Wie jeden Morgen hatte Antoine nicht nur ein Auge auf Rachel, er beobachtete ihr ganzes Auftreten: das Krinolinenkleid, den Sonnenschirm in ihrer rechten Hand, den Korb in der linken, das Lächeln auf ihrem Gesicht, das Lied auf ihren Lippen. Ihre blendende Schönheit. Es war ihr täglicher Auftritt, denn mit Beginn des Sommers erschien Rachel immer um dieselbe Zeit und auf dieselbe Weise; sie ging bedächtig vom Vorplatz der Markthalle bis zum Rathaus; dabei kam sie am Sitz der Gelehrtengesellschaft von Niort vorbei und grüßte die Gelehrten mit dem Sonnenschirm, wenn sich zufällig welche dort aufhielten; sie nahm die Rue des Tribunaux, ging langsam am Gerichtsgebäude entlang, bog dann nach links in die Rue du Tourniquet ein, folgte ihr bis zur Kirche Notre-Dame, ging um diese herum; durch die Rue de la Cure gelangte sie zur Kaserne der Gendarmerie in der Rue de la Motte du Pin und schließlich ans Eck zu der Straße, die nach Westen Richtung Ribray führte. Dann ging sie zum Fluss hinunter und kam, nachdem sie die Parkanlagen der Präfektur und des Schlosses entlanggegangen war, wieder in die Rue Brisson und bei der Markthalle an, wo sie gemächlich Metzger, Milchhändler und Kunden grüßte, bevor sie wieder in die Rue Civique einbog und dieser weiter bis zum Rathaus folgte, und so ging es weiter. Für diese Runde benötigte sie mit dem eleganten Schritt einer jungen Frau, die jedem, der ihr begegnete, ein Wort gönnte und dazu, falls nötig, auch die Straßenseite wechselte, eine gute Dreiviertelstunde, an Markttagen drehte sie ihre Runden von 9 Uhr früh bis mittags, wie Antoine feststellte, insgesamt zählte er sechs bis sieben Runden an jedem Vormittag. Manchmal, wenn die wohlhabenden Bürger am späten Nachmittag das Haus verließen, um frische Luft zu schöpfen, ging sie auch an der Sèvre entlang bis zum Stadtpark; die Wasserspiegelungen, die Rosensträucher und Glyzinien, die Osterglocken und der Flieder machten das zu einem schönen Spaziergang. Rachel verkaufte Blumen; schöne Sträuße aus frischen Sommerblumen, herrliche Trockensträuße im Winter.
Antoines Geschäft befand sich an der Ecke zur Place des Tribunaux, und er konnte Rachel nach Herzenslust bewundern, während er die Galoschen zusammenschusterte und die Löcher in die Damenstiefel bohrte. Antoine kannte die Arie Als Gott, Rachel, dich mir hilflos einst gegeben …« von Halévy nicht, sonst hätte er sie den ganzen Tag bei der Arbeit gesungen. Er wagte es nicht, sie anzusprechen, grüßte sie nur mit einem flüchtigen »Guten Morgen«, wenn sie an seinem Ladengeschäft vorüberging. Er gab sich damit zufrieden, sie zu beobachten. Er kannte sie in- und auswendig – ihren zartgliedrigen Wuchs, ihre üppige Brust, ihre schwarzen Stiefeletten, die wie eine Schatulle um ihre kostbaren Fesseln lagen und sie verbargen, ihre Augen wie gemalt in diesem perfekten Gesicht. Doch mehr noch als in ihre bewundernswerte Gestalt war der arme Antoine rasend verliebt in ihre Stimme. Sie hatte eine einzigartige Färbung, eine Festigkeit, einen herben, aber melodiösen Klang. Antoine hörte, wie sie bisweilen vor sich hin sang, wenn sie an seinem Fenster vorüberging; er hätte sich gewünscht, sie sänge für ihn, jeden Morgen, jeden Abend, was sie sagte, wäre ihm einerlei, denn mit dieser Stimme hätte sie alles sagen können: Antoine würde ihr wie verzaubert zuhören.
Natürlich machte sich Rachel keine Vorstellung davon, welche Leidenschaft sie in Antoine entzündete; sie sah, dass der Schuhmacher hübsch artig war, wenn sie über die Place des Tribunaux ging, aber ganz Niort war aufmerksam und artig zu Rachel – die Patrizier und die Händler, die Honoratioren, man kaufte ihre Blumensträuße, die nicht teuer waren, und anderes noch, fern der Öffentlichkeit, wie es hieß. Natürlich war Antoine blind und taub gegenüber dem, was er, wenn es zufällig jemand erwähnt hätte, als wüste eifersüchtige Gerüchte abgetan hätte; in Wahrheit wusste niemand etwas – Rachel trug ihre Schönheit durch die ganze Stadt spazieren; manchmal sah man sie in einem Phaeton oder einem von zwei Rassepferden gezogenen Cabriolet an der Seite eines eleganten Herrn sitzen, bestimmt fuhren sie zu einem Picknick am Fluss unter einer großen Platane nach La Rousille, eine unschuldige Landpartie mit schönen Kleidern und hübschen Hüten. Dass alle diese Bewerber in Wahrheit verheiratet waren, kümmerte Antoine nicht, denn er wusste es nicht. Er war nicht naiv, aber seine zärtliche und aufrichtige Verehrung für Rachel machte ihn vollkommen blind. Den ganzen Tag war er mit Sticheln, Nadeln und Scheren zugange; Sankt Krispin, der Schutzheilige der Schuhmacher, beschützte ihn, und sein Geschäft blühte. Leder war in Niort, der Stadt der Gerber, von guter Qualität und günstig. Aus Schweinsleder oder Rindsleder konnte man herrliche Stiefel mit schönen Absätzen aus hartem Holz machen. Ach, wenn er es nur gewagt hätte, dann hätte er Rachel in seinen Laden gebeten, hätte ihre zarten Füße vermessen und ihr ein herrliches Paar Stiefeletten genäht. Er wagte es nie. Mehr als einmal dachte er, wenn sie vorüberging: »Morgen. Morgen, ohne Wenn und Aber, fasse ich mir ein Herz …«, aber am folgenden Tag begnügte er sich damit, sie respektvoll zu grüßen wie am Vortag und alle Tage zuvor, während er darüber fluchte, dass der Sommer dahinschwand und ihn die nahenden regnerischen Herbsttage um das tägliche Lächeln von Rachel bringen würden.
Kurz bevor der Sommer zu Ende ging, betrat Rachel eines Tages Anfang September, als Niort nach Fischöl und Schlick roch, das Wasser an den Brücken Tiefstand hatte und man meinte, der Sumpf mit seinen Fliegen und Libellen reiche bis in die Stadt hinein, zum ersten Mal Antoines Geschäft. Er hatte alle erdenkliche Mühe, seine Verwirrung zu verbergen. Er hörte sie an (oder ließ sich vielmehr von ihrer einzigartigen, ein wenig kratzigen, wunden Stimme wiegen) und stammelte etwas Dummes zur Antwort. Er zitterte. Hastig riss er ihr die Schuhe aus der Hand, die sie ihm hinhielt. Dieses Modell? Ja, das ist das Modell. Lassen Sie mich an Ihrem linken Fuß Maß nehmen. Oft ist der linke Fuß größer als der rechte. Nein, lachen Sie nicht, unsere beiden Füße sind nie gleich, Schuhmacher können ein Lied davon singen. Antoine verzweifelte an sich selbst angesichts seines belanglosen Geredes. Er wäre gerne geistreich und charmant gewesen. Rachel war lieblich, sie duftete nach Veilchen und Zimt. Sie lächelte. Sie trug ein weißes Kleid mit rotem Saum, in dessen Ausschnitt man den Ansatz ihres Busens sehen konnte. Antoine musste sie gehen lassen. Am liebsten hätte er sie geheiratet. Sie wird wiederkommen wegen der Schuhe. Ich werde ihr die schönsten Stiefeletten der Welt machen. Antoine wollte sich sofort an die Arbeit machen. Für Rachel.
Er hörte zwei harte Schläge, so laut, als wären Bretter aus großer Höhe herabgefallen. Er stürmte nach draußen, ohne zu wissen, warum. Rachel lag auf den Stufen des Justizspalasts; der Wachsoldat kämpfte mit einer Frau, die einen Revolver schwang und mit aufgelösten Gesichtszügen herumbrüllte, den Mund weit aufgerissen und monströs. Antoine erkannte Gabrielle, die Frau des Gerichtsschreibers, ihren gemeinen und boshaften Gesichtsausdruck. Dem Wachsoldaten war es gelungen, ihr die Waffe zu entreißen, wie ein Stumpfsinniger starrte er ungläubig auf den Revolver in seiner Hand. Antoine stürzte herbei und hob Rachel in seine Arme; sie atmete schwach, ein entsetzlicher Hauch, als würde die Luft aus einem Ballon entweichen; eine feuchte Wärme tränkte seinen Bauch und seine Schenkel. Antoine wiegte Rachel auf den Stufen des Palasts: Ach Schöne, wenn du willst, werden wir beisammen schlafen … Ach Schöne, wenn du willst. Bis ans Ende der Welt. Bis ans Ende der Welt.«