommen, den es braucht bei dem ganzen Fett. Glänzende Wangen.
»Könnte ich ein Glas Wasser dazu bekommen?«, fragt er und nimmt ihr endlich das Tablett ab. »Ja, Sir«, sagt sie und greift pflichtbewusst nach einem Pappbecher. »Eis?«
»Nein danke.«
Sie füllt den Becher aus der Zapfanlage mit einem perfekten dünnen Strahl, fachmännisch kontrolliertes Wasser, und reicht es ihm mit einem »Guten Appetit, Sir«. Alles perfekt ausgeführt, genau wie er selbst als Kassierer damals alles perfekt ausführte. Wie viele Jahre waren es? Vielleicht sieben? Allen einen schönen Tag wünschen, egal wie schlecht oder unfreundlich sie zu ihm waren. Abkassieren von Abertausenden Dosen Suppe und Bohnen und Milchtüten. Einen großen Teil seines Lebens brachte er so zu. Mehr Zeit als mit beinahe allem anderen, außer der Zahnmedizin. Die meisten Stunden wird der Schlaf in Anspruch genommen haben, damals, als er noch schlafen konnte, aber direkt danach die Stunden, in denen er neben einem Patienten stand, und danach die, in denen er neben Lebensmitteln stand. Krampfadern jetzt in beiden Waden.
Er sitzt an einem der vorderen Fenster, für alle Vorbeifahrenden ausgeleuchtet, und tröstet sich mit dem Schokoshake, der eher wie Schlick mit einem Hauch von Hershey’s schmeckt. Das Gefühl von drohenden Bauchschmerzen schon beim ersten Schluck, eine kotzeartige Vorahnung, dem Geschmack beigefügt.
Und das ist erst der Anfang der Nacht. Sie wird lang werden.