nicht kommen. Er muss mehrmals aufstehen, um zu pinkeln und zu trinken, er putzt sich hundert Mal die Nase, zwei Mal isst er eine Schüssel Cornflakes. Irgendwann fällt schließlich das Licht ein, weiß und dunkel von den Wolken, einfach Licht ohne Richtung. Schwer zu sagen, wann Sonnenaufgang ist, aber als der Wecker sechs Uhr fünfzehn anzeigt, muss er irgendwo hinter der Wolkenschicht stattfinden. Er nimmt noch mal Codein und isst noch eine Schüssel und legt sich wieder hin und weint bis halb acht, halb neun in Kalifornien. Er steht auf, noch immer in Garys Sachen von vorgestern, zu müde, um sich umzuziehen, oder weil er die Kleider seines Bruders tragen will, und setzt sich an den klappbaren Kartentisch, der einzig verfügbare Platz, und hebt den Telefonhörer ab.
Er wählt die Nummer der Auskunft, fragt nach einem Blumenladen in Lakeport, Kalifornien, bestellt ein Dutzend Rosen für Rhoda, für ihren Geburtstag in drei Tagen.
Er nimmt die Magnum und legt sie sich in den Schoß, hält sie einfach nur eine Weile, spürt, wie sich in ihm das Leben bewegt, öffnet dann die Trommel, nimmt die Kugeln einzeln aus dem Styropor und lädt sie in die Trommel, bis sie voll ist, und schwenkt sie wieder ein. Er legt den Revolver auf den Tisch neben das Telefon und spannt den Hahn, guckt, vergewissert sich, dass er entsichert ist. Stechabzug, eine leichte Berührung reicht. Er hält die Hände fern.
Er steht auf und sucht Papier und Stift, will einen Brief schreiben. Er kann es nicht ohne einen Abschiedsbrief tun, ohne irgendeine Erklärung.
Kein Papier in der Küche, aber er geht nach oben und kramt in den Kisten in einem der ungenutzten Zimmer. Lockpfeifen und seine Marine-Paradeuniform. Er hat noch das Schwert, zeremoniell, aber auch sehr real, mit seinem goldenen Portepee. Alles seltsam, aus dem Leben eines anderen. Er hat nie glauben können, dass er wirklich in der Marine war, nicht einmal während er dort war. Ihre Einheit ohnehin ein Witz. Angeführt vom Zahnarzt, der während eines Appells rückwärts marschierte, stolperte und in eine Sandgrube fiel. Niemand erwartete etwas anderes von einem Zahnarzt.
Das muss an einem der Tage auf Adak gewesen sein, an denen der Wind schwach genug war, um draußen zu sein. Meistens waren sie drinnen oder in Tunneln. Jagten mit der .300 Magnum, sobald das Wetter mal besser war. Schossen Seehunde und Seelöwen und versuchten die Körper dann mit einem Heilbutt-Gaff einzuholen. Er riskierte sein Leben auf den Felsen, so rutschig. Wellen und dicker grüner Tang. Das Wasser eiskalt und das Fell rau.
Elizabeth hat es einmal fast fortgeweht. Ging idiotischerweise raus bei einer Windstärke von über hundert Meilen pro Stunde. So leicht, hier umzukommen, aber es passierte nie. Ein Freund geriet mal unter einen Seelöwenbullen, wurde aber in den Schlamm gedrückt, nichts gebrochen. David mit Gelbsucht und 40 Grad Fieber, fast direkt nach der Geburt gestorben, doch er lebte. Nur die mit Herzinfarkten starben. Der Ort hat niemanden umgebracht, so gefährlich er war.
Er findet ein Schreibset, das er mal geschenkt bekam, und hat keine Ahnung mehr, wann und von wem. Findet einen großen weißen Schreibblock in einer Kiste mit Büchern, vor allem Western, und einigen alten Briefen, darunter einer, den er 1951 an seinen Onkel Frank schrieb, als er zehn war.
Lieber Onkel Frank: Ich habe den besten Ort der Welt gefunden, um Stinktiere zu fangen. Er liegt sehr hoch, und man muss durch ein Loch kriechen, um hinzukommen. Es gibt da viele Eicheln und es ist sehr dunkel. Ich habe dort zwei Zibetkatzen gefangen, und ist sehr gefährlich. Ich wette, du errätst nicht, wo es ist.
Ich hatte dieses Jahr viel Glück beim Fischen. Ich habe viele Welse gefangen, und es gibt viele Würmer. Ich habe den größten Zwergwels gefangen, den man je in Süßwasserseen gesehen hat, außer im Lake Michigan, Superior, Erie und Ontario. Wir haben zwei Welse Mr Lewis geschenkt. Der See liegt sehr hoch, aber geht tief runter.
Ich hoffe, du kannst diesen Sommer kommen. Es macht viel Spaß, mit unserer Barkasse zu fahren. Ich werde dir eine lustige Geschichte über einige eifrige Biber schicken. Ach und weißt du, was ein Stinktier ist? Ein Stinktier ist eine Katze mit Flüssigkeitsantrieb.
Ich habe vergessen, die Gefahr beim Fangen von Stinktieren zu erwähnen. Das Stinktier kann dich anspritzen.
Ich habe vergessen, dir zu sagen, wo ich die Stinktiere gefangen habe. Rate noch mal.
Alles Liebe, Dein Jimmy
Jim liest den Brief noch einmal, eine Möglichkeit, mit dieser Zeit in Berührung zu kommen, diesem anderen Geist, noch nicht gebrochen. Oder gab es sogar damals schon Anzeichen? Der dunkle Ort, die Bedrohung, die Faszination für den Flüssigkeitsantrieb? Sind wir jemals unschuldig? Er sollte auch die anderen Briefe lesen, alle, aber er fühlt sich zu erschöpft. Er nimmt nur den Notizblock und Stift mit und geht wieder nach unten.
Im Moment geht es nur ums Überleben, schreibt er auf, als wäre es etwas, das man sich merken sollte. Irgendwie hatte er sich vorgestellt, dass er eine Art Brief hervorbringen würde, aber er ahnt jetzt, dass das nicht passieren wird. Nichts so einfach, wie über das Jagen und Fischen zu berichten. Du hast mich gelinkt, schreibt er. Eine Nachricht für Rhoda. Was gehört sonst noch in einen Abschiedsbrief? Wer was bekommt, wie in einem Testament? Nach der Steuerbehörde wird nichts übrig sein.
Er schreibt den Namen seines Bruders auf und seine Telefonnummer, Elizabeths auch und die seines Vaters. Bitte meinen Körper in Fairbanks einäschern und die Asche auf der White Ranch verstreuen.
Er nimmt sein Scheckbuch und schreibt Schecks auf Gary aus, wobei er den größten Teil des Kontos leert.
Die Schecks sind für Gary Vann. Der Choker gehört Rhoda Vann. Er trägt den Choker schon seit einer Weile mit sich herum, eine zierliche goldene Halskette, ein Stück von ihr, zieht sie aus der Tasche und legt sie auf den Kartentisch.
Gary — ich möchte, dass Du die White Ranch bekommst und eine Hälfte davon für David und Tracy treuhänderisch verwaltest.
Gary, Du und alle Verwandten, Ihr habt alles getan, was Ihr tun konntet. Es ist nur so, dass ich etwas brauche, das Ihr mir nicht geben könnt.
Das Beängstigendste ist die Vorstellung, nie wieder lieben zu können und nicht in der Lage zu sein, eine Beziehung zu führen, die mir ein erfülltes Leben ermöglicht.
Er legt den Stift hin, stützt den Kopf in die Hände, wünscht sich, dass der Schmerz einfach aufhört. Aber es reicht nicht. Das begreift er jetzt. Nichts wird je dafür ausreichen, dass er es wirklich tut. Er wird nur Selbstmord spielen und dumme Abschiedsbriefe schreiben, die nichts bedeuten. Es wird nie so schlimm sein, dass es unausweichlich ist.
Er nimmt die Pistole und hält sich die Mündung an die Schläfe. So sollte es sein, aber begleitet von einer seelischen Krise und Erinnerungen und physischem Schmerz, etwas Unwiderstehlichem, das kein Mensch aushält. Und das wird nie passieren. Was ihm zur Verfügung steht, ist wesentlich mickriger als das.
Er legt die Pistole wieder hin, die Mündung sorgfältig zur Seite gerichtet, falls sich ein Schuss löst, der Hahn noch gespannt, und greift zum Hörer und wählt Rhodas Nummer.
Er wartet, bis die Verbindung hergestellt ist, eine Leitung, die sich hinunter in die Arztpraxis in Lakeport windet, wo sie jetzt arbeitet. So hätte er sie in Lakeport finden können. So dumm und einfach und irgendwie hat er nicht daran gedacht.
Jemand anders geht ran, also muss er nach Rhoda fragen, dann wieder warten. Es klingt, als hätten sie viel zu tun.
»Hallo Jim«, sagt sie schließlich.
»Ich liebe dich, aber ich kann nicht ohne dich leben«, sagt er, einen Satz, an den er sich jetzt wieder erinnert, im Voraus geplant, und er nimmt die Pistole in die Hand und setzt den Lauf an die Schläfe, dass es realer wird. Den Telefonhörer links, den Lauf rechts, wie eine Art Telefonist.
»Was?«, fragt sie. »Ich kann dich nicht richtig hören. Warte kurz.«
Er wartet, man hört Schlurfgeräusche, wie eine Tür schließt, und dann weniger Hintergrundgeräusche.
»Okay«, sagt sie. »Jetzt müsste ich dich besser hören können.«
»Ich liebe dich, aber ich werde nicht ohne dich leben«, sagt er und empfindet nichts von dem Drama, das er sich vorgestellt hatte, empfindet tatsächlich gar nichts, und er weiß, er wird es nicht tun, er wird nicht abdrücken, und dann tut er es.