Was kann ein Mensch herausschreien,
der an die Vernunft glaubt? Er kann nur
eines herausschreien: Was auch immer
geschieht und was auch immer man mir zeigt,
all das muss einen Grund haben.
Gilles Deleuze, über Leibniz
Zwei Jahre zuvor, bei der Geburt des Ebers, der die Seele Pater Largeaus aufnahm, und zwar genau in dem Augenblick, als dieses noble Tier auf dem moosigen Grund einer Mulde zwischen zwei Wurzeln einer Eiche an den rosigen Zitzen seiner Mutter quiekte, fand Mathilde den seelenlosen Körper des alten Priesters, dessen Herz einige Minuten zuvor ohne Todeskampf zu schlagen aufgehört hatte, und weinte heiße Tränen, kniete vor ihm nieder, hielt seine Hand im Wissen, dass er tot war, und betete.
Mathilde war untröstlich, sie weinte und betete lange, lange genug, dass das Neugeborene von seiner Mutter abgeleckt und zum ersten Mal gesäugt werden konnte und schließlich, gestärkt von der Muttermilch, ungeschickt zu gehen begann, von der Schnauze und dem Rüssel der Bache in die Welt gestoßen, wobei es die Umstände, unter denen es aus seinem vorherigen Leben geschieden war, sogleich vergaß.
Als Mathilde zu weinen aufhörte, wurde ihr klar, dass etwas getan werden musste, deshalb drehte sie den Leichnam unter großen Mühen der Länge nach respektvoll auf den Rücken, denn trotz seiner Magerkeit war er sehr schwer, und sie dachte dabei, dass es die Knochen des Menschen seien, die schwer wogen, nicht das Fett und nicht die Seele, denn davon besaß der Pfarrer nichts mehr. Sie winkelte seine Arme an, schloss seine Augen, bekreuzigte sich und weinte wieder vor Trauer und Schmerz. Sie war eine gute Katholikin und konnte sich nicht vorstellen, dass der alte Priester jetzt zaghaft und auf wackeligen Beinen unter Laubbäumen herumtollte, nicht betrunken, wie er es als Mensch manchmal gewesen war, sondern als der zarte Frischling, zu dem er geworden war: Sie tröstete sich mit der Vorstellung, er sei jetzt bei den Engeln im Paradies.
Die Beerdigung, drei Tage später, war mäßig gelungen.
Die Anwesenden bedauerten, dass der Verstorbene die Grabrede nicht selbst hielt, wo er doch so berufen für Grabpredigten gewesen war, zumal man entgegen der Gewohnheit einem unbekannten Priester auf der Kanzel zuhören musste, dessen Singsang erkennen ließ, dass er nicht aus der Gegend stammte, was die Trauerfeier in eine exotische, nicht besonders ernste Atmosphäre tauchte, ihr Urlaubsflair verlieh, weshalb andererseits die Frömmler noch heftiger schluchzten als sonst; diese unverhoffte Lockerheit veranlasste die wenigen anwesenden Laizisten, sich leicht mit den Ellbogen anzustoßen und über die Todesumstände zu tuscheln, bevor man die Kommunion empfing; am Ende warf jeder einen letzten Blick auf den Toten hinter dem kleinen Sargfenster, und die Totengräber, die an diesem Tag nüchtern waren, walteten ihres Amtes. Nachdem der Sarg an seinem Platz war, begaben sich die einen schnell ins Café, die anderen zurück an die Arbeit. Als Mathilde nach Hause kam, stieg ihr Mann gerade vom Traktor. Mathildes Ehemann ging nie zur Kirche, was sie ihm nicht übelnahm, denn sie spürte einen tiefen, echten Glauben in ihm, den des Mannes, der mit der Scholle verbunden ist, der mit den Jahreszeiten lebt, dem täglichen Wunder der Natur so nah, dass er gar nicht anders konnte, als den Schöpfer zu ehren, auch wenn er lieber die Saat ausbrachte, als zur Beerdigung des Dorfpfarrers zu gehen, von dem jeder wusste, dass er nicht gerade ein Heiliger war, sondern nur ein Priester, auch wenn Mathilde es sich aus tiefster Seele gewünscht hätte: Ihr Ehemann hatte oft genug Karten mit ihm gespielt, abends im Lebensmittel- und Angler-Café, wo man Haken, Vorfächer und schlohweiße, in Sägemehl wimmelnde Maden kaufte, die zu wunderbaren silbernen Fliegen mutierten, wenn sie zu lange in der Ködertasche vergessen wurden. Mathildes Ehemann trank, aber weniger als andere; er hatte seine Kinder geschlagen, aber weniger als andere; er betrog seine Frau nicht und verließ das familiäre Domizil nur, um zum Angeln oder zur Jagd zu gehen und auf diese Weise andere geplagte Seelen dem Lebensrad zuzuführen, Zander, Hecht, Fasan, Rebhuhn oder Hase, die vielleicht die Seelen glorreicher Entdecker oder stolzer Soldaten beherbergten, wer weiß, er zumindest wusste es nicht. Oft begegnete man ihm im Morgengrauen in den Niederungen mit seinem Hund, das aufgeklappte Gewehr in der Armbeuge, die Mütze über die Ohren gezogen, Nase und Wangen von der Kälte gerötet, und dann grüßte man ihn von einer Anhöhe aus, he, Gary, denn das war der Spitzname von Mathildes Ehemann, ein Spitzname, der in die Finsternis seiner Kindheit zurückreichte, doch niemand konnte sich mehr erinnern, warum oder aufgrund welcher Ähnlichkeit er so genannt wurde, er war für alle Gary, vor allem für die Gäste im Angler-Café, so dass alle sehr überrascht waren, als er Sekretär der Jägervereinigung wurde und man beim Ausfüllen der Unterlagen für die Verwaltung daran erinnert wurde, dass er eigentlich Patrice hieß.
Als ihr Gary vom Traktor stieg, gab ihm Mathilde also einen Kuss und ging dann melancholisch in die Küche: Nie wieder würde sie die Mahlzeiten für Pater Largeau zubereiten, die Suppe, die er an Winterabenden am liebsten mit einem kräftigen Schluck Rotwein beendete, die heiße Brühe, von der er immer ein wenig abschlürfte, bevor er den Teller mit beiden Händen zum weit geöffneten Mund führte und ihn mit geschlossenen Augen austrank, adieu. Adieu, Seufzer der Erleichterung, als hätte er lange den Atem angehalten, wenn er sich danach einen Schuss Rotwein in den Teller goss, eine letzte Scheibe Brot brach und die Brocken mit glänzenden Augen darin einweichte. Mathilde wagte nie zu bleiben. Brüsk verabschiedete sie sich von ihrem lieben Priester, um ihn dann heimlich vom Hof aus zu beobachten: War der Suppenteller geleert und die Bäuerin fort, ging er unabänderlich zum Schnaps über, und Mathilde dachte stets, der heilige Mann habe seine Schwächen und seine Stärken; er vergab sich selbst alles, was er auch seinen Schäfchen vergab, ließ allzeit Milde walten und blieb beim Alkohol wie andere bei der Sünde, und mit dieser Güte, einer wohl und zuallererst sich selbst gegenüber geübten Barmherzigkeit, genehmigte er sich in seiner Einsamkeit ein hübsches Quantum Zwetschgenwasser, die Gnade seiner Obstwiese, unter dem wohlwollenden Auge der Gendarmerie von einem netten Nachbarn gebrannt, der nur ein Viertel der kirchlichen Ernte zu seinem persönlichen Verbrauch abzweigte.
Nein, Mathilde würde nicht mehr die Reste ihrer sonntäglichen Mahlzeit, der eigenen Suppe, des Hühnchens oder des Perlhuhns zu dem Verstorbenen tragen, er war ja, bei Gott, hinüber; er würde nicht mehr sein Schnäpschen trinken und »Ach, meine kleine Mathilde« zu ihr sagen. Tiefe Traurigkeit erfasste sie, und als ihr Mann sie schluchzen sah, nahm er sie in seine Arme; dieses Zeichen der Zuneigung rührte sie so sehr, dass sie den Pfarrer und sein betrübliches Ableben ein wenig vergaß und erst wieder daran dachte, als diese Geschichte wirklich beginnt und der Frischling, der die Seele Pater Largeaus aufgenommen hatte, nach Monaten eines blinden Daseins, die er damit zubrachte, dort drüben, am Rand der Sümpfe, wo sich die Pappeln in die Höhe recken, aus dem Nest gefallene Küken aufzustöbern und zu fressen oder in den wenigen dichten Hecken, die der Getreideanbau übrig gelassen hatte, nach irgendwelchem Aas zu wühlen und an ihm zu nagen, sein erstes Weibchen in dem Dickicht bestieg, das neben der romanischen Kirche lag, ein paar hundert Meter entfernt vom Pfarrhaus, in dem Pater Largeau den Weg zu den Schweinen angetreten hatte.
Zwischenzeitlich war der alte Priester durch einen jungen, rund vierzigjährigen ersetzt worden, der in der Stadt wohnte und für mehrere Pfarrgemeinden zuständig war. Die Sakristei blieb im Andenken an Largeau geschlossen, die Kirche war nur einmal im Monat an einem Sonntag geöffnet, und selbst dann lediglich in aller Herrgottsfrühe, da der Priester nach dem Gottesdienst die Mittagsmesse in der Kreisstadt lesen musste; das Fernbleiben der Schäfchen zu dieser frühen Stunde bestätigte ihn in seiner Einschätzung, dass es nicht der Mühe wert sei, sich an diesen Ort zu begeben: Er sorgte also selbst für leere Kirchenbänke, zumal seine weiblichen Pfarrkinder, denen man schon die Post und die Bäckerei weggenommen hatte, rasend eifersüchtig auf alles waren, was mit den umliegenden Gemeinden zusammenhing.
Mathilde konzentrierte sich auf ihre Buchhaltung und darauf, den Kaninchen das Fell abzuziehen, ohne den Beistand des Herrn, mit dem sie von nun an schmollte, weil er ihr den einzigen Mann – abgesehen von ihrem Ehemann – genommen hatte, bei dem sie, Mathilde, nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass er sie, trotz ihres züchtigen, karierten Rocks, begehren könnte.
*
Das Dorf erstreckt sich zwischen einem Fluss und einem Kruzifix, dem Kalvarienberg an einer Kreuzung, der die Grenze zur benachbarten und geheimnisvollen Vendée markiert: Im Westen sind die Chouans, die das ganze Gebiet bis zum Ozean halten, und trotz des geringen Alters dieser Grenze von gerade mal zweihundert Jahren erklärt das, warum man selten ans Meer fuhr, wenn man Lust hatte, baden zu gehen, sondern eher in den Kanälen und Flüssen herumplanschte, was an jenem Morgen sicher nicht in Frage kam, denn es war Herbst, ein kalter und feuchter Spätherbst, dessen diesige Tage besonders kurz und dessen Abende besonders geeignet sind, sich aufzuhängen. Als nun das Wildschwein, das Pater Largeaus Seele aufgenommen hatte, dort drüben im Unterholz gierig sein erstes Weibchen bestieg, schlug Lucie die Augen auf, die ebenso grau waren wie der heraufziehende Morgen, den sie durchs Fenster erblickte, der Holunder kahl und die Nussbäume entlaubt; sie fröstelte, zögerte einen Augenblick, ob sie noch in der wohligen Nestwärme unter der schweren Daunendecke bleiben sollte, wo sie, über Nacht daran gewöhnt, den Hund, den Schweiß und das verbrannte Holz nicht mehr roch, schloss wieder die Augen und drehte sich um; der Köter leckte an ihrem Unterarm, mit einem Kniestoß jagte sie ihn zum Teufel, das nackte Bein schnellte dabei unter der schützenden Decke hervor, so dass Kälte eindrang, sie knurrte wie der geschundene Kläffer, es war zu spät, die Gebärmutterbehaglichkeit in Schmutz und Schlaf war dahin, sie schlug die Daunendecke energisch zurück, löste Panik unter den Milben aus, schlüpfte in ihre Pantoffeln und stürmte die Treppe hinunter, während zwei Kilometer weiter das Wildschwein mit den Vorderpfoten auf den Schultern der Bache seine erste, endlos lange Ekstase erlebte.
Unten war die Temperatur etwas milder, im Kamin lag noch Glut; der Großvater in seinem Sessel hörte Radio, mit Vergnügen sah er Lucie im Nachthemd vorüberhuschen, ihre Beine, ihren Schlüpfer: Reflexhaft griff er sich durch die Hose ans Geschlecht, zupfte mit zwei Fingern an dem leblosen Fleischzipfel, wie man eine Scheibe Speck anfasst; Lucie spürte die Lüsternheit des Alten (oder hatte den Eindruck, sie zu spüren) und geriet darüber in Wut; sie schloss die Badezimmertür hinter sich ab, da sich der Alte manchmal bis dorthin schleppte, um nach ihr zu linsen. Sie ließ Wasser über ihr Gesicht laufen, schnupperte ein wenig an ihren Kleidungsstücken, fand sie annehmbar, zog sich an, und da sie meinte, es sei noch nicht kalt genug, um in der Badewanne zu urinieren, schlüpfte sie in ihre Gummistiefel und ging hinaus aufs Klo. Der Hund folgte ihr und verschwand zwischen dem Gras und den Beeten, ohne sich daran zu erinnern, dass er viele Jahre zuvor im Körper von Lucies Großmutter im selben Garten gejätet, gepflanzt, Unkraut vernichtet und Gemüse gezogen hatte, in dem er heute vergnüglich Mäuse und Maulwürfe jagte, auch wenn sie viel zu schnell für ihn waren. Lucie trat schlotternd aus dem Klo, nachdem sie eine kraftlose Spinne mit einem Stiefeltritt ins Lebensrad befördert hatte, in der, auf Fliegen lauernd, ein alter Dorfschullehrer schlummerte, der 1916 auf dem Feld der Ehre gefallen war und dessen Name einen prominenten Platz auf dem Denkmal zu Ehren der Kriegstoten einnahm, das neben dem alten, zur Festhalle umgebauten Rathaus stand. Ohne sich um das Spinnentier mit den verrenkten Gliedern zu kümmern, kehrte Lucie schnell wieder in die häusliche Wärme zurück. Ihr Großvater (eingefallenes Gesicht, knorpelige und endlos lange Ohren) brummte, sie versetzte ihm einen Klaps in den Nacken, was den Tattergreis zutiefst verstimmte, weil durch den Stoß sein Gebiss wie ein schmieriges Stück Seife nach vorne rutschte und er die rechte Hand von seiner Hose nehmen musste, um es wieder an seinen Platz zu rücken. Lucie wärmte einen Rest Kaffee in einem Topf auf. Sie betrachtete die rissigen Steingutteller, die sich im Spülbecken türmten, und den Schimmel, der auf dem Rand eines vergessenen Topfs erblüht war, ihr Blick blieb für einen Moment an den hübschen grünen und grauen Pilzen hängen, die den verklumpten, roten Saucenrest säumten, ohne zu wissen, dass ihr Mitgefühl diesen ins Reich der Pilze verbannten Lebewesen soeben eine höhere Stufe der Reinkarnation in Aussicht gestellt hatte, wenn das Spülmittel sie erneut in den Abgrund befördern würde. Sie spürte, wie der Schmutz, das Geschirr, der Müll, der geile Alte, die ganze Bürde der Welt auf ihren Schultern lastete, seufzte und legte ein Holzscheit auf die Glut. Im Topf brodelte der Kaffee, sie fluchte, eilte hinzu, die dicke, gluckernde Flüssigkeit war übergelaufen und bildete eine schwarze Lache auf dem Gasherd, einen Ölteppich, der sich über die Fettschicht auf dem Email legte. Lucie seufzte noch einmal, stellte das Gas ab, warf dem Alten ein nasses Geschirrtuch an den Kopf, der losgelacht oder trompetet oder geröhrt hatte und der sie, nachdem der feuchte Lappen mit dem Leichengeruch voll in seinem Gesicht gelandet war, beschimpfte und verfluchte.
Das Radio brachte die Wettervorhersage, wenigstens eine gute Nachricht für heute, Schnee, aber die Freude darüber hielt nicht lange: Ihr fiel prompt ein, dass sie wegen Behördengängen in die Stadt fahren musste, was sie hasste. Die Präfektur von Niort lag fünfzehn Kilometer im Süden; wenn man den Großvater zu lange allein unbeaufsichtigt ließ, schleppte er sich manchmal bis ins Angler-Café, um ein paar Gläschen zu zwitschern, oder er kletterte auf einen Hocker und kaperte eine Schnapsflasche, was ihm wegen seiner Diabetes und seines hohen Alters verboten war. Es würde Lucie nichts ausmachen, wenn er krepierte, aber sie hatte sich noch nicht dazu durchringen können, die Verantwortung für sein Ableben zu übernehmen, anscheinend war die Beziehung zu ihrem Ahnherrn kompliziert. Als der Ex-Pater-Largeau-Eber von seiner Bache abließ, um wieder im welken Laub zu wühlen, die Borsten noch immer aufgerichtet vor Lust, parkte der dunkelhaarige Anthropologe sein Mofa vor Lucies Haus, nahm den Helm ab und kramte ziemlich ungeschickt sein Material aus der Umhängetasche; er strahlte Frische aus, Gesundheit und jugendliche Selbstgefälligkeit. Lucie hatte vollkommen vergessen, dass sie sich am Tag zuvor, mehr oder weniger von den Umständen gezwungen, mit ihm verabredet hatte; dabei hatte sie nicht das geringste Vertrauen in diesen Typen, der redete wie ein Buch und, soweit sie es mitbekommen hatte, bereits mit dem Totengräber-Chef verbündet war – aber jetzt war er da, vor ihrer Tür, sie öffnete, lächelte ihn an, belog ihn ohne großes Vergnügen, ließ ihn allein mit dem Alten, der überrascht, aber entzückt war, dass man sich für ihn interessierte. Mit dem bisschen Freiheit, das ihm sein Gebiss und das unzuverlässige Gedächtnis gewährten, bemühte sich der Greis, die Fragen des Anthropologen zu beantworten; er erinnerte sich verschwommen an seine Kindheit, an die Schule, zu der er laufen musste, die Felder, die er zu Fuß durchstreifte, an sein Leben als Landarbeiter, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für die Großeltern jener Mathilde arbeitete, die am anderen Ende des Dorfs noch immer um den toten Pfarrer trauerte, und während Lucie ihren Wagen auf dem Parkplatz einer bürgernahen Behörde abstellte, in der sie einige Stunden ihres Lebens verlieren sollte, die ihr niemand zurückgeben würde, schwitzte der Ethnologe Blut und Wasser beim Versuch, die Erzählung des Ahnherrn zu verstehen, seine uralte und ungebändigte Sprache zu entschlüsseln, einen heimatlichen Dialekt voller ländlicher Gewalt, den man heutzutage nicht mehr oft vernimmt, weil man sich seiner schämt, wie man sich früher seiner vom Dreck schwarzen Hände schämte und sie hinter seinem Rücken versteckte, wenn der Lehrer, dessen Französisch tadellos war, mit seinem Rohrstock anrückte. Wäre er scharfsinniger oder interessierter gewesen, hätte der junge Forscher vielleicht die Geschichte der Eltern des alten Mannes erfahren, dessen Mutter, ohne Lust zu empfinden, den Kopf gegen einen Baumstumpf gepresst, auf einer Lichtung geschwängert worden war, über der das weiße Hinterteil ihres Vergewaltigers in der Frühlingssonne geglänzt hatte, der mit seiner immer frenetischeren Bewegung etwas herbeiführte, was nicht wiedergutzumachen war, und die von ihrem Vater bis aufs Blut ausgepeitscht wurde, der bei jedem Hieb vor Wut heulte und Gott, das Leben, die Frauen und überhaupt alles verfluchte, was einen erniedrigte, ohne dass man etwas dagegen tun konnte, bis ihm der Arm schmerzte und er sich heulend betrank, überzeugt, dass ihn die Schande für immer aus der Gesellschaft der Menschen ausschließen würde. Der Kerl, dessen in der Sonne glänzender Arsch die Amseln neugierig gemacht hatte, war verschwunden, so schnell er konnte, und die Ex-Jungfrau, die den Schmerz der Kopulation unter den Peitschenhieben schnell vergessen hatte, zeigte ihn nicht an – die Zeit tat das ihre, sogar der Schrecken dieser Umklammerung verblasste, nur der Zwiebelgeruch im Schuppen erinnerte sie des Öfteren an die fetten Schweißtropfen, die von der Ambossstirn des Mannes getropft waren, der sie zum ersten Mal genommen hatte. Sie wurde mit einem armen Schlucker verheiratet, einem besitzlosen Landarbeiter, der die Gelegenheit ergriff, in den Besitz von Land zu gelangen; nachdem sich die heimlichen Pflanzenabsude, die Mondzeremonien, die Gebete und die vielen Arbeitsstunden beim Strohhäckseln als unwirksam erwiesen hatten, der Kleine hatte sich gut festgebissen, und trotz der Schande hatte der Vater ihn nicht wie angekündigt mit dem Holzschuh erledigt, sondern einen Schwiegersohn gesucht, einen Tagelöhner, dem er Land, Felder und Kühe bot: Jérémie. Der Pfarrer richtete die Augen zum Himmel, nahm aber auf die Schnelle die Trauung vor, die beiden pickeligen Chorknaben glucksten, die Spatzen flogen vom Kirchturm auf, und das war alles bis zur Geburt von Lucies Großvater. Das Lebensrad bedachte ihn mit der Seele eines Notargehilfen aus La Pierre-Saint-Christophe, der gutbürgerlich an einem Herzstillstand verstorben war und am darauffolgenden Montag beerdigt wurde. Die Totengräber sahen sich den Vorwürfen der Witwe ausgesetzt; sie nahm ihre Trunkenheit zum Vorwand, um ihnen das übliche Trinkgeld vorzuenthalten; sie zogen lange Trauergesichter, ohne sich zu beschweren, spuckten aber ausgiebig auf den Sarg, als alle gegangen waren, bevor sie das Grab zuschaufelten und weiterzechten. Der älteste von den dreien war der Großvater des heutigen Dorfbürgermeisters Martial Pouvreau, der in dem Augenblick, als der Anthropologe das mundartliche Kauderwelsch des faselnden Greises allmählich satthatte, seinen Wagen vor dem Angler-Café parkte, denn es war Zeit für den Aperitif. Pouvreau war bester Stimmung. Wie jedes Jahr mähte die Grippe die Alten um, der Winter ließ sich gut an, auch wenn vor allem die Armen abkratzten, und die konnten sich keine Särge der Modelle Venedig oder San Remo leisten, bei denen die Gewinnmargen höher waren, aber was soll’s, eine Leiche ist eine Leiche, ob reich oder arm, sie muss gleichwohl gekleidet, transportiert und unter die Erde gebracht oder verbrannt werden, und für die Mittellosen springt der Staat ein, und der Bestatter kassiert. Nicht dass Martial sich über das Ableben der Leute gefreut hätte, im Gegenteil, es machte ihn traurig, doch irgendwann beißt jeder ins Gras, sogar er selbst, und weil er den Verdacht hegte, dass seine Kinder bei ihm knausern könnten, hatte er seine eigene Beisetzung längst bei einem Kollegen in der Stadt in Auftrag gegeben.
Er war also bester Laune, als er die Tür zur Bar aufstieß und Thomas grüßte; Thomas erwiderte den Gruß des Bürgermeisters mit einem erfreuten Gesicht, schüttelte ihm über den Tresen hinweg die Hand und kehrte ihm dann den Rücken zu, um einen Aperitif mit jenem Anisschnaps zuzubereiten, für den Martial eine Vorliebe hatte und der in den 1960er Jahren in diese Gegend gekommen war, wie man aus den gelb-blauen Aschenbechern und Plastikkaraffen schließen konnte, die damals von den Handelsvertretern großzügig verteilt wurden, die auch sämtliche Kirchweihfeste und den Ausschank eines jeden Fußballvereins damit beehrten. Früher trank man seinen eigenen Wein, seinen eigenen Schnaps, seinen selbst angesetzten Schlehenlikör oder vergessene Getränke, deren ausgeblichene Reklame bisweilen noch auf den Hauswänden der Marktflecken zu sehen ist, Fernet-Branca, Dubonnet und Byrrh, und man muss schon von unheilbarer Nostalgie oder echtem Forscherdrang beseelt sein, um sich heutzutage einen dieser Rachenputzer hinter die Binde zu kippen. Ab und an ließ sich der Bürgermeister auch einen Gentiane schmecken, es kam sogar vor, dass er ein Tröpfchen von diesem Enzian-Likör in seinen Pastis goss, was einen Bauerncocktail ergab, der von den Kennern seiner seltsamen Farbe wegen »Bauern-Diesel« genannt wurde, aber das waren eher abendliche Kapriolen; vor dem Mittagessen und gerade an den Tagen ohne Beerdigung beschränkte er sich auf ein oder zwei Gläschen, um sich Appetit zu machen, und man hörte ihn scherzhaft sagen, er sei nüchtern wie ein Gendarm, was er sich an diesem Morgen sicher verkniff, denn zwei von der Streife standen am Tresen und schlürften einen Espresso, den Thomas, der sie gut kannte, diskret mit einem Calvados verlängert hatte; sie schätzten diese Geste besonders, seit eine übertrieben pedantische Anordnung ihnen verbot, in der Öffentlichkeit oder in Uniform Alkohol zu trinken, und sie dazu verdonnerte, den Aperitif im Büro und immer unter sich zu nehmen. Es waren zwei Vertreter einer aussterbenden Art, denn ihre jungen Kollegen waren sportlich, diszipliniert und streng, wo die Alten schmerbäuchig, faul wie Nattern und für Freundschaftsdienste zu haben waren: Lange Zeit hatten sie sich ausschließlich mit den Pastis- und Whiskyflaschen volllaufen lassen, die man ihnen als Gegenleistung für ihre Nachsicht bei kleinen Vergehen im Straßenverkehr oder für ihre Großzügigkeit in Bezug auf die heimliche Schnapsbrennerei schenkte; vor der Wilderei schlossen sie freundlich die Augen für das Versprechen, nicht rückfällig zu werden, und für einen Teil der Beute, denn eigentlich wurden all diese Gesetzesverstöße nicht von Ganoven oder Kanaken begangen, sondern von braven Leuten, die es nicht verdienten, dass sie die ganze Härte des Gesetzes traf. Die beiden Polypen waren also weder besonders umtriebige noch besonders scharfe Stockmeister; beide stammten nicht aus der Gegend, der eine kam aus der Ecke von Ruffec, der andere aus Thouars, also vom Ende der Welt, aber sie versahen schon so lange ihren Dienst in diesem Landstrich, dass man dieses Detail beinahe vergessen hatte, zumal die meisten ihrer Kameraden und Offiziere aus allen Ecken und Enden Frankreichs kamen; der Hauptmann der Abteilung von Coulonges beispielsweise war ein echter Fernsehserienpolizist mit singendem Akzent, Sohn eines Schmugglers aus dem Département Pyrénées-Orientales: Ihm war seit jeher klar gewesen, dass er eine enge Beziehung zum Gesetz pflegen würde, auch wenn er lange nicht wusste, auf welcher Seite.
Man unterhielt sich über die Kälte und den angekündigten Schnee, über die Hoffnung auf eine weiße Weihnacht; die Gendarmerie schlürfte ihren Kaffee und kehrte zu ihrem Renault-Funkstreifenwagen zurück, um noch ein wenig in der Gegend herumzufahren, man hatte es nicht eilig, in die Kaserne zurückzukehren.
Der Bürgermeister (alterslos, Schnapsnase, das graue Haar nach hinten gegelt) übergab Thomas zwei neue Bekanntmachungen zur Jagd, die ihm die Präfektur am Morgen übermittelt hatte; von Gesetzes wegen hatte er sie am Rathaus ausgehängt, hielt es aber aus gutem Grund für nützlicher, Kopien in der Bar zu hinterlassen, damit sie allen zur Kenntnis gelangten. Bestimmte Tierarten durften sich einer winterlichen Schonzeit erfreuen. Thomas warf einen zerstreuten Blick auf die Schriftstücke und heftete sie mit Reißzwecken an die dafür bestimmte Korktafel, die von mehr oder weniger veralteten Zetteln überbordete, manche betrafen den Aalfang, andere das gesetzliche Mindestmaß der Raubfische oder die genehmigte Anzahl des zum Abschuss freigegebenen Schalen- und Schwarzwilds für die kommunale Jagdgemeinschaft, die hier ebenso ihren Sitz hatte wie der Fußball- und der Pétanqueverein (worauf die Pokale auf dem obersten Regalbrett über den Flaschen und die verblassten Wimpel hinwiesen, die seit einer Ewigkeit von besagtem Brett herabbaumelten). Ein Beobachter mit einem schärferen Auge als der junge Anthropologe hätte sogar den dicken Thomas auf einem verblichenen Farbfoto entdecken können, für das er fünfundvierzig Jahre zuvor anlässlich des besonders glanzvollen Sieges der Dorfmannschaft bei einem unbedeutenden Kreisklassenturnier mit seinen zehn Kameraden im Torhütertrikot und mit Torwarthandschuhen posierte, ein wenig am Rand, aber bereits dick. Die Trophäen waren vom Crédit Agricole gestiftet worden, von wem auch sonst, ebenso die Spielkarten, die Spielunterlage und die Plakate für den Belote-Wettbewerb, auch die Kugelschreiber und die meisten anderen Gewinne außer den Schweinswürsten, die man dem Metzger Patarin abnötigte.
Sie alle (der dicke Thomas, Martial, Patarin, Gary und die anderen) kannten sich seit ihrer Kindheit und wussten nach so vielen Jahren nicht mehr, ob sie sich als Freunde betrachten sollten; zusammen waren sie mit der Steinschleuder in der Hand auf Vogeljagd durch die Felder gestreift, und im Gegensatz zur Anzahl der Treffer, die stolz auf dem Schulhof verkündet wurden, hatten sie oft nur einen einzigen getroffen, einen großen, müden Raben, der sich nach der Schmähung träge in die Luft geschwungen hatte; im Herbst schlugen sie mutwillig die Nüsse vom Baum, bauten sich Geheimverstecke im Heu und trieben ihre Mütter zur Verzweiflung, wenn sie blaue Flecken und Schrammen nach Hause brachten oder vom Fahrrad flogen, weil sie freihändig den Hang zum Steinbruch hinunterrasten. Bei allen wurde der Klopfer geschwungen, und einige hatten, weitaus wirksamer, den Ledergürtel zu spüren bekommen. Sie hatten manche Sommernächte schlummernd in den Kabinen der Traktoren verbracht, und später fuhren sie damit den Mähdreschern hinterher; sobald ihnen die ersten Barthaare wuchsen, gingen sie auf die Jagd, und immer würden sie sich an den Geruch ihres ersten Schusses und ihres ersten Mädchens erinnern, beides ging daneben; gemeinsam rauchten sie selbst gerollte Zigaretten mit dem Tabak, den einige Väter (die Glücklichen) selbst anbauten, und den ersten Rausch hatten sie auf der Hochzeit einer entfernten Cousine, was ihnen eine fürchterliche Tracht Prügel einbrachte. Außer Martial hatten es wenige weiter gebracht als aufs Lyzeum, und alle waren geworden, was ihre Eltern waren, Bauer, Gastwirt, Fleischer oder auch Sargträger.
Der Bürgermeister kippte also sein Gläschen und kehrte zur selben Zeit in sein Heim zurück, als der angenervte Anthropologe mit einer Mischung aus Freude und Angst Lucies Cousin, den beleibten Tölpel namens Arnaud, heimkehren sah; er kam aus der Werkstatt des Automechanikers Jucheau, der ihn beschäftigte, wenn man so will, denn er bekam fast keinen Lohn, jedenfalls sehr wenig, ein paar Münzen, die er wie einen Schatz an sich nahm und in einer aus Meccano-Platten zusammengeschraubten Kiste (seinem Tresor) versteckte. Arnaud war das Glück seines Arbeitgebers, er wurde nie müde, und unter guter Anleitung schaffte er an einem Tag die Arbeit von zweien oder dreien. Seine Spezialität waren das Abmontieren und Montieren, Reifen, Gehäuse und Ölwechsel. Er hatte keine Ahnung, wie Motoren, Bremsen oder die Elektrik funktionierten, aber mit einem Schraubenschlüssel in der Hand war er der King. An diesem Morgen hatte er beim Lieferwagen des dicken Thomas den Motor ausgebaut und mit großem Vergnügen den Zahnriemen der Wasserpumpe gewechselt, ein Grund zu höchster Zufriedenheit. Am Nachmittag würde er die Gelegenheit nutzen und mit unverminderter Freude den Ölwechsel vornehmen. Dann würde er nach Hause gehen, das Kaminfeuer, seine Cousine und seinen Großvater beobachten, zu Abend essen, seine Zähne putzen, urinieren und schlafen gehen, um am nächsten Tag in Jucheaus Autowerkstatt zurückzukehren usw. Diese Regelmäßigkeit machte ihn glücklich, er liebte nichts so sehr wie die Wiederholung. Oft hatte er seltsame Träume, die er am Morgen so schnell wie möglich vergaß, Träume, in denen er mal als Insekt an Grashalmen hochkletterte, mal als Eule durch die Nacht spukte, mal als Reiter durch die Felder galoppierte. Beim Aufstehen schüttelte er den Kopf, um all diese Bilder zu verscheuchen, wie man sich schüttelt, wenn man aus dem Wasser steigt, und das Einzige, was ihm von seinen nächtlichen Ausritten in die Geheimnisse der Vergangenheit und der Zukunft unerklärlicherweise blieb, waren zahllose Daten zu Dutzenden von nahen oder fernen Ereignissen, die er manchmal herunterspulte, ohne ihre Bedeutung zu verstehen, weil sie ihm ein paar Münzen oder Gläschen im Dorf-Café einbrachten. Er liebte seine Cousine und seinen Großvater über alles, und just als das Wildschwein, das Pater Largeaus Seele aufgenommen hatte, am Feldrand grunzend nach Nahrung suchte, empfand Arnaud Lucies Abwesenheit sehr stark; er musterte kurz den jungen Mann, den er schon einmal gesehen hatte, ohne dass er sich daran erinnern konnte, wo genau, und bereitete seine Mahlzeit zu, das heißt, er öffnete eine Konservenbüchse, schüttete ihren Inhalt in einen der Teller, in seinen Teller, aus dem Spülbecken, nachdem er zuvor die Essensreste sorgsam mit dem Ärmel abgewischt hatte.
Dann schlang er das Essen gierig herunter, denn er hatte großen Hunger.
Dann war er satt und rülpste.
Dann ging er unter den verdutzten Blicken des jungen Ethnologen seinen Angelegenheiten nach und schlief vor dem Kamin ein wie ein Stein.
*
Genau an der Stelle, wo heute das Haus von Lucies Großvater steht, erhob sich einst das Schloss des Grundherren der Gemeinde, ein bewehrtes Manoir von Krautjunkern, deren Wappenschild, grün auf rotem Feld, ihnen der Familienlegende nach während der Kreuzzüge vom heiligen Ludwig persönlich gewährt worden war: Das war nahezu ihr ganzer Reichtum. Sie besaßen ein paar Leibeigene, eine Mühle, ein Backhaus und einen kleinen Wald, verwiesen aber gern auf ihre angebliche Verwandtschaft mit den Rohans und den Lusignans. Einige ihrer Vorfahren waren in der benachbarten Kirche beigesetzt, die anderen um ihren Wohnsitz verstreut: Die planlose Aushebung von Senkgruben riss diese sterblichen Überreste manchmal aus ihrer Totenruhe, und Lucies Hund, der die Seele ihrer Großmutter aufgenommen hatte, nagte oft an den ehrbaren Knochenresten von Rittern und Amtsträgern, Vögten und Seneschallen, die die Geschichte nach der Zerstörung ihres Schlosses längst vergessen hatte. Ein Teil davon war schon während der Religionskriege zwei Jahrhunderte vor der Revolution abgebrannt, als protestantische Truppen unter Louis de Saint-Gelais durch die Gegend zogen, um sich der Stadt Niort zu bemächtigen, aber davon hatte man sich wieder erholt – den aufgebrachten Mistbauern von 1789 hingegen gelang, woran die hugenottische Soldateska gescheitert war, und das Gebäude brannte vollständig nieder. Man weiß nicht viel über das Schicksal der Familie und ihrer Abkömmlinge, zur Zeit des Brandes wohnten sie schon seit Langem nicht mehr darin, von der endgültigen Zerstörung durch die Bauern bekamen sie nichts mit; 1794 wurden ihre Güter mit denen der Auswanderer verkauft, und abgesehen vom Straßennamen, Rue du Château (aufgrund dessen versprengte Besucher hier vergeblich nach einem bemerkenswerten Gebäude suchen), war jede Erinnerung an sie verschwunden. Lucies Haus hatte ihr Urgroßvater Jérémie, der landlose Bauer, Beschützer des neugeborenen Bastards und seiner Erzeugerin, 1932 mit zwei angrenzenden Scheunen erworben, die anschließend verkauft und abgerissen wurden. Jérémie hatte es eilig, seine Manneskraft zu beweisen, um den verletzten Stolz zu heilen, der trotz des Geldes noch in ihm brannte; er deckte sein Weibchen regelmäßig in der Hoffnung, eine schmerzvolle Geburt könne die Spur der Vorgängerrute auslöschen. So plagte er sich sattsam ab, ein Jahr lang, dann zwei, doch nichts passierte. Er schlug seine Frau heftig, zweifellos wollte sie einfach nicht, dann änderte er die Strategie, hörte auf, sie zu schlagen, und erließ ihr schwere Arbeit, während er zugleich seine Anstrengungen verdoppelte, ohne Erfolg. Bald würde der Bastard drei Jahre alt sein. Allein der Anblick dieses Jungen, der ihn »Papi« oder »der Vater« nannte, machte ihn schwermütig; nach und nach verwandelte sich diese Traurigkeit in Abscheu und schließlich in grimmigen Hass. Seine Frau wusste nicht mehr, an welchen Heiligen sie sich wenden sollte; sie zündete Kerzen an; sie, die nie zuvor gebetet hatte, fing an zu beten; wie zahlreiche Frauen aus dem Dorf war sie eines Nachts zum Dolmen gegangen, um eine Opfergabe für die Feen und Zauberwesen niederzulegen, es war ihr sogar gelungen, nach dem Ratschlag einer Nachbarin, die den Sternen und Sternschnuppen magische Kräfte zusprach, ihren Mann an einem Augustabend bei Vollmond ans Flussufer zu locken und ihn dort an sich zu ziehen. Sie hatte die Heilerin Pélagie aufgesucht, die von allen nur die Hexe genannt wurde, obwohl sie, trotz Ehelosigkeit, flachsblondem Haar und gebrochener Nase, keine war. Vergeblich. Vier Jahre vergingen. Jérémie gab nicht auf. Verbissen hielt er daran fest, versank in seiner Wut. Ob zu Recht oder zu Unrecht, er war überzeugt, das Gespött des Dorfs zu sein; er ging nicht mehr ins Café, betrank sich zu Hause, denn nur Schnaps konnte ihn heiter stimmen, Schnaps und Tresterwein, die er fassweise schluckte. Seine Frau Louise zitterte, wenn sie ihre Menstruation kommen spürte, und mehr als einmal war sie versucht, die verräterischen Baumwolltücher zu verstecken, die ihr jedes Mal eine gewaltige Tracht Prügel einbrachten: Am Ende weinte Jérémie Tränen des Hasses und der Ohnmacht angesichts dieses Blutflusses, über den er nichts wusste, nur dass er kastanienrot war, von der Farbe des Unglücks.
Er fing an, den Bastard windelweich zu schlagen.
Zermürbt von den verzweifelten Übergriffen ihres Mannes, entsetzt über die Spuren auf dem Körper ihres Sohnes, der Schläge und der Schuldgefühle überdrüssig, seufzte Louise eines Nachts schließlich nach einer besonders harten Umarmung und sagte: »Diesmal hast es hingekriegt«, was Jérémie bestätigte, denn er fand in der Tat, dass er es in dieser Nacht besonders gut gemacht hatte. Mehr sagte sie nicht. Zwei Tage später flüsterte sie ihm lächelnd ins Ohr, ich glaube wirklich, dass es drin ist. Jérémie wunderte sich, dass sie es so früh erkennen konnte, aber wenn er nachfragte, unterbrach sie ihn, Frauen wüssten solche Dinge eben, und Jérémie, der die Gebärmutter von Kühen, Sauen und die Wege der Natur durchaus kannte, wollte es glauben. Vielleicht glaubte Louise auch daran. Jedenfalls verweigerte sie sich ihm von nun an, man dürfe das gerade erst eingepflanzte Kerlchen auf keinen Fall stören, sagte sie, was Jérémie vernünftig erschien, und er war sehr besorgt um seine Frau. Sie hatte Schwächeanfälle, ihr war übel, sie fühlte sich unwohl, und in Jérémie keimte eine unbändige Freude auf. Louise aß, aß, aß und schwoll an, wenig, aber sie schwoll an. Sie streckte ihren kleinen Bauch nach vorne und beklagte sich über ihre Brüste, die größer würden, wie sie meinte; Jérémie sah sie größer werden. Die gefürchtete Blutung blieb aus, zumindest sah Jérémie nichts. Stolz ging Jérémie wieder ins Café; er gab den Brüdern Chaigneau einen aus; er gab dem Schmied Poupelain einen aus; er gab dem Postboten Chaudanceau und dem Jagdaufseher einen aus. Er trank fröhlich zahllose Gläschen, immer ein Lächeln auf den Lippen, und wahrte sein Geheimnis, das für niemanden eines war. Wie ein guter Bauer dachte Jérémie, dass Beharrlichkeit und harte Arbeit sich am Ende immer auszahlten, als ein Bote der Präfektur oder der Gemeindeverwaltung hereinkam, um einen Einberufungsbefehl für den 17. Februar 1940 auszuhängen, der zum Teil auch Beschäftigte in der Landwirtschaft betraf.
Unter dem Buchstaben M stand dort der Name Jérémie Moreau.
Er sollte sich nach Poitiers begeben, wo ein Infanterieregiment auf ihn wartete.
Wieder einmal ging es gegen die Boches, was nicht so erstaunlich war, hatte doch zwanzig Jahre zuvor schon sein Vater gegen die Deutschen gekämpft; er erinnerte sich noch an dessen Aufbruch 1917: Er war ein Kind gewesen und hatte Stolz empfunden, Stolz und Schrecken. Natürlich hatte Jérémie davon gehört, dass man sich seit Monaten im Krieg befand, einige Männer aus dem Dorf waren schon nach Norden aufgebrochen, Vater Patarin, Bergeron, Berthot, aber er hatte all diese Nachrichten nicht wirklich verfolgt, weil die Maginot-Linie, Polen weit weg waren, weil ihm die Kühe Sorgen bereitet hatten und weil sein Schwiegervater ihn schuften ließ wie einen Ackergaul. Natürlich hörte er gerne die Musik aus dem Rundfunkgerät seiner Schwiegereltern, doch auf die Nachrichtensendungen achtete er nie. Der Bastard ging zur Schule, würde bis zu seinem zwölften Lebensjahr die Schulbank drücken; an seine eigene Schulzeit erinnerte sich Jérémie jedoch nur sehr vage. Er konnte ein wenig lesen, auch ein wenig schreiben, weil man es ihm während des Wehrdienstes noch einmal beigebracht hatte, bei der Armee, die ihn jetzt zu den Waffen rief.
Louise war schwanger. Am nächsten Montag sollte Jérémie aufbrechen. Er ging deshalb zum Bürgermeister, um ihm zu erklären, dass er nicht weggehen könne, da seine Frau guter Hoffnung sei; der Bürgermeister erwiderte ihm, dass die Dinge nicht so liefen, dass er für die Geburt Diensturlaub erhalten würde, sich aber nach Poitiers begeben müsse, ansonsten würde ihn die Gendarmerie abholen. Es ist nicht bekannt, warum der Bürgermeister Jérémie nicht darüber informierte, dass ihm von Rechts wegen zugestanden hätte, sich als unabkömmlich für die Familie zu erklären, und er so der Einberufung für einige Zeit hätte entgehen können; auch die Militärbehörden unternahmen nichts dergleichen, vermutlich weil Jérémie trotz seines biblischen Vornamens niemandem sympathisch war, weder den Leuten, die ihn kannten, noch denen, die ihm zum ersten Mal begegneten.
Louise tat sicher so, als wäre sie traurig, aber nicht zu sehr, denn sie wollte ihren Mann nicht verrückt machen und zum Desertieren antreiben; sie versuchte, ihn zu beruhigen, ihre Eltern würden sich gut um sie kümmern, und er würde bald zur Niederkunft wieder zurückkommen. Sie fand sogar ergreifende Worte, sein Land verteidigen, Vaterland, Ehre, die sie im Radio gehört hatte und die Jérémie Mut machten.
Nach einem letzten schrecklichen Besäufnis verließ er todtraurig mit den Brüdern Chaigneau das Dorf.
Louise war ein wenig erleichtert, aber auch ratlos; ohne den Ehemann in der Nähe war es einfacher, eine Schwangerschaft zu simulieren, aber da der Hauptinteressent nun abwesend war, gab es keine Notwendigkeit mehr, den Schein aufrechtzuerhalten; sie beschloss, die Lüge noch einige Zeit fortzuführen und dann das Kind zu verlieren. In den folgenden zwei Monaten steckte sie sich also ein Hafersäckchen unters Kleid und Stoff in ihren Büstenhalter; sie ließ sich fotografieren und schickte einen Abzug in die Ardennen, wo Jérémie einen Freudensprung machte, die neuen Formen seiner Frau den Brüdern Chaigneau zeigte und einen Schoppen mit ihnen leerte. Louise wurde bewusst, dass sie theoretisch seit sechs Monaten schwanger war; sie wusste nicht mehr, wie sie verhindern könnte, dass ihr Schwindel aufflog. Sie ging ihrer Mutter aus dem Weg, die sich über ihr Benehmen wunderte; sie verbarg ihren Körper vor ihrem Sohn; jeden Morgen dachte sie, dass der kleine Besucher jetzt sterben müsse, aber sie wusste nicht, wie, ihr fiel keine Ausrede ein, was könnte sie mit dem Fötus angestellt haben, was würde sie dem Arzt sagen, wenn er käme, sie konnte nicht mehr schlafen, betete um ein Wunder, der Sitzkrieg oben im Norden schaffte die Sache nicht aus der Welt, Jérémie konnte jeden Tag zurückkommen, sie war verloren.
Sie war gerade fünfundzwanzig Jahre alt geworden.
Zweimal täglich zwang sie sich, durchs Dorf zu gehen und sich zu zeigen. Sie machte Halt im Lebensmittel-Café, um eine Kleinigkeit einzukaufen; sie unterhielt sich kurz mit dem Briefträger, dann kehrte sie heim.
Sie sah keine andere Möglichkeit als den Tod. Wenn sie sterben würde, wäre sie unter der Erde, bevor Jérémie zurückkäme, und niemand würde etwas bemerken.
Ein Monat verging, ohne dass sie sich entscheiden konnte; ihre Mutter machte sich immer größere Sorgen, Louise war bleich, hatte dunkle Schatten um die Augen. Jérémie kündigte sein Kommen an, endlich einen Urlaubsschein, schrieb er, für nächste Woche. Ich kann es kaum erwarten, meine kleine Frau wiederzusehen. Louise befasste sich mit verschiedenen Todesarten. Gift oder Ertrinken schienen ihr am geeignetsten. Der Frühling war in diesem Jahr wunderbar; strahlender Sonnenschein streichelte die Bäume.
Eines Nachmittags marschierte sie mit einem Korb unter dem Arm zum Fluss. Sie wusste nicht so genau, warum sie den Korb mitgenommen hatte, er gab ihr wohl Haltung; unterwegs schien ihr Bauch tatsächlich schwer zu sein, er machte ihr das Gehen mühsam, sie dachte, dass sie wirklich gern ein zweites Kind gehabt hätte. Sie sah Jérémie, wie er war, ein Rohling, ein Fels oder vielmehr ein Stier. Als sie bei den Bäumen am Ufer des Wasserlaufs ankam, fiel ein Sonnenstrahl durch das Blattwerk und schien auf den Teppich aus Binsen, Wasserlinsen und Augentierchen; ein paar Fische schnappten nach Luft, auf der Wasseroberfläche sah sie kleine Kreise, die immer größer wurden; Louise setzte sich auf den Boden, zwei Schritte trennten sie vom Wasser. Wie nie zuvor spürte sie die Lebenskraft um sich herum, das große Rad des Leidens, in das alles eintauchte, die Vögel, die Libellen, die Mücken, die an ihren Ohren surrten. Sie blieb lange so sitzen, gedankenleer.
Dann stand sie auf und trat an die Böschung.
*
Als das Wildschwein, das die Seele von Abbé Largeau aufgenommen hatte, zum ersten Mal die mefitische Ausdünstung des Menschen roch, eine Mischung aus Eitelkeit, Grausamkeit und frischer Wäsche, bekam es solche Angst, dass es Reißaus nahm und sich in ein sehr dichtes Unterholz voller Dornen flüchtete, in das selbst das Wildschein nur mit Mühe eindringen konnte, und dort blieb es, zusammengekauert, zitternd, bis es durch Zufall den Kadaver eines Eichhörnchens witterte, ihn zu fressen begann und dabei die Gefahr vergaß. Der Mann, dessen Geruch ihm der Wind zugetragen hatte, war verblüfft stehen geblieben: Was zum Teufel hatte ein kleines Wildschwein auf einem Feld so nah am Dorf zu suchen, und er dachte schon, er hätte sich getäuscht; es muss ein Hund gewesen sein, aber, verflixt und zugenäht, ihm schien, er hätte deutlich einen Rüssel und zwei Hauer gesehen, und es könnte sich lohnen, der Sache nachzugehen; er schob die Möglichkeit, dass ein solcher Schwarzkittel sich so weit vorwagte, auf die Affenkälte und den einsetzenden Schneefall. Gary nahm sich also vor, später mit Gewehr und Hund zurückzukehren, um sich Gewissheit zu verschaffen, Wildschweinbraten zu Weihnachten wäre lecker; dann setzte er seinen Weg fort bis zum Lebensmittel- und Angler-Café wo er bei einem Kaffee übers Wetter plauderte; der dicke Thomas wartete unterdessen ungeduldig auf den Hausbesuch der Friseurin, die er mit den Augen verschlingen würde, während sie sich, das Dekolleté wie eine Spalte der Versuchungen vor der Brille des armen Gastwirts, mit der Schermaschine über seinen Ohren zu schaffen machte. Thomas würde sich von den metallischen Scherblättern über den Kopf streicheln und sich von den klimpernden Armbändern einlullen lassen, und danach würde er der Expertin, wie jeden Monat seit Jahren, unangemessen viel Trinkgeld geben. Die Friseurin hieß eigentlich Jacqueline, was sie hasste, und deshalb nannte sie sich Lynn; sie schnitt den Alten hingebungsvoll das Haar, drehte den Damen liebenswürdig und demütig die Haare ein und organisierte Nachbarschaftstreffen, um kosmetische Produkte zu verkaufen, bei denen, wie sie sagte, die Frauen unter sich waren und den Nachmittag mit dem Lackieren von Fingernägeln und dem Testen von Anti-Falten-Cremes verbrachten. Lynn widmete den größten Teil ihres Verstands dem Geld, wie man es einnahm und wie man es ausgab, und alle im Dorf wären verblüfft gewesen über ihren Kontostand, der dem des knausrigen Thomas oder dem des Trauerunternehmers Martial in nichts nachstand. Lynn gelang alles, oder fast alles: Die Treulosigkeit der Männer war der einzige Wermutstropfen. In ihrem Beruf fand sie tröstliche Anteilnahme und hörte all den Frauen gern zu, die ihr das baldige Erscheinen eines Märchenprinzen versprachen, jung und schön, wie sie war; sie verbarg ihr wahres Alter, und außer ihrem Arzt und dem Finanzamt wusste niemand, dass sie fünfunddreißig war.
Für sie hätte sich der dicke Thomas in ewige Verdammnis gestürzt.
Für sie machte er sich mal zum sabbernden Welpen, mal zum balzenden Gockel. Er träumte, er wäre plötzlich Witwer, würde auf die Knie sinken und ihr seine Liebe gestehen, ihr ein hübsches Peugeot Cabriolet schenken, mit ihr in ein Hotel an der Küste fahren, Austern schlürfen und Seehasenrogen löffeln, Champagner trinken und alles tun, was er mit Wollust in Verbindung brachte.
Mit ihrem Dekolleté entfachte Lynn immer wieder das Begehren von Thomas. Es ist nicht bekannt, ob ihr klar war, welch unwiderstehliche Verführungskraft sie für den Lüstling besaß, und allgemeiner, ob sie sich der Wirkung bewusst war, die sie auf die Männer im Dorf ausübte. Einige Damen aus der Gegend hatten diese Diebin von Ehegattenherzen lange Zeit argwöhnisch beäugt und gemieden wie die Pest, doch irgendwann mussten sie zugeben, dass die Jahre vergangen waren und Lynn ihnen keinen einzigen Ehemann abspenstig gemacht hatte. Wurde einer zudringlich, rückte sie ihm sogar mit einem kleinen Klaps auf die Hand den Kopf zurecht, und wenn sie die alten Säcke ertappte, wie sie mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen nach ihren Brüsten schielten, knöpfte sie mit verärgerter Miene ihre Bluse zu, aber sie verzieh ihnen, denn eigentlich freute sie sich über diese unschuldigen Spielchen, die sie in ihren Lockmitteln bestätigten. War es nicht das Natürlichste der Welt, wenn das reife Alter von der Jugend, die Hässlichkeit von der Schönheit ergriffen war. Den Zudringlichsten ging sie dennoch aus dem Weg, wie dem Alten mit den riesigen Ohren, der sich trotz der Ohrfeigen seiner Enkelin, übrigens ihrer besten Freundin seit der Grundschule, durch die Hose sein Geschlecht rieb, sobald sie in seine Nähe kam.
Gary trank seinen Kaffee aus, als Lynn kam, und Thomas zappelte hinter seinem Tresen; die Friseurin war zum Anbeißen und ebenfalls bester Stimmung, denn am Abend hatte sie ein Rendezvous mit ihrem geheimen Liebhaber. Lynn begrüßte Thomas über den Bartresen hinweg mit zwei Küsschen auf die Wangen und lachte, weil sie neben seinem Bart ein wenig Lippenstift hinterlassen hatte, den sie rasch mit dem Finger wegwischte. Das Ganze versetzte den Gastwirt in eine überwältigende Erregung, die er hinter seinem Tresen mehr schlecht als recht verbarg. Lynn grüßte Gary respektvoll, ihn kannte sie weniger gut. Thomas schaffte es, sich zu artikulieren, und fragte Lynn, ob sie einen Kaffee wolle, bevor sie ans Werk ginge. Sie bejahte und zog aus ihrem grauen Metallköfferchen eine Überraschung hervor: Wie jedes Jahr zu Weihnachten hatte sie für ihre Kunden einen Kalender auf einen gefalzten Karton drucken lassen, den man bequem auf den Schreibtisch oder in ein Regal stellen konnte. Die Abbildung zeigte eine traditionelle Barke aus dem Marais Poitevin, »Plate« genannt, und einen im Stehen stakenden Mann auf einem von Wasserlinsen bedeckten, von Bäumen gesäumten Kanal – dass es seit Jahren keine Wasserlinsen mehr im Marais gab, eine Folge der Umweltverschmutzung oder des Klimawandels, wie man vermutete, kümmerte Lynn wenig. Unter dem in goldener Schreibschrift aufgedruckten Namen der Absenderin, Lynn Guérineau, konnte man ihre Firmenbezeichnung lesen, Kosmetikerin – Friseurin, spezialisiert auf Hausbesuche, darunter ihre Telefonnummer. Sie verteilte ein Exemplar als kleines vorweihnachtliches Geschenk an jeden; Gary bedankte sich also herzlich mit der festen Absicht, den Kalender in einer Schublade verschwinden zu lassen, trank seinen Kaffee aus, legte eine Münze auf den Tresen und überließ den Wirt seinen Geschäften, der sich bereit machte, Lynn im Hinterzimmer sein dichtes Haar zum Opfer zu bringen. Lynn hatte wenige männliche Kunden; die Männer zogen es vor (sie wagte nicht zu sagen, »zum Glück«), sich entweder in die Hände der Friseure in den Einkaufszentren oder in die ihrer Ehefrauen zu begeben, die sie, bewaffnet mit einer Haarschneidemaschine oder einer Schere, schonungslos kurz schoren. Lynn gefiel es, ihren Beruf auf dem Land auszuüben, sie war gern unterwegs, gern in den Dörfern; sie freute sich über jeden Rehbock, der ihr irgendwo am Waldrand begegnete, und über jedes Kaninchen, das sie über ein Feld hoppeln sah; sie liebte es, nachts einen Igel beim Wühlen zu überraschen und im Morgengrauen Weißfische in der Sèvre zu entdecken. Wenn sie in Niort zwei Schritte von ihrem Haus entfernt auf dem Treidelweg hinter der alten Lederfabrik im Viertel der Gemüsegärten und Mühlen spazieren ging, zwischen zwei Inseln, zwei Mauern aus Bruchstein und zwei Trauerweiden, wo die Stadt zunächst ein wenig ins Land ausfranste, bis sie sich gänzlich in den Wasserläufen des Marais verlor, erfreute sie sich an dem fortwährenden Wandel der Natur, hatte das Gefühl, Teil der lärmenden Illusion der Welt zu sein: Sie liebte diesen Ort für seine Unbeständigkeit und Unbestimmtheit, diese säuselnde Unentschlossenheit zwischen dem Schönen und dem Gemeinen; sie liebte es, wie diese Stadt in den umliegenden Landstrichen aufging, durch die sie von morgens bis abends in ihrem Renault Mégane kurvte, Sainte-Pezenne, Saint-Maxire, Saint-Florent, Saint-Liguaire, Saint-Maixent, Saint-Rémy, Saint-Pompain, Saint-Pardoux, Saint-Christophe, Saint-Symphorien, Sainte-Macrine, eine lange Kette von Wundern, die in ihrem Geist ein schönes geographisches Gedicht bildeten, das große Reliquiar der Landkarte, den Gesang des GPS, und selbst wenn man keine Ahnung von den verborgenen Geschichten hinter diesen Namen hatte, konnte man sich dem Offenkundigen nicht verschließen: Die Gegend war voller Heiligenlegenden. Mehr noch als die über das Poitou verstreuten romanischen Kirchen waren es die Namen dieser heiligen Frauen und Männer, die das Poitou mit einem Konfettiregen an Phonemen segneten. Für Lynn bildeten diese Ortsnamen einen offenen Reigen, eine lange Kaskade von Abzählversen, Taillepié, Pied-de-Fond, Fond, Fonderie, Riz, Riveau, Veau, Volière und so weiter. Lynn liebte Niort (auch wenn es ihr, wie man zugeben muss, an Vergleichsmöglichkeiten fehlte, da sie nie woanders gelebt hatte), sie liebte Niort für seine sanfte Landschaft, sein Klima und aus anderen, geheimnisvolleren Gründen, die sie und das Tourismusbüro »Lebensqualität« nannten. Coulonges-sur-l’Autize war die nördliche Grenze ihres Aktionsradius – der Bauernhof von Max lag gefährlich nahe an der Grenze zur Vendée, die man besser nicht versehentlich überquerte, denn die Schilder wiesen dann nur auf die wundersamen kleinen Städte der Chouans hin, wie Fontenay-le-Comte oder Maillezais, und man verfuhr sich fast jedes Mal.
Draußen schneite es noch immer; Gary dachte, dass der Schnee gut für die Böden sei, dass er häufig ein warmes Frühjahr und gute Ernten bedeutete. Er wusste nicht mehr, ob dieser Gedanke wissenschaftlich begründet war oder zu den Bauernweisheiten zählte, aber das war ihm egal. Gary liebte seine Tätigkeit leidenschaftlich. Er hatte nicht den Eindruck, einen Beruf auszuüben, so sehr war er seit seiner Kindheit in diesem Beruf aufgegangen. Natürlich hatte er als Jugendlicher auch Wünsche gehabt, von Abenteuern geträumt, von der Fliegerei, wunderbaren Jagdvergnügen, Safaris in fernen Ländern und wilden Tieren, aber er hatte sie ohne jedes Bedauern vergessen; geblieben war nur ein vages Interesse an dokumentarischen Tierfilmen und dem Programm eines auf Exotik spezialisierten Satellitenfernsehsenders. Gary hatte nie darauf bestanden, dass seine Kinder seinen Weg einschlugen. Er wusste, dass seine Lebensweise, seine und die seiner Eltern, im Begriff war zu verschwinden, dass die Zeit die Gebräuche und die Landschaften für immer veränderte. Nicht dass er deswegen nostalgisch gewesen wäre, aber manchmal, wenn er wie an diesem Morgen entlang der Hecken zwischen den winterkahlen Feldern über die Ebene ging, empfand er stärker, wie rettungslos verloren alles war.
Gary fröstelte und schüttelte sich, das verjagte die dunklen Gedanken; er zog seine Mütze tief in die Stirn und beeilte sich, nach Hause zu kommen, bevor der Schneesturm weiter zunahm und er sich in einen Schneemann verwandelte.
*
Abbé Largeau, der letzte Priester, der noch im Dorf gewohnt hatte, wusste natürlich nicht, dass er als Wildschein wiedergeboren würde, und ebenso wenig wusste er, dass er davor ein Frosch, ein Rabe, ein Fährmann und vieles andere gewesen war; er glaubte ans Paradies und an die Hölle, an Gärten der toten Seelen, wo sie auf die Wiederauferstehung der Körper warteten, während sie irgendwie, vergnügt oder unter Schmerzen, beschäftigt waren, doch man weiß nicht, ob der alte Pfarrer wirklich von der Existenz des Paradieses und der Hölle überzeugt war oder ob er sie als gegeben hinnahm, als einen Teil des Ganzen zusammen mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, denn aus der unbestimmten Angst vor dem göttlichen Zorn hatte er den Verstand seit seiner Kindheit für den Glauben aufgegeben. Er war ungefähr dreißig Kilometer entfernt mitten in den Sümpfen geboren, im großen, feuchten und dunklen Haus einer Viehzüchterfamilie. Jedes Frühjahr fuhr sein Vater die Kühe mit der Barke auf die Weiden, und in Largeaus Erinnerung stand er aufrecht im Heck und stieß mit einer langen Stange das Boot vorwärts, das tief im Wasser lag unter dem Gewicht einer alten Milchkuh, die, seit jeher an diese Fahrt gewöhnt, reglos, unerschütterlich die Bäume an sich vorüberziehen sah. Pater Largeau hatte selbst an manchen Sommerabenden das Boot gewriggt, um Kühe auf den von Wasser umgebenen Feldern zu melken, war schwer beladen mit den Milchkannen zurückgekehrt und hatte aufgepasst, dass er nicht durch ein zu hartes Anlegemanöver etwas verschüttete. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er allein ein Boot durch die Kanäle und Rigolen steuerte, eine Barke, die ihm riesig erschien und auf der er sich, Gott möge ihm verzeihen, wie der König der Welt vorkam. Seine christliche Erziehung und seinen unerschütterlichen Glauben verdankte er seiner Mutter und einem Priester aus Damvix, der die Dorfschule unter seiner Fuchtel hatte, denn der Katholizismus war in der geheimnisvollen Vendée mehr noch als in den umliegenden Départements so felsenfest wie ein Kalvarienberg aus Granit. Abbé Largeau war Chorknabe gewesen und hatte sich für die Katechese begeistert, er schwärmte für die Erzählungen, die Parabeln, die Schriften, die Märtyrer, die Heiligenbilder, und trotz der Vorbehalte seines Vaters, der insgeheim befürchtete, dass man mit der ganzen Bigotterie aus dem Knaben eine Schwuchtel machen würde, es aber nicht wagte, sich gleichzeitig gegen seine Frau, den Pfarrer und Gott zu stellen, hatte er zuerst das Ordensinternat und dann das Priesterseminar in Poitiers besucht, wo er am Johannistag 1962 im Alter von fünfundzwanzig Jahren zum Priester geweiht wurde. Abbé Largeau hatte ein gutes Gedächtnis, eine einnehmende Art und kannte sich in der Heiligen Schrift aus; während der Messe erlaubte er sich bisweilen die Sünde des Hochmuts, rezitierte das Evangelium aus dem Kopf, anstatt es abzulesen, und sah dabei den Gläubigen in die Augen. Er hätte vielleicht eine geistliche Karriere anstreben können, eine Kathedrale, also Krummstab und Amethyst – doch er hatte nicht den geringsten Ehrgeiz. Sein einziges Begehren war es, sein Plätzchen zu finden, wie er es nannte, und so kam es, dass er sich in einem schönen romanischen Pfarrhaus niederließ, das an eine Kirche aus derselben Epoche angebaut war, in jenem Dorf im Département Deux-Sèvres, das wir inzwischen kennen und wo er fast fünfzig Jahre später sterben sollte, bevor er im Körper eines Wildschweins in den Hochwald zurückkehren würde, eines Wildschweins, das, nachdem es das Gerippe eines Eichhörnchens abgenagt hatte, im kalten und nassen Schnee herumzutollen begann. Es glaubte, zum ersten Mal Schnee zu sehen, denn es wusste nicht, dass es jahrelang auf eine ganz andere Weise, nämlich auf zwei Beinen, kreuz und quer durch die Gegend marschiert war; es ahnte nicht, dass es 1954 den Sumpf zugefroren erlebt hatte und damals über die Wasserläufe hätte gehen können, ohne sich die Füße nass zu machen; es wusste nicht, wie Schnecken und Aale schmecken, es kannte weder den Duft des Weihrauchs noch die Beschaffenheit der Hostie, wenn man sie, weiß und glatt wie Schnee, dem Ziborium entnimmt, und noch weniger kannte es die Harmonie der liturgischen Gesänge und die Ergriffenheit, die dem Priester beim Hören jedes Mal die Brust zugeschnürt hatte wie am ersten Tag. Seine Kirchengemeinde war winzig, aber sie genügte ihm. Largeau hatte die meisten Personen dieser Geschichte getauft und getraut, er hatte sie als Kind erlebt, von vielen hatte er die Eltern beigesetzt und sie beim Gedenken an die Verblichenen, die er alle bei ihren Vornamen nannte, zum Weinen gebracht; er hatte der siebenjährigen Mathilde die Monstranz gezeigt; er hatte Gary und Thomas mitten aus dem Schulunterricht geholt, wenn er sie als Messdiener für die Krankensalbung von Sterbenden brauchte: Der Lehrer gab ihnen immer mit einem ernsten Kopfnicken schulfrei, ohne nach der Vereinbarkeit dieses Dispenses mit dem republikanischen Dogma zu fragen; Largeau kassierte Pfarrgebühren, als diese Praxis noch üblich war, und nahm gern Geschenke entgegen, zu trinken, zu essen und Groschen für seine Kirche, deren Tür er nie abschloss, auch wenn sich nie jemand dorthin flüchtete, um der Kälte oder den Gendarmen zu entkommen. Er hatte Mitgefühl mit den Gehängten und setzte sie bei, was ihm die Wertschätzung der Totengräber mit den Trauermienen einbrachte; er ermutigte die Eltern, ihren Nachwuchs zum Lernen anzuhalten, aufs Gymnasium oder sogar auf die Universität zu schicken; er liebte die Gläubigen, vergab den Säufern und beruhigte ihre Frauen, kurz, er erfüllte reichlich alle Pflichten seines Amtes. Er wäre ein Heiliger gewesen, hätte er Wunder vollbracht und nicht so oft das Lebensmittel-Angler-Café besucht unter dem Vorwand, seine Schäflein zur Umkehr zu bewegen, wäre er öfter nüchtern geblieben und vor allem nicht einer verzehrenden Leidenschaft für das Mysterium des weiblichen Körpers verfallen. Und zwar dem aller Frauen und nicht nur dem der Heiligen Jungfrau, darin lag seine Tragödie; das rotglühende Eisen des Keuschheitsgelübdes brannte seit der Übernahme des Priesteramts in ihm, da er jedoch fromm und respektvoll war, hatte er nie, aber auch gar nie seiner Wollust gefrönt. Largeau glaubte, dass diese verzehrende Neugier mit der Zeit nachlassen und verschwinden würde, wie ihm sein Beichtvater versichert hatte, an dessen Rat, Kraft im Gebet zu suchen, er sich hielt; dem Sohn des Marais trat dennoch oft und ungewollt der einzige weibliche Körper vor Augen, den er jemals nackt gesehen hatte, natürlich nicht der seiner Mutter, sondern der einer Filmschauspielerin aus einer Zeitschrift, die ihm ein Schulkamerad im Ordensinternat unter die Nase gehalten und die er sofort beiseitegeschoben hatte, als wäre ihm Satan persönlich erschienen – die prallen Brüste des Starletts und der Ansatz des Schamhügels, der zwischen ihren zusammengepressten Schenkeln hervorstach, verfolgten ihn viele Jahre trotz aller Anstrengungen, sie zu verscheuchen, und nachts, wenn Satan rief, musste er lange, sehr lange in der Einsamkeit seines Pfarrhauses beten, bevor er einschlafen konnte. Er musste den Fernseher durch ein Radio ersetzen, um den Bildern zu entkommen; er konnte die Versandhauskataloge nicht aufschlagen, die ihm regelmäßig ins Haus schneiten, ohne nicht auf viele, viele Seiten mit halbnackten jungen Frauen zu stoßen; so unterwarf er sich einem eisernen Gesetz, und es gelang ihm, das Laster, den Teufel, von sich fernzuhalten. Er strengte sich an zu vergessen, dass der Dämon ihn schon in seiner Kindheit in Gestalt eines Priesters liebkost hatte, der zärtlicher war, als es hätte sein dürfen, einer Soutane, die rauer war als nötig, eines Geruchs, der unbändiger, wilder war als der eines Tümpels in der Nacht; es war eine so überwältigende und so verworrene Erinnerung (eine Mischung aus Erinnern und Begehren), dass nur seine klebrigsten Träume, seine unheilvollsten Alpträume dieses Erlebnis hervorkehren und es wiederbeleben konnten, ohne dass ihm irgendetwas davon, der Atem der verhüllten Gewalt und das vernichtende Keuchen des ungewollten Ergusses, wirklich vorgekommen wäre – Largeau hätte schlimmste Nöte gehabt, hätte er jemandem erzählen sollen, was er seit so langer Zeit nicht zu wissen vorgab, so wie er es nie über sich gebracht hätte, selbst wenn er es gewollt hätte, einem vor Angst und Überraschung erstarrten Jungen, so jung, wie er selbst damals gewesen war, bei einer schrecklichen Teufelsmesse zu nahe zu kommen, und solche Anzüglichkeiten – manchmal hörte er davon im Radio, von anderen Priestern, anderen Orten – entfachten einen heftigen Zorn in ihm gegen das leichtfertige Gerede, jenes profane Geschwätz, das alle Anstrengungen Richtung Heiligkeit beschmutzte, den Glauben mit ruchlosen Behauptungen befleckte und die göttliche Bassstimme mit schrillem Getöse erstickte. Alles war beschmutzt, besudelt, und trotz des Durcheinanders in seinem Gedächtnis sah Largeau, wenn er die Felder entlangging, vorbei an Schlehen, Hagebutten und Ebereschen, in denen die Vögel schwirrten, oder unter Eschen und Feldahorn durch das Wäldchen an der Straße nach La Pierre-Saint-Christophe, und wenn auf dem Chemin des Ajasses das Kruzifix senkrecht zwischen den beiden Eichen bei Les Bordes aufragte und plötzlich Christus – der Lebensbaum, die einzige menschliche Gestalt – in der Einsamkeit der Felder erschien und sein Blick beruhigend auf den Spaziergänger fiel, sah Largeau, der trotz der vielen Jahre noch immer für die Erscheinung des Herrn im Alltag empfänglich war, mehr als bei der Messe, mehr als beim Gebet, einen Hoffnungsschimmer, sah er eine Sekunde lang das flüchtige Licht des Heils, und für einen Augenblick war Gott dieser unsichtbare Hügel, dieses leichte, kaum wahrzunehmende Wogen der Felder, bis es sich immer wieder den Augen des Wanderers entzog.
Jahre später, als Mathilde regelmäßig in die Sakristei kam, als sie sich fromm ergeben um ihn, seine Mahlzeiten und seinen Haushalt kümmerte und Largeau dachte, durch sein Alter sei er seine heimliche Drangsal endlich los, kehrte der Böse stärker denn je zurück, aber in gänzlich anderer Form. Largeau betrachtete Mathilde, er liebkoste sie mit den Augen, er kannte den Schönheitsfleck auf ihrem Unterarm, hörte das Reiben der Strümpfe an ihrem Rock, sah die Form ihrer Brüste unter ihrem Pullover, und sobald sie gegangen war, goss er sich einen großen Schluck Schnaps ein und betete, damit es vorbeiging, Vater unser im Himmel. Doch der Alkohol half ihm nicht, seine Lüsternheit loszuwerden, im Gegenteil, aber er half ihm, in einen Schlaf zu fallen, den er für traumlos hielt, so sehr verkannte er am nächsten Morgen wieder die Streiche, die seine mächtige Begierde ihm spielte. Eng umschlungen tanzten Schuld und Fleisch in den Fetzen der entstellten Realität, aus der die Träume aufsteigen; Largeau wusste nichts von den nächtlichen Reisen, Hexensabbaten, Teufelstänzen, an denen seine Seele teilnahm, nichts von den Böcken und Drachen, auf denen sie bis in die vom Mondlicht umstrahlten Wolken hineingeritten war. Der Priester hätte dort Menschen aus seiner Kindheit wiedererkannt und, hinter zahllosen Masken, das ewige Antlitz des Feindes, welchen Namen auch immer man ihm gibt, welche Züge auch immer man ihm verleiht.
Nachts schwamm Largeau in dieser dunklen Materie, und tagsüber rang er mit dem Begehren und den Schuldgefühlen. Das Vergessen kam während der Gottesdienste und der Feiern, sobald er in die weiße Albe und das Messgewand schlüpfte oder während er, allein oder vor Publikum, aus der Heiligen Schrift las, Simon Petrus antwortete ihm: »Du bist der Messias!« (…) Dann begann er, sie darüber zu belehren, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten abgelehnt werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen wieder auferstehen, er nannte den Namen des Herrn, und alles war gesagt.
Mathilde spürte die Bedrängnis des Priesters, und es stimmte sie traurig. Scharfsichtig, wie sie war, konnte sie sich Largeaus Qualen in den Fängen der Begierde vorstellen; sie brachte ihm eine so selbstlose Liebe, eine solche Verehrung entgegen, dass sie ihn, wäre es möglich gewesen, mit den Händen erleichtert hätte, wie man einem Kind hilft, sich zu erbrechen oder sich zu schnäuzen, aber Scham, Hochachtung und vor allem das, was sie als die Glaubensstärke Largeaus erkannte, hielten sie davon ab. Mathilde begriff dies; ihrer Empathie und Güte erschlossen sich die Leiden Pater Largeaus, und sie war bereit, sie zu teilen, auch wenn sie ihnen weder den Namen Satan noch Dämon noch Feind oder irgendetwas in der Art gab, sondern sie Körper und Bedürfnisse, Leidenschaften und, ja, sogar Versuchungen nannte: alles, was einen schwach macht. Mathilde fragte sich, warum katholische Priester nicht einfach verheiratet sein konnten, so wie orthodoxe und protestantische, die zwar Ungläubige waren, aber doch Christen. Nie hatte Mathilde so bedrückende Blicke auf sich gespürt, nie war sie sich ihres eigenen Körpers so bewusst gewesen wie unter den Blicken Largeaus: Wie eine Kontur nur durch die Tinte des Stifts erscheint, der sie zeichnet, nahm Mathilde ihren Busen, ihre Schultern, ihre Beine wahr, wenn Largeau sie zum Leben erweckte, indem er sie eingehend musterte.
Im Alter von fünfundsechzig Jahren spürte Abbé Largeau seine Kräfte schwinden. Nicht die körperlichen, aber die spirituellen; er sprach darüber mit seinem Beichtvater, der ihm riet, sich in ein Kloster oder in ein Altenheim zurückzuziehen, kurz, in Rente zu gehen. Der Pfarrer tat weder das eine noch das andere. Tapfer kämpfte er in der Einsamkeit mit seinen Dämonen, wenngleich er weniger betete und sich immer mehr auf die Gläschen mit dem Zwetschgenwasser verließ, um abzustumpfen. Er verbrachte die Tage damit, auf Mathilde zu warten; er begrüßte sie mit den Worten, ach, meine kleine Mathilde, wie geht es uns heute, und Mathilde lächelte ihn an. Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß und sah unfehlbar das Bild der nackten Schauspielerin aus seiner Jugend wieder, vielleicht weil es eine gewisse Ähnlichkeit mit Mathildes Gesicht gab, dann wandte er den Blick ab und kippte sich einen weiteren Schluck Rotwein oder Schnaps hinter die Binde, manchmal sogar ohne zu warten, bis das Objekt seiner Begierde gegangen war. Danach schnappte er sich ein Stundenbuch oder die Heiligenlegenden und versuchte vergeblich, auf andere Gedanken zu kommen.
Er verlegte sich aufs Spazierengehen, marschierte durch die Natur und rief sich dabei die Heilige Schrift ins Gedächtnis, leistete den Krähen auf den Feldern Gesellschaft, begleitete die Stare, die in dunklen Spiralen zwischen den Wolken entschwanden, und wenn er durch die Obstwiesen am Flussufer kam, dachte er an das Wunder der Tempelquelle, die im Buch Ezechiel entspringt. So oft hatte er diese Stelle in der Kirche gelesen: Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können, und sehr viele Fische wird es geben. Weil dieses Wasser dort hinkommt, werden die Fluten gesund; wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben. (…) An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihr Laub wird nicht welken, und sie werden nie ohne Frucht sein. Jeden Monat tragen sie frische Früchte; denn das Wasser des Flusses kommt aus dem Heiligtum. Die Früchte werden als Speise und die Blätter als Heilmittel dienen. Er pflückte einige Blätter, die er kannte, für seinen Kräutertee. Nach einer Runde durchs Dorf kehrte er schließlich zurück und fragte sich jedes Mal, wie alles so schön den Schöpfer lobpreisen und zugleich ebenso sehr davon zeugen konnte, von Ihm verlassen worden zu sein. Zurück in seinem Pfarrhaus, ergab er sich in die anbrechende Nacht, die Einsamkeit und den Schnaps.
Gott blieb stumm und ließ ihn allein in seiner Prüfung.
*
Der Zigeuner schob seinen Hut nach hinten, lächelte und stieß einen fürchterlichen Fluch auf Serbisch zwischen den Zähnen hervor: Von den vier Sprachen, die er fließend sprach, war Serbisch das Idiom, in dem Gotteslästerungen und Beschimpfungen am schrecklichsten klangen, am bildhaftesten und am furchtbarsten waren, und wenn der junge, sehr französische Polizist gewusst hätte, was diese fremdartigen Klänge dem Leichnam seiner Mutter verhießen, hätte er den Zigeuner (Zigeuner, Zigan, Bohemien, Rom, Sinto: Aus Unwissenheit zögerte der Gendarm, was die korrekte Bezeichnung anging, all diese Leute waren sicher sehr verschieden, und dennoch glichen sie sich stark) zweifellos auf der Stelle mit rasender Wut und größtem Vergnügen verprügelt, doch vom Lächeln des jungen Mannes in die Irre geführt, beschränkte er sich darauf, seine Frage zu wiederholen, ein simples: Wo wollen Sie hin? Der Schupo hielt einen Schritt Abstand, man konnte nie wissen, er hatte schon einiges erlebt, was einem das Leben schwer macht; er erinnerte sich, wie ihm vor einigen Jahren eine besonders geschickte und dämonische Zigeunerin aus Chuzpe die Brieftasche stibitzt hatte, und von allen Völkern, mit denen er in seiner polizeilichen Laufbahn zu tun hatte, Franzosen, Italiener, Araber, Afrikaner und sogar Korsen, gab es keines, das so schwer einzuschätzen und so unergründlich war wie dieses, bei dem er immer unsicher war, wie er die Leute benennen sollte; nebulös war im Übrigen auch ihre Herkunft, ausweisen konnten sie sich nie. Für einen Gendarmen, der es gewohnt war, dass ein Mensch mindestens einer Nation mit dem dazugehörigen Territorium angehörte, jemand war, dessen Personalien man den entsprechenden Ausweispapieren (gültig oder nicht, aber das war ein anderes Problem) entnehmen konnte, stellten diese ungreifbaren, zerlumpten Typen die größte aller Gefahren dar, nämlich Verwirrung, so dass man zögerte (außer im Falle höherer Gewalt, das heißt im Falle eines anderen Vergehens als dem, einfach da zu sein), ihnen eine andere Frage zu stellen als die, die dem jungen Polizeimeister seine Erfahrung eingeflüstert hatte, wo wollen Sie denn hin?, klar verständlich für jeden erstbesten Verdächtigen. Der Zigeuner zögerte, eine noch treffendere Beleidigung zu wiederholen, so sehr war er die Spitzfindigkeiten der Gendarmerie gewohnt, aber er spürte, dass dieser junge Bulle ein Novize war und ängstlich darauf bedacht, unter den Augen seines Vorgesetzten alles richtig zu machen, drei Umstände, die Polypen unerbittlich machten. Er stammelte folglich, danke, danke, und zog sachte einen rumänischen Pass aus seiner grauen Jacke. Mit blasierter Miene und einem Kopfnicken bedeutete ihm der Gendarm, seinen Ausweis wieder einzustecken, bevor er seine Frage wiederholte, wo wollen Sie hin? Der Zigeuner empfand eine dumpfe Furcht und begann, unter seinem Hut zu schwitzen, was konnte der Typ von ihm wollen, er antwortete, Haus, Haus, denn er sprach kaum Französisch und bezweifelte, dass der Polizist Italienisch verstand. Der Uniformierte blickte sich zu seinem Vorgesetzten um, der ihm durch ein diskretes Zeichen zu verstehen gab, dass die Antwort ausreichend war; sie entließen den Zigeuner mit einem Dank, wünschten ihm einen schönen Tag und fröhliche Weihnachten und gingen wieder auf Streife rund um den Markt, den letzten vor den Feiertagen, der vor Betriebsamkeit brummte: Alle Gemüsebauern aus der Umgebung waren da, außerdem etliche Händler, die Aalfrikassee und Froschschenkel verkauften und die, falls zufällig jemand auf die Idee gekommen wäre, sie danach zu fragen, ebenfalls einen rumänischen Pass hatten; der verführerische Geruch nach Knoblauch und Frittiertem zog bis in die kleine Markthalle und vermischte sich dort mit den maritimen Gerüchen der Fischtheken, wo Krebse mit klaffenden Scheren und einige Hummer mit Schaum vor dem Maul neben gut geschlossenen Austern angeboten wurden, die, blind in ihren Schalen, noch nicht wussten, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten und bald, von einer Zitrone oder dem Schalotten-Essig verbrannt, in einem großen dunklen und sauren Schlund enden würden, aus dem man nicht mehr herauskommt. Hunderte, Tausende Seelen, an die niemand dachte, warteten dort auf den Kühltischen auf Eis oder in Körben darauf, von einem Abgrund verschlungen und in der einen oder anderen Form immer aufs Neue wiedergeboren zu werden, ohne dass die Fischverkäuferin, die die Schalen- und Krustentiere mit vollen Händen packte, um sie in eine Tüte zu stecken, oder die Bäuerin, die das lebende Kaninchen an den Ohren aus seinem Käfig zog, den geringsten Gedanken an diese Geschöpfe verschwendete, weder an sie noch an die, die sie einst gewesen waren, Mensch, Insekt oder Vogel. Auch die beiden Gendarmen dachten nicht daran, sie patrouillierten, wie es so schön heißt: Der Polizeihauptmeister entdeckte Lucie hinter ihrem Obst-und-Gemüse-Stand und sagte mit leiser Stimme zu seinem Untergebenen, die da kennen wir, was der andere damit quittierte, dass er zustimmend die Mundwinkel verzog, obwohl er natürlich keine Ahnung hatte, worum es ging; ein stummer Wink mit den Augen verriet ihm, dass der Imker an seinem Honigstand ein Freund der Obst-und-Gemüse-Bäuerin war und ebenfalls schon mit der Polizei zu tun hatte. Die beiden Inspektoren blieben stehen, um den Stand eines Gürtel-und-Taschen-Händlers in einer Nebenstraße in Augenschein zu nehmen, ohne den jungen Ethnologen David Mazon zu beachten, der dort erfolglos nach einem Weihnachtsgeschenk für seine Liebste suchte.
Der Zigeuner hatte den beiden Uniformierten hinterhergesehen, um sicherzugehen, dass sie ihm nicht mehr nachstellten, und als sie sich seiner Einschätzung nach weit genug entfernt hatten, zog er den Zettel aus seinem Hut, auf den eine barmherzige Seele Mittellos, sechs kleine Kinder, bitte helfen Sie mir geschrieben hatte. Er hatte nur drei Gören, und alle drei waren nicht mehr ganz so klein, aber er fand, ziemlich naiv übrigens, diese kleine Übertreibung würde ihm sogar die Sympathien der Marktbesucher einbringen. Er mischte sich also unter die Kunden, den Hut in seiner linken Hand wie eine Almosenschale, in der rechten den Karton, und begann zu betteln; die Frauen wünschten ihn mit einer abschätzigen Geste zum Teufel, während sie mit dem Unterarm ihre Körbe bedeckten aus Angst, der Ali könnte ihnen einen Salat oder einen Rettich stibitzen, so dass er genau dazu allergrößte Lust bekam; er zwang sich zu einem Lächeln und richtete ein Danke an die, die ihm nichts gaben; ein schalkhafter Gemüsebauer fand es amüsant, ihm eine Riesenkarotte zu schenken, sperriger ging es nicht, aber er bedankte sich überschwänglich und stopfte sie in seine Jackentasche. Eine halbe Stunde später hatte er einen Euro und fünfundsiebzig Cent, eine Karotte und zwei Äpfel gesammelt, nicht übel für einen Weihnachtsmarkt. Er gab sich nicht geschlagen und drehte ein paar Runden durch die Nebenstraßen, wo an den Ständen Gebrauchsgüter aller Art verkauft wurden, er begegnete David Mazon, der ihm einen Euro dazugab und aus professioneller Neugier versucht war, den Bettler zu fragen, woher er komme und wie er hierhergelangt sei, aber davon absah, weil er befürchtete, den Rom zu erschrecken oder zu verärgern; der Zigeuner dankte ihm und ging weiter, bis die Gendarmerie, wirklich hartnäckig, erneut an der Straßenecke auftauchte. Seufzend setzte er seinen Hut auf und entschied, dass es für diesen Vormittag reichte, es waren zwar nur drei Euro, zwei Äpfel und eine Karotte, aber er hatte keine Lust, ins Kittchen zu wandern. Seit man ihn bei einem Pogrom aus einem provisorischen Flüchtlingslager vor den Toren Mailands verjagt hatte, wo seine Kinder in die Schule gegangen waren, war er durch viele trostlose Gegenden gekommen; mit fünf anderen Familien hatte man ihn aus einem Außenbezirk von Lyon vertrieben, wo er nach einer Alpenüberquerung mit kurzem Aufenthalt in Grenoble gestrandet war; dann hatte er sich nach Paris gewandt, war in den Norden gekommen, bevor er von einer wenig gastfreundlichen Stadt im Département Seine-Saint-Denis, wo er unter prekären Verhältnissen auf einem Brachgelände logierte, manu militari in den Süden zurückgeschickt worden war – aufgewachsen war er in Serbien nahe des Werschatzer Kanals bei Vršac, nur einen Katzensprung entfernt von der rumänischen Grenze; er hatte einige Zeit in der Umgebung von Belgrad gelebt, dann bei Timișoara, bis der Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union ihn dazu bewegte, zusammen mit fünfzehn anderen Familien die Reise nach Westen anzutreten. Bei ihrer Abreise hatte er sich nicht vorgestellt, dass er am Ende so weit im Westen landen, ihn nur noch ein Sumpf vom Atlantik trennen würde. Er hatte Segregation, Rassismus und Gewalt erlebt, doch trotz des Diensteifers der Gendarmerie und der Feindseligkeit der örtlichen Bevölkerung hatte er sich letztendlich mit dieser Region angefreundet, die so flach war wie sein Handrücken und die ihn an die Vojvodina erinnerte, auch wenn die Sèvre nicht gerade der Donau glich. In seinen früheren Leben war der Zigeuner ein Pferd, eine Frau und ein Adler gewesen, ein Adler, der über den Bergen zwischen Griechenland und Albanien flog, wovon er nichts mehr wusste außer manchmal in seinen allertiefsten Träumen, wenn fabelhafte Steilwände auftauchten, über die er segelte, und zitternde, am Boden gerissene Nager, deren Blut den schneidend scharfen Schnabel füllte, bevor sie hoch oben unter den Gipfeln im Schutz zweier Felsen von hungrigen Jungvögeln in Stücke gerissen wurden. Solche Bilder – der Geburtsschmerz, dann die Freude bei der Ankunft des Kindes, der Galopp durch das duftende Heu, das Segeln in hohen Lüften im Aufwind vor der sommerheißen Felswand – verwirrten ihn nach dem Aufwachen noch eine Weile und verschwanden dann, wie bei allen, außer bei den Verrückten und den Erleuchteten.
David Mazon, der Ethnologe des Landlebens, befand sich in diesem Moment mitten in einer längeren Unterhaltung mit Lucie, die hinter ihrem Gemüsetisch stand, auf dem recht wenig zum Verkauf auslag, es war Ende Dezember, und die Jahreszeit gab abgesehen von Mangold, Navetten, Karotten, Kartoffeln, Kohl, ein paar Salatköpfen und Lauch nicht viel her. Trotzdem war die Kundschaft an diesem Vormittag zahlreich und kaufte die Beilagen für ihre Poularden, Perlhühner und Kapaune zum Weihnachtsfest. Lucie bot auch weiße Champignons an oder vielmehr weiße Egerlinge, die sogenannten »Pariser Champignons«, weil sie einst in den Katakomben auf den Gebeinen der Toten wuchsen (Lucie karrte dutzendweise Sperrholzkisten voller Mist und Myzelien aus der Nähe von Saumur an, die aus den vom Wasser und von der Zeit tief in die Kreidefelsen gegrabenen Höhlenlabyrinthen am Ufer der Loire herausgerissen waren), dazu Zwiebeln, schönen, rosafarbenen Knoblauch in Zöpfen und Küchenkräuter (einige Thymianzweige zwischen zwei Lorbeerblättern, die mit einem hübschen farbigen Wollfaden zu einem Sträußchen gebunden waren, dessen Preis – Lucie war die Erste, die das erkannt hatte – aufs Kilogramm gerechnet den der weißen Trüffel aus Alba in den Schatten stellte, beinahe jedenfalls). David spürte schnell, dass er Lucie an ihrem Verkaufsstand nicht länger mit seinen Fragen zum Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden beim Gemüseanbau aufhalten durfte, denn die Kunden hinter ihm wurden ungeduldig, und die Marktfrau zeigte ihre zunehmende Verärgerung, indem sie mit den Fingern auf den Papiertüten herumklopfte, in die sie die Einkäufe ihrer Kunden packte. Lucie hatte eine Waage, die auch als Registrierkasse diente, wog, rechnete, addierte und einen Kassenzettel ausdruckte, auf dem außer dem Gewicht und dem Preis der Waren auch ein kleiner freundschaftlicher Gruß stand, HÊTRE ÉTANG wünscht Ihnen zum Jahresende fröhliche Feiertage. Aber außer David Mazon mit seinem an der Wissenschaft geschulten Scharfsinn bemerkte kaum ein Kunde das seltsame Wortspiel mit dem Namen ihres Landwirtschaftsbetriebs, den Gleichklag mit Être et temps, Sein und Zeit. Der junge Agrarsoziologe beendete also nicht ohne Bedauern seine Unterhaltung mit Lucie, verzichtete aufgrund seiner kulinarischen Inkompetenz nach kurzem Zögern darauf, ein wenig Gemüse bei ihr zu kaufen, obwohl es viel gesünder gewesen wäre als die Tiefkühlpizzen und die Heinz™-Baked-Beans, die er in Unmengen konsumierte, und setzte seinen Gang über den Markt fort. Er liebte die kleine Backsteinhalle und die Stahlträger, den stolzen Steingiebel, an dem eine Uhr prangte, groß und rund wie eine Bahnhofsuhr, und wo noch die Schiefertafel thronte, laut der für den Verkauf eines kleinen Korbs Eier eine Gebühr von 20 Centimes fällig war, ebenso für Amseln, Drosseln oder Lerchen, während ein Zicklein eine Abgabe von einem Franc erforderte: David Mazon wunderte sich, dass man Amseln und Lerchen verkaufen (das heißt zweifellos auch essen) konnte, warum dann nicht Raben oder Stare, und er wäre sehr erstaunt gewesen zu erfahren, dass dieses Geflügel, sobald es gerupft und mariniert ist, zur Bestückung von Spießen und zur Herstellung von Pasteten im Teigmantel absolut taugt.
*
Als Lucies Großvater im Alter von dreizehn Jahren seinen Vater an einem Balken hängend in der Scheune fand, die Augen nach oben verdreht, mit gebrochenem Genick, blau angelaufenem Gesicht, steifen Armen und abgespreizten Fingern, war er gelähmt vor Entsetzen und Schmerz, er konnte nicht schreien, stand auf der Schwelle, unfähig, seinen Blick von diesem Leichnam in Levitation abzuwenden, ohne das Loch zu bemerken, das die Gendarmen und die Totengräber später amüsierte, das Loch in der linken Socke, aus dem rund einen Meter über den Holzpantinen, die ins Stroh gefallen waren, ein dicker, fleischiger und anklagend auf die Tür weisender großer Zeh hervorschaute. Lucies Großvater kam nicht wieder zur Besinnung, aber er fiel auch nicht in Ohnmacht oder rannte davon. Er blieb stehen, sein Kopf war leer, auf einen Schlag geleert von dem Schock, dem Schrecken, und später, nachdem die Gendarmen das Seil durchgeschnitten und die Totengräber betrunken ihre Arbeit verrichtet hatten, hatte er keine Erinnerung mehr an diese Entdeckung und den Anblick, er wusste nicht mehr, wer den Rettungsdienst gerufen hatte, sein Gedächtnis weigerte sich einfach, diese Bilder festzuhalten, und sein Verstand weigerte sich zu glauben, was alle wussten, dass er nämlich nicht der Sohn des beklagenswerten Jérémie Moreaus war, der sich erhängt hatte. Bei der Beerdigung weinte er viel, und die Anteilnahme an seinem Leid war groß; Largeaus geistlicher Vorgänger hatte kein Mitleid, er weigerte sich, die Totenmesse für den Selbstmörder abzuhalten, überließ den Leichnam den Totengräbern, und die armen Schlucker mit der Leichenbittermiene beeilten sich, ihn in der Ecke des Friedhofs unter die Erde zu bringen, wo schon seine Frau lag, hier ruht Jérémie Moreau, 1911–1945, weil sie weitertrinken und den Sieg standesgemäß feiern wollten, denn es war Mai, der Frühling war da, das Korn stand schon hoch, und die Deutschen waren besiegt. Die Teutonen hatten die Region schon vor mehreren Monaten geräumt und damit den spontanen Anschluss vieler junger Männer an die Streitkräfte des Inneren und die Résistance im Allgemeinen ausgelöst. Man nutzte die Gelegenheit, um einige Güter von Kollaborateuren zu plündern, ein paar hübsche Frauen zu vergewaltigen und mit Gewehren und einem weißen Band am Arm die Ebene ein wenig aufzumischen, mehr zum eigenen Amüsement, aber allmählich kehrte die Ordnung zurück, und mit ihr der Alltag. Der älteste der Chaigneaus kam aus der Gefangenschaft zurück und erfuhr vom Tod seines Bruders zwei Jahre zuvor; er heulte vor Wut und Scham, dann begab er sich zum Grab nach Niort, begleitet vom Briefträger Chaudanceau, mit dem er sich in den kleinen Bistros rund um den Markt die Hucke vollsoff. Zusammen dachten sie an Jérémie den Gehängten, ohne die Erinnerung zu vertiefen, als fürchteten sie, sein finsteres Schicksal könne auf irgendeine Weise auf sie abfärben, vor allem Chaigneau, der keinesfalls ein ruhiges Gewissen hatte und dem der gewaltsame Tod seines jüngeren Bruders bereits stark zusetzte; während er seine Gläschen leerte, psalmodierte er: mein Gott, mein Gott, mein Gott – eine andere Beschwörungsformel kannte er nicht. Als sie dann ordentlich betrunken waren, nahmen sie die Gelegenheit wahr, mit dem Lieferwagen des Metzgers Patarin ins Dorf zurückzufahren.
Lucies Großvater war also Waise; er machte sich daran, die Böden zu bestellen; seine Familie hegte einen heimlichen Groll gegen ihn, der nicht ohne Wirkung blieb. Der junge Mann wuchs mit Gefühlen der Verbitterung und Angst auf, ohne recht zu wissen, warum. Die Scheune, in der er seinen Vater mit dem Strick um den Hals entdeckt hatte, wurde verkauft, dann abgerissen; das Fehlen der Mutter war eine Wunde, die täglich aufs Neue aufriss, nur eine Heirat würde sie schließen, dachte er. Er ehelichte ein Mädchen namens Marie, von der man nichts weiß, außer dass sie zwei Kinder gebar, einen Jungen und ein Mädchen, und die nach einem eher trostlosen Leben ihre Reinkarnation in dem Hund hatte, den wir bereits kennen. Zwischenzeitlich bekam der Dorfschullehrer Marcel Gendreau, ein Liebhaber von Literatur und Dichtung, der ursprünglich aus Échiré stammte, also aus einer anderen, etwa fünfzehn Kilometer entfernten Welt, und der nach seinem Abschluss an der Pädagogischen Hochschule vor Kurzem seinen Dienst angetreten hatte, Wind von Louises Geschichte und dem schrecklichen Schicksal Jérémies, wie, ist nicht bekannt, aber unglückliche Geschichten finden immer Münder, die für Nachhall sorgen. Der Lehrer hörte also von dieser Geschichte, und auch er bedauerte den Jungen aufrichtig; er hatte Mitleid mit Louise und Jérémie, dem Erhängten mit dem Loch im Strumpf; unaufdringlich befragte er den überlebenden Bruder der Chaigneaus, der ihm bei einem, zwei oder mehreren Gläschen Weißwein seine Erinnerungen an die Ardennen anvertraute. Marcel Gendreau erkundigte sich auch bei den Gendarmen, die gesprächiger waren als die zwielichtigen Totengräber. Er befragte Pélagie, die er, anders als das übrige Dorf, nicht Hexe zu nennen wagte; sie erzählte ihm von ihrem eigenen Unglück, von der Gewalt, die sie erlitten hatte, verordnete ihm Kräuter, um seine schmerzenden Knie zu behandeln. Er sprach sogar mit dem Sohn von Louise, in dessen Haus er in einem kleinen, schwarzen Holzrahmen das Foto der Mutter mit ihrem runden Bauch sehen konnte, als diese mit seinem totgeborenen kleinen Bruder schwanger ging, wie der junge Mann sagte. Gendreau beschloss, die traurigen Abenteuer von Louise niederzuschreiben, die er für lehrreich hielt, war die Frau doch ein Opfer der Lüge und der Einfalt. Er hatte bereits 1948 ein paar Gedichte in einer inzwischen vergessenen Zeitschrift veröffentlicht; seine Liebe galt der Heimat und ihren Menschen. In seinem Buch beschreibt er die Landschaft, die Ernte, die Dampfdreschmaschinen, das Vieh, die Milchsammlung und die Molkereigenossenschaft; er beschreibt die geizigen und die verschwenderischen Bauern, die Klatschweiber und ihre Bosheit; er bemüht sich, die Animalität des Begehrens und die Last der Arbeit zu zeigen. Es ist verbürgt, dass er Stunden unter der Lampe verbrachte, um die richtigen Worte zu finden, die Gewohnheiten und Charaktere zu umreißen, zu Genauigkeit und Wahrheit zu gelangen, und ein Jahr später hatte er siebzig Seiten mit schöner, regelmäßiger Schrift gefüllt, ohne Streichungen, denn er hatte das Manuskript zweimal abgeschrieben. Marcel Gendreau hatte nicht die Absicht, die Veröffentlichung jemand anderem zu übertragen, sondern er ging nach Niort zum Drucker Chiron, der hundert prächtige Exemplare auf dickem und leicht cremefarbenem Vergé-Papier druckte, mit üppigen Stegen um den Satzspiegel und holzschnittartigen Kolumnentiteln. Der Typograph, der den Text setzte, war von der Geschichte zu Tränen gerührt und hinterließ einige Satzfehler, aber nichts Gravierendes; der Einband trug den Titel Natur verpflichtet … mit drei beunruhigenden Auslassungspunkten, dazu den Hinweis »Im Selbstverlag«. Marcel Gendreau gönnte sich ein Taxi, um die zehn gut verpackten Pakete stolz und bewegt zu sich ins Dorf zu bringen. Am nächsten Tag vertraute er die ersten drei Bücher dem Postboten Chaudanceau an: Eines ging aus Respekt vor der Obrigkeit und der Verwaltung an seinen Oberschulrat; eines an die Bibliothek von Niort, weil er wollte, dass jeder Zugang zu dieser Erzählung bekam, und eines an die Lokalzeitung, weil er in seinem Dünkel darauf hoffte, dass man das Buch einer Besprechung für würdig befinden würde. Dann trug er selbst je ein Exemplar mit ehrerbietiger Widmung zum Bürgermeister und zum Tierarzt und wartete ein wenig ängstlich, aber zufrieden, auf die Reaktionen.
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Als der sehr von sich überzeugte Anthropologe David Mazon angeekelt eine halbe Flasche Javelwasser über die roten Anneliden kippte, die sein Badezimmer bevölkerten, wusste er nicht, dass er damit die Seelen finsterer Mörder ins Lebensrad zurückschickte, Seite an Seite Marseil Sabourin, 1894 guillotiniert, der kleine Chaigneau, 1943 guillotiniert, dazu die erlauchten Henker Deibler und Desfourneaux, die sich alle mit ihren Gewalttaten mehrere Generationen währendes Leiden und blindes Umherkriechen in der Nässe eingehandelt hatten: Vom Bleichmittel verätzt, wurden sie unmittelbar nach ihrem Tod in derselben Lebensform wiedergeboren, was bei dem jungen Wissenschaftler am nächsten Morgen große Verwunderung hervorrief, als der still ächzende Chor dieser armseligen Wesen schon wieder da war; von den Mördern aus dem Ort hatte der eine seine Schwester umgebracht, der andere die Gendarmen, die ihn beim Wildern erwischt hatten, und nun krochen sie im fahlen Licht zusammen mit ihren Denunzianten, den Scharfrichtern und dem für ihre Verurteilung verantwortlichen Staatsanwalt in endlosem Schmerz herum, denn bisher hatte niemand Mitgefühl mit diesen Würmchen gezeigt, vor allem nicht die beiden Katzen, die David adoptiert hatte und die mit diskreter Selbstgefälligkeit beobachteten, wie er das Gift über das Gewürm leerte. Die Katzen leckten sich versiert die Pfoten, träumerisch, nicht wissend, dass sie zwei Jahre zuvor noch ein betrunkener Schriftsteller und eine fabulierende Schauspielerin gewesen waren, die bei einem Autounfall auf der nahen Nationalstraße gemeinsam ums Leben kamen, den sie seiner Trunkenheit und ihrer Zickigkeit verdankten – ihre Leichenteile waren mehr schlecht als recht von den Totengräbern eingesammelt worden, die den Namen der Schauspielerin kannten und bei diesem Anlass ihrer Schönheit und Jugend eine Träne nachweinten; den Kopf des Autors platzierten sie aus Rache verkehrt herum im Sarg, denn er war ihnen unbekannt und in ihren Augen nicht nur schuldig am Hinscheiden seiner Begleiterin und seiner selbst, sondern auch am Tod einer einheimischen Familie, die sich friedlich auf der Heimfahrt befunden hatte und gegen die er mit voller Wucht geprallt war.
Aus ihrer früheren Existenz hatten die Katzen den affektierten Gang und die müßiggängerische Nutzlosigkeit bewahrt, daher mussten sie um Nahrung betteln und für ein wenig Wärme um Davids Beine streichen, wie sie es einst bei Journalisten und Mäzenen getan hatten, aber anders, als der Ethnologe dachte, sahen sie ihn nur an, um in den Genuss eines Krokettenregens oder zu einem kuscheligen Plätzchen im Bett zu kommen, und missachteten souverän Davids sündiges Treiben vor der blau flimmernden Kiste, in der eine junge Frau im duftigen Negligé erschien, was die Nachtsicht der Katzen in keiner Weise beeinträchtigte.
Sobald er Mörder und Henker auf eine neue Runde in den Abgrund befördert hatte, schlüpfte David fröstelnd aus seinem Bademantel und duschte ausgiebig; unter dem brühheißen Wasser baute er hübsche Traumschlösser von Ruhm und Erfolgen, die ihn in zwanzig Jahren unweigerlich auf einen Lehrstuhl am Collège de France bringen würden und dann zu diversen Doktortiteln honoris causa (in erster Linie Oxford, Harvard und Chicago) und einem wohlverdienten Nobelpreis, dem ersten, der an einen Anthropologen verliehen würde, außerdem würde man ihn in die Académie française aufnehmen, natürlich erhielte er den Sitz von Claude Lévi-Strauss, der einzige Stuhl, der in seinen Augen für den vermessenen jungen Anwärter in Frage kam. Er war glücklich und lächelte, als er aus dem warmen Dampf des Badezimmers trat, zog sich an und machte sich unverdrossen an die Arbeit, bis er gute zehn Minuten später pfiff und schnaubte, als er sich auf einigen naturwissenschaftlichen Websites tummelte; ihn interessierte die abartige Sexualität der Gasteropoden, die Fortpflanzung der Wirbellosen, besonders der Regenwürmer; er mied vorsorglich die Pornoseiten, begann, stolz auf seine moralische Stärke, eine virtuelle Unterhaltung mit seinen irgendwo im kybernetischen Äther verlorenen Doktorandenkollegen und kehrte ein wenig deprimiert aus diesem telematischen Busch zurück, wie immer mit dem Eindruck, die anderen seien weiter als er, entschlossener und würden daher vor ihm die Ziellinie im Rennen um die Doktorwürde passieren, ein Wettstreit, der ihn lähmte, statt ihn zu stimulieren. Vergeblich versuchte er, wieder zu seinen Schäfchen zurückzukehren, aber er verlor sich in der lasziven Betrachtung des Fotos seiner Angebeteten auf dem Schreibtisch, die er leidenschaftlich zu lieben glaubte, weil er sie leidenschaftlich begehrte, dann stand er auf, um die Katzen zu streicheln und ihnen Trockenfutter zu geben, warf einen Blick auf die Außentemperatur, schrieb einige Zeilen in sein Feldtagebuch, drehte eine Runde im Zimmer, erstellte schnell eine Liste seiner Essensvorräte, sah erneut auf das Thermometer und ging hinaus.
Tänzerisch schwang er sich auf das alte weiße Peugeot-103-Mofa, trat minutenlang vornübergebeugt auf dem Ständer stehend in die Pedale, ohne dass es ansprang, kratzte sich am Kopf und kehrte ratlos in seine Wohnung zurück, bevor er wieder hinausging, um das Mofa bis in den Eingang zu schieben.
David Mazon war ein dunkler Typ, ziemlich groß und schlank, mit fast schwarzen Augen, die er auf die Herkunft seiner Familie väterlicherseits aus dem Vaucluse zurückführte, wenngleich er das Vaucluse kaum kannte. Seine Ankunft im Dorf blieb nicht ohne Gerede und Fragen; man wusste nicht, ob man über das Interesse, das die Wissenschaft plötzlich an der Region zeigte, verärgert oder geschmeichelt sein sollte. Wir sind doch keine Wilden, brummte der dicke Thomas; Martial der Bürgermeister hingegen war entzückt: Das würde Brüssel vielleicht davon abhalten, dumme Entscheidungen zu treffen, meinte er, ohne dass irgendwer so recht verstand, welche Verbindung es zwischen der einen und der anderen Sache geben könnte, was im Übrigen ganz natürlich war, so undurchschaubar und willkürlich war für sie alles, was mit Europas Hauptstadt (um nicht zu sagen mit Hauptstädten generell) zu tun hatte. Garys Kommentare verhalfen David Mazon immerhin zu einem gewissen Vertrauensvorschuss: Kaum jemand im Dorf war aufrichtiger und geachteter als Gary, und wenn er feststellte, dass dieser junge Mann ein anständiger Kerl sei, dass er a priori auf niemanden herabschaue, im Gegenteil, schloss sich das Dorf dieser Meinung an. David war demnach ein Fremder, der zu jener Kategorie von Ortsfremden gehörte, die man tolerierte und nicht gleich hasste, ähnlich wie die Engländer, die schließlich alles in Goldpfund bezahlten und gewisse Ansprüche auf die Gegend hatten, da fast achthundert Jahre zuvor Richard Löwenherz persönlich über den Landstrich geherrscht hatte, wie zahlreiche Schilder bestätigten, auf denen man »Straße der englischen Könige« lesen konnte und die der Rat des Départements hatte aufstellen lassen, um das britische Manna im Land zu halten (und eine Abwanderung nach Süden zu verhindern). Die englischen Könige waren ohne Zweifel durch die Gegend gekommen, doch im Gegensatz zu James und seiner Frau Kate hatten sie nur angehalten, um ihre Pferde zu striegeln, was James seiner Gefährtin fortwährend unter die Nase rieb, er sei nämlich kein scheiß mittelalterlicher Monarch, während er dafür betete, so schnell wie möglich wieder in Großbritannien eingegliedert zu werden, wo es in jeder Bar einen Billardtisch gab und mit jedem geleerten Pint Ale neue Freunde. Kate beruhigte ihn, bat ihn um Geduld und versicherte, dass der Klempner bald kommen, der Dachdecker bald Zeit haben würde und dann Schluss sei mit den Schüsseln auf dem Dachboden, dass also alles in Ordnung kommen und sie glücklich sein würden, was sie trotz der kleinen Ärgernisse alles in allem bereits waren, vor allem nach siebzehn Uhr, wenn es Zeit für den Gin Tonic war und James und Kate sich pünktlich in den weiß gestrichenen Korbsesseln auf der Veranda, jeder mit einem Buch in der Hand, schweigend die ersten beiden Gläser des Abends gönnten.
Als David Mazon am späten Nachmittag bei ihnen anrief, um sie um ein Interview zu bitten, genossen sie gerade ihren ersten Longdrink und führten eine ihrer Lieblingsdebatten über die Vor- und Nachteile, die das Königreich Frankreich verglichen mit dem grünen Albion hatte, eine Debatte, die, wie man weiß, mit einem deutlichen Vorteil für das Letztere begann, dank eines klimatologisch-gastronomischen Gegenangriffs von Kate mit einem gefährlichen Ausschlag zugunsten des Ersteren fortgesetzt wurde und in letzter Minute durch James’ böswillige Scheinargumente wie die Klimaerwärmung, die den Anbau von Wein und Dattelpalmen bis an die schottische Grenze erlauben würde, mit einem Gleichstand endete. Kate war sehr erstaunt über Davids Anruf, und ihr erster Reflex war Misstrauen: Ein junger Mann, der sich auf ihren unmanierlichen Nachbarn Maximilien berief, verhieß nichts Gutes. Aber der junge Anthropologe hatte zumindest eine gute Eigenschaft, Aufrichtigkeit, eine Offenheit, die man auf Anhieb spürte; Kate ließ sich also von der entwaffnenden Ernsthaftigkeit des Wissenschaftlers überzeugen und erklärte sich bereit, ihn zu empfangen, was ihr natürlich den Zorn ihres Gatten einbrachte, aus Prinzip, obwohl er im Grunde genommen eher geschmeichelt war: Dass Frankreich sich für ihn interessierte, hatte es abgesehen von rätselhaften lokalen Steuern, die es von ihm kassierte, noch nicht gegeben.
Im Moment jedoch richtete David den Föhn auf sein Mofa, um es zu enteisen. Draußen fiel wieder Schnee, was den Anthropologen verzweifeln ließ: Er sah sich schon im Schneesturm vor Hunger und Kälte sterben; dabei hatte er doch absichtlich auf Forschungsreisen in die Ferne verzichtet, um den Unbilden des Klimas und einer abstoßenden Fauna aus dem Weg zu gehen, jetzt war er beiden zugleich ausgeliefert. Er dachte an Paul-Émile Victor und Die kleine Schneeflocke Aputsiak, das Bilderbuch seiner Kindheit, dem er die Neigung zur Ethnographie verdankte: Also, riss er sich zusammen, es gibt Leute, die Seehunde jagen, indem sie Löcher ins Eis schlagen, nur Mut! Er kehrte zu seinem elektronischen Tagebuch zurück, um einige Eindrücke vom Abendessen bei Maximilien Rouvre aufzuschreiben, dem Pariser Künstler, dem an diesem Morgen in seinem riesigen Atelier ebenfalls kalt war, sehr kalt sogar und umso kälter, als er reglos in seine Arbeit vertieft vor dem neunhundertzweiundneunzigsten Foto seines großen Werks verharrte, wetterte und fluchte, weil er es so eilig hatte, diesen Augenblick zu verewigen. Er verband seinen Apparat mit den Blitzschirmen, der Blitz wurde von weißen Kacheln zurückgeworfen. Wieder eines, dachte er zufrieden, das heißt, wieder dem Ende ein Schritt näher gekommen, dem seines Werks und seinem eigenen. Max zog die Aufnahme auf seinen prächtigen Bildschirm, keine Auffälligkeit, er zoomte hinein, um die Stofflichkeit, die Körnung zu sehen, erhöhte den Kontrast ein wenig, suchte nach Hinweisen, die ihm eine Farbe suggerieren könnten, identifizierte einen Bereich, in dem die Rottöne überwogen (das behauptete zumindest der Computer), und verstärkte diese; dann druckte er die Aufnahme im Format 24 x 32 Zentimeter auf Spezialpapier aus, nahm seine Pinsel und höhte Details des Bildes mit kleinen Pinselstrichen in Dunkelviolett, der Farbe von Futterrüben. Schließlich betrachtete er das Ergebnis aus der Distanz, perfekt; er brachte auf der Rückseite eine winzige Kugel Klebemasse auf, stellte die Stehleiter hin und hängte die Aufnahme zu den anderen an die riesige Seitenwand des ehemaligen Stalls. Ungefähr noch zwei Wochen Arbeit, dann würde das Werk fertig sein; es würde genau zwölf Stücke pro Quadratmeter umfassen, insgesamt fast eintausendsechshundert. Die Anzahl wie auch der Zeitraum waren natürlich willkürlich und entsprachen der Kapazität des Ateliers. Alle Teile waren nummeriert, falls notwendig, konnte er sein Werk für einen gigantischen Raum also jederzeit vergrößern. Er hatte unter den eindrucksvollsten Fotos (denjenigen zum Beispiel, die auf das Einnehmen des Methylenblaus folgten) sogar schon zehn für größere Abzüge ausgewählt, die geeignet waren, einzeln ausgestellt (und verkauft) zu werden. Maximilien war sich sicher, dass Die Bristol-Skala: autobiographische Abgänge ein voller Erfolg werden würde. Noch niemand hatte sie gesehen, er versteckte sie vor allen, vor seinem Galeristen, seinen Freunden und seinen zeitweiligen Geliebten. Nur Lynn hatte die Ehre gehabt, einen Blick auf dieses noch unbekannte Meisterwerk zu erhaschen: Sie fühlte sich davon so erschlagen, so beschmutzt, so besudelt, dass ihr speiübel wurde und sie Hals über Kopf davonrannte. Wie die junge Frau aus der Blaubart-Erzählung in der geheimen Kammer hatte sie die Gelegenheit genutzt, als Max mit seinem Motorrad weggefahren war, um Croissants zu kaufen, und einen Blick in jenen Raum geworfen, den er vor ihr verbarg. Bei seiner Rückkehr hatte sie schon das Weite gesucht und war auf eine Nebenstraße ausgewichen, um ihm nicht zu begegnen.
Max hatte den Grund für Lynns Flucht nicht begriffen, und er fühlte sich ein wenig verletzt, ohne dass er genau wusste, warum – er dachte, diese Liaison sei ihm nicht besonders wichtig. Lynn war zugegebenermaßen bereits vom Tenor einiger Gemälde Maximiliens geschockt gewesen, die sein Wohnzimmer schmückten; sie war auch ein wenig erschrocken über die sexuellen Fantasien des Malers, die zu befriedigen sie sich bislang mehr oder weniger geweigert hatte, aber sie vergaß die kleinen Fehler der Männer schnell, vor allem wenn sie kultiviert waren und zu leben verstanden, wie sie sagte, das heißt, wenn sie bereit waren, zum Aperitif eine Flasche Champagner zu öffnen und ein Schaffell vor ihren Kamin zu legen. (Als sie Maximilien bei dem wohlbegossenen Abendessen, das ihrem ersten Geschlechtsverkehr vorausgegangen war, in ihrer naiven Art darauf aufmerksam machte, dass weder ein Teppich noch ein Fell vor seinem offenen Kamin lag, lächelte Max und erwiderte, keine Sorge, morgen schieß ich eine Färse, versprochen, und als Lynn am übernächsten Abend wieder erschien, fand sie zu ihrer Überraschung neben der Feuerstelle den Balg nicht etwa eines Rinds, sondern einer Art von weißem Alpaka mit dichtem Fell, das Maximilien in irgendeinem Verkaufsdepot aufgetrieben hatte – es hatte ihn auf köstliche Weise an gewisse schwedische Filme aus seiner Jugend erinnert und passte, wie er mit seinen Maleraugen befand, wunderbar zu Lynns üppigen Formen und wassergrünen oder blutorangeroten Dessous: Daher schlug er ihr vor, es gleich einzuweihen, was sie erröten ließ.)
Aber das Atelier war zu viel. Dieser Max war ein Perverser, ein Fall für die Psychiatrie: Die Entdeckung von Blaubarts begehbarem Schrank mit den tausend Schreckensbildern jagte Lynn in die Flucht, sie zitterte vor Wut und Abscheu und beschloss, den Mann nie wiederzutreffen, von dem sie einige Wochen lang geglaubt hatte, er könnte der ersehnte Prinz sein.
*
Lucies Urgroßmutter Louise verweilte lange am Ufer des Flusses; reglos stand sie mit ihren Tretern im Schlick und betrachtete wenige Zentimeter vor dem Wasser das Leben um sie herum. Sie konnte nicht schwimmen. Sie stellte sich vor, wie ihr Haar in der Strömung triebe, als Galionsfigur ihres Körpers; sie würde flussabwärts bis in die Sümpfe geschwemmt, wo wilde Fleischfresser an ihr nagen würden, bevor man sie dann einige Tage später halb entkleidet, violett angelaufen und aufgedunsen fände. Sie dachte wieder an den riesigen Kuhkadaver, den man einmal vor ihren Augen aus einem Kanal gezogen hatte, ein enormer, von Fäulnis aufgeblähter Ballon, dann fasste sie einen Entschluss: Heute würde sie nicht sterben.
Sie hob ihr Kleid an, zog den kleinen Hafersack darunter hervor, leerte ihn ins Wasser; die Körner verschwanden mit der Strömung, so hatten, dachte sie, wenigstens die Fische etwas von ihrer Lüge. Sie weinte vor Erleichterung, legte den Jutesack in ihren Korb, trocknete ihre Tränen und ging glücklich, dass die Komödie zu Ende war, nach Hause zurück. Sie würde sich zu ihrer Mutter flüchten, ihr alles erklären; sie würde ihren Vater vorschicken, damit er mit Jérémie sprach, der die Tatsache wohl oder übel akzeptieren musste, und fertig. Sie fühlte sich bereit, die Blicke, das Gelächter und die Spötteleien der Klatschweiber auszuhalten, was soll’s.
Ihre Mutter machte ein Riesentheater, nahm sie aber auf. Ihr Vater ohrfeigte sie, drückte sie an sich, ohrfeigte sie wieder und wetterte gegen den Mann, der letztlich für diese erneute Schande verantwortlich war.
Oben in den Ardennen, im tiefen Kessel einer Maasschleife, bereitete Jérémie sich auf die Abreise am nächsten Tag vor; er sollte im Morgengrauen zuerst mit einem Truppentransport nach Reims gebracht werden, dann den Zug nach Paris und von dort einen anderen nach Niort nehmen. Er steckte das Foto mit der schwangeren Louise und seinen Truppenausweis in seine Tasche, schnürte sein Reisegepäck, teilte den Rest Schnaps in seiner Feldflasche mit den Chaigneau-Brüdern, die weniger Glück hatten als er und sich weiter im Wald auf Baumstämmen sitzend den Arsch abfrieren und auf den Frühling hoffen mussten, der in diesen Breiten nie zu beginnen schien.
Jérémie war gerade dabei, in den Militärlaster Richtung Charleville und Reims zu steigen, als die Nachricht eintraf: Die deutsche Armee war in Belgien einmarschiert und startete nach Süden hin eine fürchterliche Offensive; alle Fronturlaube waren ausgesetzt.
Bis auf ein oder zwei Begebenheiten ist nicht bekannt, was Jérémie in den folgenden sechs Wochen gemacht, welche Taten er vollbracht hat; man weiß zum Beispiel nicht, wie er von den Chaigneau-Brüdern getrennt wurde, von denen der eine in Gefangenschaft geriet, der andere im Sommer 1940 demobilisiert wurde; man weiß auch nicht, wie Jérémie, obwohl er viel weiter im Osten an der Linie des deutschen Vorstoßes auf Sedan stationiert war, nach Dunkerque gelangte, von wo er mit einigen Kameraden seiner Kompanie auf einem Fischtrawler nach Dover evakuiert werden sollte; als das Schiff von einer Bombe getroffen wurde, wäre er beinahe verbrannt oder ertrunken wie seine neunzig Kameraden; als ihn ein britisches Minensuchboot wie durch ein Wunder aus dem Ärmelkanal fischte, schlotterte er am ganzen Leib; nach drei Tagen im Fieber und unter Schock kam er in einem Behelfslager wieder zu sich, in dem einige Kilometer von der Küste entfernt französische Soldaten untergebracht waren. In einem erbitterten, panischen Hin und Her schickte man diese Truppen nach Frankreich zurück – zweifellos mit dem Hintergedanken, dass sie den Kampf wiederaufnehmen könnten.
Drei Wochen später unterzeichnete Frankreich einen schändlichen Waffenstillstand im selben Waggon, in dem es Deutschland zwanzig Jahre zuvor gedemütigt hatte. Da er aus der freien Zone kam, zögerte Jérémie keinen Augenblick, er beschloss, nach Hause zurückzukehren. Er hatte gekämpft, hatte Männer an seiner Seite sterben sehen; dass er sich nicht unter den hunderttausend Leichen befand, die zivile und militärische Totengräber unter die Erde gebracht hatten, war Zufall. Sein Land war besiegt, es gab nichts mehr zu tun; Louise und das Ungeborene warteten auf ihn, es war Zeit, ins Dorf zurückzukehren.
Wie die meisten Soldaten, die nicht in Gefangenschaft geraten waren, bekam Jérémie seine Entlassungspapiere; in Limoges gab er Gewehr und Uniform ab, die Unterwäsche und die Handschuhe durfte er zur Erinnerung behalten. Er fand es sehr befremdlich, als er vor der Präfektur und dem Bahnhof deutsche Soldaten stehen sah, und nahm schließlich, sechs Wochen nach dem ursprünglich geplanten Fronturlaub, abgemagert, erschöpft und mit dem leeren, verstörten Blick derer, die aus dem Geschützfeuer kamen, den Zug nach Niort.
Louise betete insgeheim dafür, er möge gefallen sein; das Durcheinander jener Tage verhinderte, dass man Nachrichten von wem auch immer erhielt. Hier und da waren Flüchtlinge angekommen wie für seltsame, traurige Ferien, manche mit Matratzen, Kleidung, Vorräten, andere ohne alles; sie schliefen unter freiem Himmel und drehten sich verloren im Kreis, wussten nicht, ob sie hierbleiben oder die drei- bis vierhundert Kilometer weiter nach Hause fahren sollten.
In La Pierre-Saint-Christophe wurden die Bewohner eines schönen Morgens von der Ankunft eines Busses voller Waisenkinder aus dem Norden überrascht: Die Kleinen waren seit zwei Wochen unterwegs, der Bus stank übler als ein Hühnerstall; der Busfahrer war von den deutschen Truppen eingeholt, dann weit überholt worden, was dieser Flucht eine komische Note gegeben hätte, wäre sie nicht inmitten von Krieg, Angst und Zerstörung erfolgt. Man brachte die Kinder unter, so gut es ging, versprach, sie nach Ende der Feindseligkeiten zurückzuschicken, und der Busfahrer machte sich mit einigen Klapsen auf den Rücken und einem Vorrat an Würsten für unterwegs auf die Rückfahrt, ohne dass man herausgefunden hätte, warum er seine laute Ladung genau hier abgesetzt hatte – man merkte bald, dass die Waisenkinder keine waren, dass sie alle Familien hatten, die einen in Charleville, andere in Rocroi, Auvillers-les Forges oder anderen, ebenso fernen und exotisch klingenden Orten. Man verteilte sie auf La Pierre-Saint-Christophe und die umliegenden Weiler wie kostbares Gut, die Jugend des Landes war in Gefahr, genauso wie man im Jahr zuvor die polnischen Soldaten aufgenommen hatte, die nach der Besetzung ihres Landes durch die Deutschen ins Exil gegangen waren: Mehrere tausend von ihnen hatten mitsamt ihren Pferden bei Parthenay kampiert, bevor sie rund um Belfort wieder kämpften und anschließend für den Rest des Krieges in der Schweiz interniert wurden.
Jérémie kam sehr spät aus Limoges über Poitiers in Niort an. Zu so fortgeschrittener Stunde konnte er nicht mehr hoffen, ein öffentliches Transportmittel zu finden. Dennoch war er entschlossen, noch am selben Abend nach Hause zurückzukehren, auch wenn er sich zuerst in seine Stammkneipen rund um den Markt begab und ein oder zwei Gläschen trank; ob er dort auf ein vertrautes Gesicht traf, wissen wir nicht, jedenfalls setzte er sich, so viel ist gewiss, über die Ausgangssperre hinweg und erreichte das Dorf nach einer fast einstündigen Fahrt auf einem geliehenen Fahrrad. Die Sommernacht mit ihrem sternenklaren und unheimlichen Himmel war erfüllt von Ernteduft. Jérémie spürte seinen Herzschlag. Gleich würde er seine Frau wiedersehen, vor allem den Bauch seiner Frau, der jetzt sehr dick sein musste; er hoffte, diese Geburt würde die Demütigungen, das Leiden und den Schrecken auslöschen, nicht nur den Klatsch von einst, sondern auch die Erinnerungen an die Gefechte, den brennenden Ärmelkanal, die Bomben; er hoffte, vom nächsten Tag an mit den anderen das Getreide einholen zu können und die Garben wie im Jahr zuvor und im vorvorletzten Jahr bei seinem Schwiegervater in den Kornspeicher zu stellen, bis die Dreschmaschine käme; dann würde sein Sohn (er wusste, dass es ein Sohn sein würde) auf die Welt kommen, und alles wäre perfekt. Das kleine Steinhaus, in dem siebzig Jahre später Lucie wohnte, lag im Dunkeln; Jérémie zögerte, an die Tür zu klopfen oder zu rufen, er wagte es nicht; um Louise und den Bastard nicht zu erschrecken, die sicher schon schliefen, und ging ums Haus, zur Stalltür, die immer offen war.
Anscheinend war aber der Holzriegel vorgeschoben, denn er stemmte sich vergeblich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Es herrschte schließlich Krieg, Louise hatte gut daran getan, sich zu verbarrikadieren. Er ging zum Eingang zurück und fand sich damit ab, an die Tür zu pochen, erst sanft, dann immer stärker, je länger er keine Antwort bekam. Am Ende hämmerte er eine Weile mit der Faust dagegen, bis er sich dafür schämte, vor dem eigenen Haus zu stehen und wie ein Fremder zu klopfen, als wäre er jahrelang weg gewesen. Er war ratlos, Katastrophenbilder stiegen in ihm auf: Er, dem der Anblick von Leichen so vertraut geworden war, sah Louise tot, von den Totengräbern in die andere Welt getragen. Er dachte natürlich daran, zu seinen Schwiegereltern zu gehen, doch es widerstrebte ihm, sogleich eine Demütigung hinzunehmen, den Mann zu spielen, der aus der Ferne zurückkehrt und seine Frau nicht vorfindet, zuletzt rang er sich aber dazu durch, denn es gab keine andere Lösung. Er ging also die Rue du Château zurück zum Bauernhof von Louises Vater, kam an einer der drei Dorfgaststätten vorbei, die gerade schloss; draußen stand der Sohn des Hufschmieds Poupelain und genoss den milden Abend zusammen mit dem Briefträger Chaudanceau; sie mussten einiges getrunken haben, denn sie riefen ihn trotz der späten Stunde stürmisch zu sich, Jérémie, Jérémie Moreau, und begrüßten ihn überschwänglich wie zwei Welpen, sie sprangen um ihn herum und zogen ihn am Ärmel in die Kneipe, wo der alte Longjumeau gerade den Tresen putzte: Er warf ihnen einen finsteren Blick zu, dann erkannte er Jérémie, sieh an, bist wieder da, sieht so aus, mein Dummerjan, als hätteste den Krieg verloren, Jérémies Züge erstarrten, aber Longjumeau fuhr fort, na komm, die Runde geht auf mich, ist immer dasselbe, die Boches werden uns nicht kleinkriegen. Jérémie war angespannt; alle drei bedrängten ihn mit Fragen, über die Front, die Niederlage, die Chaigneau-Brüder, von denen man seit einer Ewigkeit, seit den Ardennen, keine Nachricht mehr hatte; sie brachten ihn auf den neuesten Stand der Dorfangelegenheiten, erzählten von denen, die bereits zurückgekehrt waren (Patarin senior, der bei Limoges gedient hatte, war demobilisiert worden, ohne den Deutschen begegnet zu sein; Lebeau, im Winter verwundet, ein Fuß erfroren, als dienstunfähig entlassen; Bergeron im Stalag; Belot und Morin gestern mit dem Lastwagen angekommen, ebenso Marchesseau, der Tierarzt, den man einberufen hatte, um die Maulesel eines Artillerieregiments zu versorgen, und der sich auf eigene Kosten nach Hause durchgeschlagen hatte), und denen, die noch fehlten, und jetzt war er da, Jérémie, der ganz naiv dachte, die Verlegenheit seiner Gesprächspartner rühre daher, dass sie sich schuldig fühlten, nicht im Krieg gewesen zu sein, während sie ihn mit Fragen bestürmten, um nicht über Louise und das vorgetäuschte Kind sprechen zu müssen, von dem natürlich alle wussten, denn sie hatten alle Frauen, Mütter und Schwestern, die sie ins Bild setzten. Sie fragten weder, wohin er ging, noch, was er zu dieser späten Stunde hier machte, statt zu Hause bei seiner Frau zu sein, und wenngleich er nicht der Intelligenteste war, verfügte Jérémie über genügend Scharfsinn, um zu ahnen, dass irgendetwas nicht stimmte; er begann sich zu schämen, fühlte sich halb betrunken, betrunken und erschöpft; er leerte sein drittes Glas, und als es gemäß den allgemein anerkannten Sitten und Gebräuchen an ihm gewesen wäre, einen auszugeben, verdrückte er sich unter dem Vorwand, seine Frau würde ihn erwarten, ohne dass die anderen etwas zu sagen wagten, um ihn zurückzuhalten.
Jérémie schwankte ein wenig durch die Julinacht, packte seinen Jutesack und marschierte bis zu seinen Schwiegereltern. Die bemühte Unterhaltung mit den drei Männern in der Kneipe hatte ihn zumindest in einem Punkt beruhigt: Louise lebte, und Jérémie dachte, sie sei der Bequemlichkeit halber vielleicht zu ihrer Mutter gezogen, was logisch schien.
Auf dem Bauernhof schimmerte noch Licht durch die hölzernen Fensterläden; man war noch wach geblieben oder spät vom ersten Erntetag zurückgekehrt. Jérémie ging über den Hof, ein paar Hühner gackerten, ein Hund knurrte, aber bellte nicht, er näherte sich einem Fenster, vor dem ein Fensterladen einige Zentimeter aufklaffte, er sah, wie Louise im Licht einer Petroleumlampe ihr Nachthemd über ihrem vollkommen flachen Bauch zuknöpfte; er betrachtete nicht einmal ihr Gesicht, er beobachtete nur, wie ihre Finger nacheinander die Knöpfe über ihrem Bauchnabel schlossen, der keinen Zweifel aufkommen ließ, er würde nicht Vater werden, weder im September noch sonst jemals. Diese Gewissheit lähmte ihn, er blieb dort stehen, mit der Nase an der Fensterscheibe, bis Louise den Schatten am Fenster bemerkte und vor Entsetzen aufschrie: Sie meinte das Gesicht ihres Ehemanns erkannt zu haben, sie krümmte sich vor Schrecken und rief um Hilfe – der Schrei traf Jérémie wie ein Peitschenhieb ins Gesicht, und er, der fast ohne mit der Wimper zu zucken die Geschosse und Flugzeuge der Deutschen ertragen hatte, rannte davon und floh wie ein Hühnerdieb über die Felder, wo er schließlich nach ein oder zwei Kilometern, niedergeschmettert von der Überraschung und dem Unbegreiflichen, in den sanft rauschenden Weizenfeldern zusammenbrach.
*
Jacqueline Guérineau, genannt Lynn, war also (heimlich, niemand wusste davon) die Geliebte von Maximilien Rouvre, dem Bildhauer im ländlichen Exil, und das schon seit einigen Wochen; die Dorfbewohner wären sehr erstaunt gewesen, hätten sie von dieser Liaison gewusst; sie hätten sie für widernatürlich oder zumindest unnatürlich gehalten, große Augen hätten auch die Pariser Freunde und Bekannten von Max gemacht, ganz zu schweigen vom dicken Thomas, der vor Eifersucht heimlich in Maximiliens Gläser gespuckt hätte, wenn er von ihrem Techtelmechtel Wind bekommen hätte (das behauptete zumindest mit einem etwas hämischen Lächeln der Künstler), nur der Anthropologe David Mazon hätte diese Liaison mit einem objektiveren Blick analysiert und wäre zu dem Schluss gekommen, dass beide, abgesehen von ihrem augenscheinlichen Klassenunterschied, wohlhabend waren und als Selbstständige dem tertiären Sektor angehörten, unabhängig und kreativ jeder auf seine eigene Weise, so dass ihre Liaison, obwohl kulturell erstaunlich, ökonomisch durchaus naheliegend war. Lynn sah das etwas anders: Es lag an der natürlichen Anziehungskraft eines Steinbocks wie Max auf Krebsgeborene, der starken und beständigen Anziehung astraler Gegensätze wie bei zwei Magneten, die durch Zufall entgegengesetzt gepolt und deshalb unzertrennlich sind. Maximilien hingegen analysierte nichts; er schätzte Lynn einfach, vor allem ihren herrlichen Körper, aber auch ihre bloße Anwesenheit, ihre Gesellschaft, ihre Großzügigkeit und auch ihren unverstellten Blick auf die Welt, Eigenschaften, die er als eingefleischter Macho nicht Selbstlosigkeit, Feinsinn und Intelligenz zu nennen vermochte. Lynn litt sehr darunter, dass einige Leute ihrem Beruf und seinen Vertretern keine Bedeutung beimaßen – Max verlor nie ein böses Wort über ihre Tätigkeit, die er mit der Bildhauerei verglich. Max war in Lynns Augen so etwas wie der perfekte Mann, ein wenig kindlich zwar, aber mit »einem guten Kern«, wie sie sagte; Max wiederum hielt sich für männlich beim Liebesspiel und für zärtlich danach, was seiner Meinung nach das Wesentliche war. Seit einigen Wochen waren sie also ein Liebespaar, und Lynn hoffte insgeheim, ohne allzu viel daran zu denken oder gar mit Maximilien darüber zu sprechen, dass diese Affäre von Dauer sein würde: Deshalb war sie nicht nur schockiert, als sie vor der riesigen Wand mit den Ungeheuerlichkeiten stand, sondern auch enttäuscht, denn diese Enthüllung bedeutete für sie natürlich das Ende ihrer Liebesgeschichte. Im äußersten Fall hätte sie es noch hingenommen, wenn sie die vielen Stunden an Pornofilmen entdeckt hätte, die sich auf Max’ Computer befanden, seine Neigung zu übergroßen Brüsten und beleibten Frauen, Rubensfiguren!, hätte er gesagt, deren Fettwülste und Möpse im Rhythmus der groben Stöße von Profis hüpften, aber das da, diese Scheußlichkeiten, die in seinem Atelier hingen, überstieg ihre Vorstellungskraft. Vor allem war ihr schleierhaft, was ihn dazu bewogen haben konnte. Wozu so viele abscheuliche Fotos? Es gab nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um eine perverse Wahnvorstellung handelte, für die bald sie hätte herhalten müssen. Allein beim Gedanken daran wurde ihr am Steuer ihres Wagens speiübel; in ihren Augenwinkeln bildeten sich zwei Tränen. Was für eine Sauerei, dachte sie, denn ihre Enttäuschung war genauso groß, wie es ihre Ehehoffnung gewesen war, und als sie eine Viertelstunde später bei sich zu Hause in Niort ankam, duschte sie gründlich, zog sich um, schickte eine Reihe von Nachrichten an Lucie, die mit heulenden und würgenden Emoticons gespickt waren, stieg wieder in ihren Wagen (sie schaffte es gerade noch pünktlich zu ihrem Termin mit dem perversen Bistrowirt) und versuchte, bei der Arbeit die Horrorvision dieses Morgens zu vergessen.
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Martial Pouvreau schloss die Leichenhalle ab, in der das junge Paar in zwei bescheidenen Pariser Särgen aufgebahrt lag, das zwei Tage zuvor gestorben war, ohne es zu bemerken, sanft erstickt im Kohlenmonoxyd, das aus einem schlecht angeschlossenen Ofen strömte, mitten in einem Traum, der mit einer endgültigen Überblendung ins Schwarze endete; sie hatten nicht mitbekommen, wie sie durchs Heiße und durchs Kalte gingen, auch die unterschiedlichen Farben vor dem Klaren Licht nahmen sie nicht wahr, da ihr subtiles Wesen nach einem kurzen Aufenthalt im Bardo, der Welt zwischen den Welten, zur baldigen Wiedergeburt in die Körper von Zwillingen geschleudert wurde, einem Jungen und einem Mädchen, die in einer Klinik von Niort auf die Welt kamen, von einem geschickten Geburtshelfer gepackt und dem zugleich faszinierten und abgestoßenen Vater anvertraut, der seinen Blick nicht vom weit aufgerissenen Geschlecht seiner Frau abwenden und nicht fassen konnte, dass zwei ganze Körper durch eine solche Öffnung passen sollten, auch wenn sie zierlich und blutverschmiert waren: Seiner Frau standen der Schweiß auf der Stirn und die Tränen in den Augen, sie streckte die Arme nach den Kindern aus, die sie gerade unter Schmerzen ausgestoßen hatte und die eines Tages die unsterblichen Totengräber wieder zu Grabe tragen würden, so wie sie jetzt Vorbereitungen trafen, das verunglückte junge Paar, das im Nebenzimmer ruhte, noch am Nachmittag zu beerdigen, und in der Werkstatt auf den zu gravierenden Marmorsteinen saßen und in aller Ruhe Schnaps tranken; sie ließen die Flasche kreisen und genehmigten sich etliche kräftige Schlucke – doch sobald einer der drei sie länger behielt als nötig, quengelten die anderen ungeduldig, denn die Zeit war knapp, die Zeit drängte immer, obwohl sie stets dieselbe Arbeit zu verrichten hatten: menschliche Hüllen unter die Erde bringen oder den Flammen übergeben. Die armen Schlucker mit den Trauermienen schwatzten und betranken sich, sie sprachen über das Bankett, das bald, in drei Monaten, im Frühling stattfinden würde, wie jedes Jahr seit Anbeginn der Welt, und dann würde man Witze reißen, einen ordentlichen Stiefel trinken und sich den Bauch vollschlagen, und drei Tage lang würde es keine Leichen geben, denn während des Banketts der Totengräber stirbt nie jemand, das weiß jeder, diese Tage der Ruhe, diese Feierlichkeiten ohne Sarg sind das Geschenk von Gevatterin Tod an die Zunft, es ist die Weihnacht der Trostlosen, der Nikolaustag der Leichenbittermienen. Drei Monate können einem wie eine Ewigkeit vorkommen, und für die Totengräber war der Winter vor allem eine Jahreszeit der Ungeduld, in der sie mehr als gewöhnlich tranken, weil sie froren, weil die Sarggriffe eisig waren, der kalte Marmor noch glatter als sonst und die Erde schwieriger auszuheben, trotz des kleinen Baggers, der ihr einziges Spielzeug war, also wärmten sie sich beim Gedanken an das nahende Bankett, zu dem alle kommen würden, Totengräber, Friedhofswärter, Sargträger mit Schlips, Fahrer von Luxusleichenwagen, das Fest, bei dem man die rituellen Worte sprechen und sich in die Schlacht um Speis und Trank stürzen würde, während man sich Geschichten erzählte und philosophierte, und für diese zwei Tage würde man vergessen, dass sich das Rad dreht und am Ende alle Menschen auf ihren Schultern enden, weil ihm niemand entkommt: Was auch immer mit der subtilen Materie der Seele geschieht, der Körper kehrt immer in die Hände der Bestatter zurück.
Sie sprachen selten über die Todesumstände; bisweilen bemitleideten sie eine Frau mit anmutigen Rundungen, die sie sanft mit den Fingerspitzen streichelten; sie spotteten über Klumpfüße oder über die trostlosen Formen, die männliche Geschlechtsteile, verschrumpelt oder knorrig, annehmen können; sie entschlüsselten Tätowierungen, begutachteten Behaarungen, Warzen und Leberflecken; sie zählten immer die Zehen und lachten wie Kinder, wenn sie einen überzähligen fanden, ein gutes Omen und Zeichen des Überflusses. Sie hielten sich bei den Uhren zurück und stibitzten nur zurückgelassene Taufketten, Armbänder und Siegelringe; manche nahmen hin und wieder ein schönes Hemd an sich, andere eine Krawatte, und das war nicht einmal Unredlichkeit, sondern eine Form von Achtung. Auch in den Gräbern schlugen moderne Armbanduhren noch lange, zwei Jahre oder mehr, wer weiß, an Armen, die nur noch Haut und Knochen waren, und beim Bankett erklärten die Friedhofspförtner stets, dass dieser gedämpfte, vibrierende Rhythmus unter der Erde eine angenehme Begleitung für sie sei, dass die Klingeltöne der Quarzuhren sie an die Vesperpausen erinnerten, sollten sie diese versehentlich vergessen haben.
Der Dritte und Jüngste wartete, bis er an der Reihe war, und starrte währenddessen mit gierigen Augen und zitternden Händen auf die Flasche; er wagte nicht, etwas zu sagen, doch er beobachtete, wie der Schnapspegel in dem Behältnis gefährlich sank, was seinen älteren Kollegen nervte: Deshalb hatte dieser es nicht eilig und saugte in langen Zügen an der Pulle, um den Kleinen zu ärgern, der es schließlich nicht mehr aushielt und Kann ich jetzt mal? grunzte. Diese Respektlosigkeit entrüstete den Ältesten, den der Alkohol bösartig machte. Wenn das so ist, setzt du eine Runde aus, und mit Autorität schnappte er sich das Fläschchen, das der andere bereitwillig loszulassen schien. Der Kleine verzog das Gesicht, stand auf, fluchte, spuckte auf den Boden und sah zu, wie der erste Totengräber den kräftigen Schluck nahm, der eigentlich ihm zugestanden hätte, nein, das war kein Benimm, und die beiden anderen, die langsam blau waren, lachten über seine Bestürzung: Großzügig überließen sie ihm den Bodensatz; er riss die Pulle an sich wie eine Puppe, drückte sie wie ein junges Mädchen am Ballabend, führte sie zärtlich an seine Lippen und leerte sie in einem Zug. Dann warf er die Flasche traurig gegen eine große, grüne Plastikmülltonne am anderen Ende der Werkstatt, wo sie mit einem Höllenlärm zwischen ihren kleinen Schwestern zerschellte, was den üblichen Witz nach sich zog, mein Gott, du weckst noch die ganze Nachbarschaft auf, und sie lachten alle drei aus vollem Herzen. Die Stunde nahte: In Kürze müssten sie sich ankleiden, in die weißen Hemden und schwarzen Anzüge schlüpfen und überprüfen, ob sie glatt rasiert waren; dann würden sie ihren Mundgeruch bearbeiten, indem jeder sparsam mit einem Schlückchen Cuir de Russie gurgelte, ein kostspieliges Parfüm, das beim Schlucken noch mehr in der Kehle brannte als Schnaps, dann in die Hände hauchten und mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung feststellten, dass man gut roch, wie aus dem Ei gepellt aussah und bereit war: Der Chef konnte kommen. Erst dann würde die eigentliche Arbeit beginnen, zuerst nachsehen, ob die Leichen in den Särgen lagen (man hatte schon öfter unerfreuliche Pannen erlebt, die hinterher zu komplizierten Arrangements führten), dann viermal den Akkuschrauber an den Sargecken ansetzen; man würde den Leichenwagen vor die Tür fahren und von der Familie umringt werden oder auch nicht, je nachdem; dann würde man einen Kranz (unter Umständen auch mehrere) auf die Särge legen und die Heckklappe schließen. Anschließend würde man sich (diskret, wenn Trauergäste dabei waren) darum streiten, wer diesmal den Wagen fahren durfte, denn das war der angenehmste Teil ihres Berufs, bei dem man in der Fahrerkabine einer Luxuskarosse seine Ruhe hatte und Radio hören konnte, während der Chef auf dem Beifahrersitz ein kleines Nickerchen hielt und die beiden anderen (immer diskret) am Steuer einer alten Schrottkarre folgten, in der das notwendige Werkzeug lag, um die am selben Morgen ausgehobene Grube wieder zuzuschütten. Bei der Kirche angekommen, würde Martial die Leitung der Begräbnisfeier übernehmen, wie es der offizielle Dienstkatalog vorsah; er würde die Rollen verteilen, hätte ein Wort für jeden Trauernden; man würde die Blumen aufstellen, mit ein wenig Glück fänden sich Freiwillige, um die Särge in die Kirche zu tragen, dann bliebe es den betrunkenen armen Schluckern erspart, sich die Leichen auf die Schultern zu laden und sie auf dem vordersten Logenplatz eines immer gleichen Schauspiels abzusetzen, von dem sie nichts hatten. Anschließend ginge es zum Friedhof, Martial würde vor den erschütterten Trauergästen eine kurze, taktvolle Ansprache halten, um ihnen zu erklären, dass sie nach ihrem Belieben den Sarg berühren oder ein wenig Erde auf ihn werfen könnten, eine allerletzte Geste, ein letzter Abschied; in diesem Augenblick würde das Wehklagen anschwellen, die Totengräber, zarte Pflänzchen, würden es vermeiden, die Trauernden anzuschauen, und den Verstorbenen an den Seilen ins Grab hinablassen. Ungeduldig würden sie darauf warten, dass die Trauergäste sich entfernten, um dann in aller Ruhe mit wenig Respekt und großen Schippen das Grab zuzuschaufeln oder, je nachdem, die Grabkammer zu schließen, während sie sich die Flasche teilten, die sie in aller Regel, so ist es jedenfalls Tradition, vom Friedhofswärter geschenkt bekommen würden, wenn es denn einen gab, und dann wäre alles erledigt, man würde sich nach Hause begeben und kein Wort mehr darüber verlieren.
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Trotz aller Zurückhaltung, die sie sich im Vorhinein auferlegt hatte, weil sie ihr Leben für eher uninteressant hielt, beantwortete Lucie die Fragen des jungen Ethnologen offen und ehrlich. David hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen; der Großvater saß wie immer in seinem maroden Korbstuhl vor dem Kamin und käute seine unheilvolle Geschichte wieder; er hatte die Bilder seiner Mutter Louise, Jérémies und all jener vor Augen, die die Totengräber längst unter die Erde gebracht hatten, und in der Erinnerung des Alten legten sich ihre Gesichter übereinander; er konnte seine Tochter nicht mehr richtig von seiner Frau unterscheiden, seine Enkelin von seiner Mutter, all diese Frauengesichter waren für ihn nur noch eines, sie drehten sich vor den Augen des Greises wie ununterscheidbare Gespenster, und als er Lucie auf ihrem Stuhl sitzen sah, hatte er einen ebenso unbestimmten Anflug von Begierde, der ihm durch den Kopf tanzte wie die Flammen im Kamin, und kratzte sich sofort durch die Hose an seinem Geschlecht, was den jungen Wissenschaftler schockiert hätte, hätte er die Handbewegung zufälligerweise bemerkt, denn trotz seiner Erotomanie war er seltsam prüde, ein scheinbarer Widerspruch – und während Lucie ihm ihr Leben erzählte, ihre Kindheit, ihre Schulzeit an der Fachoberschule für Gartenbau in Sainte-Pezenne bei Niort, ihre Anfänge in der Landwirtschaft, senkte David seinen Blick nahezu unwillkürlich in den Ausschnitt ihrer Bluse zwischen ihre Brüste, wobei er so tat, als überprüfe er das Aufnahmegerät, das genau vor Lucies Busen stand. David Mazon stellte übrigens fest (Lucie fuhr fort mit ihren Erinnerungen an ihre ersten Begegnungen mit der bäuerlichen Welt, an ihre Eltern, ihre Familie und ihre Kindheitsfreunde), dass ihre Vorzüge praller waren, als man auf den ersten Blick vermutet hätte, was, wie soll man sagen, eine angenehme Überraschung war, und David verlor sich allmählich in wilden Fantasien, den Blick starr auf die Falten ihres Körpers gerichtet – in dieser Hinsicht kannte seine Vorstellungskraft keine Grenzen. Fast keine. Natürlich konnte er sich nicht vorstellen, ebenso wenig wie die Begaffte selbst, dass Lucie im Laufe ihrer früheren Leben als Protestantin ein Opfer der Dragoner Ludwigs XIV. gewesen war, dann leidenschaftliche Revolutionärin, die vom Wohlfahrtsausschuss zum Tode verurteilt wurde, ein Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, den ein Geschoss zerfetzte, und eine Reihe von Bäuerinnen und Bauern, von denen einige in ihrem Bett, einige im Wochenbett starben, andere an Krankheiten oder Trunksucht und manche bei fürchterlichen Unfällen mit Karren oder an den Folgen schrecklicher Verletzungen, meist ohne jede medizinische Hilfe, aber fast immer mit religiösem Beistand, in welcher Version auch immer. In ihren früheren Leben waren sich Lucie und David möglicherweise unzählige Male über den Weg gelaufen und würden sich vielleicht auch in ihren künftigen Existenzen wiederbegegnen, ohne sich jemals daran zu erinnern, abgesehen von einem merkwürdigen Déjà-vu-Gefühl, das Lucie manchmal beschlich, wenn sie den jungen Ethnologen in flagranti dabei erwischte, wie er nach ihren Brüsten schielte – sie fuhr trotzdem fort, von ihrer Kindheit in dem kleinen Dorf einige Kilometer weiter im Süden an einer Windung der Sèvre zu erzählen, von Sainte-Pezenne, nach einer schönen und vergessenen Jungfrau benannt, die die Christen Pexine, Pezenne oder Pazanne nennen, eine fromme Spanierin, die sich der Legende nach um das Jahr 800 auf der Flucht vor den Sarazenen in den Sümpfen verirrt hatte – diese Pechina, die wie die Pilgermuschel hieß, ließ sich mit den Jungfrauen Macrine und Colombe in einem Stift nahe der Stadt Niort nieder, wo all die versammelten Schönheiten die Begierden eines Adligen namens Olivier erregten: Olivier wollte sich aneignen, was nur dem Herrn gehörte, so dass diese unberührten Rosen gezwungen waren, vor den Reisigen zu fliehen, die sie entführen sollten. Nach sieben Tagen mühevollen Fußmarsches zwischen der Ebene und den Sümpfen starb Pexine-Pezenne an Erschöpfung an der Schulter ihrer Freundin Macrine. Ihr Leichnam wurde in eine Stadt gebracht, die damals Tauvinicus hieß und schließlich den Namen der Heiligen annahm – einer Heiligen, von der Lucie nichts oder fast nichts wusste; sie wusste natürlich nicht, wie die Reliquien der heiligen Pezenne in Spanien, im Escorial bei Madrid, gelandet waren; sie hatte keine Ahnung von der »Rückkehr« eines Fingerglieds dieser Jungfrau im Jahr 1956, das in einer mit lila Samt ausgeschlagenen und mit Watte gefüllten Schachtel Haushaltsstreichhölzer der Marke La Golondrina mit der Post nach Poitiers geschickt worden war, wo man ein hübsches, vergoldetes Reliquiar für das Knöchlein fand, einen schönen verglasten Reliquienschrein, der wieder in die Kirche zurückkehrte, in der Lucie die Reliquie bei ihrer Erstkommunion hatte sehen können. Sie vergaß das erhabene Knöchelchen natürlich sogleich, das nicht allzu oft hervorgeholt wurde, außer eben am 26. Juni, kurz vor der Ernte, zur Feier der Heiligen mit der Muschel.
In Lucies Kindheit befanden sich Kirche und Pfarrhaus nicht weit entfernt von ihrer Schule, einem ehrwürdigen Gebäude mit Schieferdach und Holzbänken, dessen Schulhof auf ein Kastanienwäldchen hinausging, das steil zum Fluss abfiel – die Bäume lieferten die Waffen und das ideale Kampfterrain ihrer Kindheit; das Gefälle und der Wasserlauf waren kein Hindernis, um Titanenkämpfe mit Zweigen, Stöcken, Steinen und Gummibändern auszufechten, ganz im Gegenteil. Lucie trug übrigens mitten auf der Stirn die stolze Narbe von einem dieser Scharmützel, verursacht von einer Esskastanie, die ihr, von einem Steinewerfer mit genügend Kraft geschleudert, eine Platzwunde zugefügt hatte, so dass ihre Augen wie bei Homer hinter einem roten Schleier versunken waren, bevor sie in die Dunkelheit abtauchte. David hatte die kleine Kerbe zwischen zwei Falten nicht bemerkt, die an die glorreichen Kämpfe erinnerte: Das Blut floss reichlich aus Lucies Wunde; sie lag, ohnmächtig geworden nicht wegen des Treffers an sich, sondern vor Angst und Schreck über das strömende Blut, zwischen dem welken Laub, den Körper quer zum Abhang ausgestreckt, mit dem Kopf auf einer Wurzel, und ihre Spielkameraden, die ebenfalls erblasst waren, standen um sie herum, betrachteten sie, wachten über sie, getrauten sich aber nicht, sie zu berühren, während ein Sioux (mit Kopfschmuck aus Tauben- und Hühnerfedern, die an einem Stück Karton klebten, und einem Tomahawk in Gestalt eines schweren, rostigen Peugeot-Hammers, der aus dem elterlichen Werkzeugkasten entwendet war) den Hang hinaufrannte, um Hilfe in Person einer der Damen aus der Bibliothek vor der Schule herbeizuholen, die sich an einem Ast ihre Feinstrumpfhose aufriss und sich mit Blut befleckte, als sie das Kind aufhob, das sofort erwachte – und anders als die Riesen von einst entging Lucie den Sargträgern trotz des Geschosses, das sie mitten auf der Stirn getroffen hatte. Man verbot ihr, in dem Wäldchen am Abhang zu spielen und im Schulhof einen Vorrat an Maronen zu sammeln, Waffen einer künftigen Rache, und zu guter Letzt fällte man sogar die schuldhaften Kastanienbäume, weil sie Generationen von Faulpelzen Munition geliefert hatten, und ersetzte sie durch Ahornbäume, deren Flügelfrüchte wie abgeschossene Helikopter auf den Asphalt des Schulhofs fielen.
Der Bauernhof von Lucies Eltern lag einige hundert Meter nordwestlich, kurz bevor die Ebene zu den Mäandern der Sèvre abfällt, ein Gebiet, das heute von kleinen Einfamilienhäusern in allen Formen und Farben übersät ist, wo vor dreißig Jahren aber noch im flachen Land und ohne Hecken ein paar Landwirtschaftsbetriebe Widerstand leisteten, die ihre Luzernen- und Heuschwaden aneinanderreihten und Pyramiden aus alten Reifen auftürmten, in denen man Hütten und Tunnel baute und dabei ganze Feldmauskolonien vertrieb, die oft so zahlreich waren, dass die Katzen nicht mehr wussten, welche sie zuerst jagen sollten. Möglicherweise hatte sich Lucie für die Gärtnerei und den Gemüseanbau entschieden, weil ihr Vater Viehzüchter war – sie blieb der Tierproduktion fern, dem ständigen Auf und Ab von Leben und Tod, den Gerüchen von Desinfektionsmitteln und saurer Milch, Kuhfladen und Blut, fern auch den Wundern der Kindheit, dem ersten Kalben, für das ihr Vater sie extra aus dem Bett geholt hatte, eine Geburt, die schließlich so schwierig verlief, dass man ihre Anwesenheit vergaß, und so stand sie im Pyjama und mit ihrem kleinen Teddybären im Arm in Pantoffeln im Stroh, als auch die Ratsche (die Gliedmaßen des Kalbs an Stricke gebunden, Zugkraft durch Hebelmechanismus) nicht half, das Kalb im Becken der Mutter feststeckte und es nicht nur die Hilfe des Tierarztes, sondern auch der Nachbarn bedurfte, um die Kuh in eine günstige Position zu bringen: Als man am Ende einen Eimer Wasser über den Kopf des glitschigen Kalbs schüttete und dann noch eiskaltes Wasser in seine Ohren goss, um es zu stimulieren, damit es endlich zu atmen und sich zu rühren begann, hätte niemand Lucie ihr Stofftier entreißen noch sie davon überzeugen können, dass dieses Schauspiel schön oder wunderbar sei; es war mit Sicherheit notwendig, aber fern allem Zauber, den man ihr versprochen hatte, sie spürte den Schmerz und ahnte die Banalität, eine Seele nimmt Zuflucht in einem Körper, der, kaum dass er geboren ist, schon die Zeichen des Todes trägt: Blut und Schleim.
Lucie spürte tief in sich (ohne dass es ihr jemals verständlich werden würde), wie sich das Große Rad drehte, das die Lebewesen vom Tod zur Geburt und von der Wiedergeburt zum Tod trägt, immer unter Schmerzen, von den blutigen Händen der Hebammen bis auf die Schultern der Totengräber, unter die Erde oder ins Feuer, ohne jede Möglichkeit, dem Schicksal zu entgehen, und während sie die Fragen David Mazons beantwortete, ließ sie ihre Gedanken schweifen wie der Alte, ihr Großvater, der sich auf seinem Stuhl, den Blick in den Kamin gerichtet und die Hand im Schritt, in seinen Erinnerungen verlor und nicht wissen konnte, dass ihm nur noch wenige Monate zu leben blieben, dass er im Frühjahr entschlafen würde, kurz vor dem Jahresbankett der Totengräberzunft: Er würde eines Morgens im Morgengrauen aufstehen, auf dem Tisch im Esszimmer eine gut platzierte, gigantische Schnapsflasche vorfinden, dazu, umwickelt mit einem hübschen roten Band, eine Schachtel mit belgischen Pralinen; der Greis würde sich ungläubig an der Schirmmütze kratzen, sich umsehen, ob er einen Grund für ein solches Geschenk entdecken konnte, aber es würde niemand da sein, der ihm eine Erklärung dafür liefern könnte; er würde einen Moment zögern, die Pralinenschachtel von allen Seiten begutachten, die Flasche zärtlich mit dem Finger vom Hals bis zum Boden entlangfahren; dann würde er mit einem kurzen, zufriedenen Grunzen eine erste Praline essen, die Füllung würde köstlich sein, der Zucker sich allmählich in seinem Magen ausbreiten; er würde nicht anders können, als schnell, sehr schnell die ganze Schachtel zu vertilgen, wie ein Kind aus Angst, jemand könnte ihm zuvorkommen, aber niemand würde kommen, und daher würde er, von unermesslichem Durst ergriffen, im Stehen, ein wackeliger Baum, die Schnapsflasche packen, wie er es früher, wie er es immer gemacht hatte, er würde sie mit sicherer Hand entkorken, an seine zitternden Lippen führen und den verbotenen Liter mit offenem Kehldeckel hinunterstürzen, einen großen Schwall in den großen Schlund kippen; er würde die Flasche so schnell und so gierig leeren, dass ein Zuschauer an ein Wunder geglaubt hätte, Mons Gaudii, Saint-Denis, und der Opa würde prusten, dann rülpsen, sein Gebiss würde ihm ein letztes Mal aus dem Mund fallen, seine Augen würden sich zur Decke drehen, er würde zusammenbrechen und besiegt, mit einem lauten Aufprall der morschen Knochen und dem Klirren zerbrochenen Glases, ins Koma fallen.
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Marcel Gendreau, der schriftstellernde Lehrer, wartete also ungeduldig auf die Kommentare von Honoratioren und Journalisten.
Die Reaktionen übertrafen seine Erwartungen bei Weitem.
Während der Bürgermeister die Mehrheit der Romanfiguren wiedererkannte und sich über einige Porträts gewaltig amüsierte, war das bei seiner Gattin weniger der Fall, die sich als gnadenlose Klatschbase beschrieben fand und teilweise für Louises Leiden verantwortlich gemacht wurde; sie beklagte sich sofort bei ihrem Mann darüber und forderte entweder das Einstampfen des Werks oder zumindest eine komplette Neufassung, was den Ädilen in Bedrängnis brachte.
Der Tierarzt erkannte in dem Roman nur die Frau des Ädilen, aber das genügte zunächst, um ihn im höchsten Maße zu belustigen, bis die Jeremiaden der Frau Bürgermeister aus Solidarität ein Echo bei seiner eigenen Lebensgefährtin fanden und er ebenfalls in Bedrängnis kam.
Die Lokalreporter hatten wenig Neigung zur Literatur, waren aber ziemlich versessen auf Skandale; folglich versuchten sie herauszufinden, was hinter dieser finsteren Geschichte stecken könnte, entschieden sich aus Bequemlichkeit, alles für bare Münze zu nehmen, und fassten das Buch in einer ausführlichen Meldung unter dem Titel »Lady Macbeth auf dem Dorfe« zusammen, was nichts mit dem Inhalt zu tun hatte, aber gut klang, ohne näher darauf einzugehen, dass es sich dabei um die Zusammenfassung eines Romans handelte.
Der Oberschulrat gratulierte dem Lehrer zu seiner tadellosen Orthographie und Syntax, mahnte ihn aber zugleich zur Vorsicht, was eine Veröffentlichung in großer Auflage anging.
Der in einem Artikel erwähnte Drucker Chiron wurde so sehr mit Anfragen bestürmt, dass er wieder Kontakt zum Autor aufnahm und ihm eine kleine Auflage auf eigene Kosten vorschlug.
Im Bund mit den Gattinnen des Tierarztes und des Hufschmieds versprühte die Frau des Bürgermeisters noch mehr Gift als gewöhnlich und setzte rachsüchtig allerhand abscheuliche Gerüchte über den Lehrer in die Welt.
Bestürzt schloss sich Marcel Gendreau zu Hause ein.
Er ging nur noch hinaus, um den Hof zwischen seiner Dienstwohnung und der Schule zu überqueren; eine Zeitlang spielte er nicht mehr Bowling oder Palet; er besuchte nicht mehr den Hufschmied Poupelin, bei dem er doch all die Geschichten aufgegabelt hatte, die sich in seinem Roman fanden; er ging auch nicht mehr in die Cafés, zum Schützenverein oder ins Volksbildungsheim, er lehnte alle Ansinnen des Druckers Chiron ab und versuchte, die Fronde der Klatschweiber durch Schweigen und vollständigen Rückzug einzudämmen.
Vergeblich.
Die hundertzüngige Fama ist eine schwer auszutilgende Distel.
Im Dorf ahnte man verschwommen, dass etwas vorgefallen war, dass ein Skandal in der Luft lag, da man jedoch kaum oder überhaupt nicht Zeitung las, hielt man sich gern an die Version der drei Giftnattern, nach der die Presse den Lehrer schändlicher Praktiken beschuldigt hatte, auf die näher einzugehen man sich wohlweislich hüte, da sie nur allzu grässlich seien. Da es für jedes Gerücht eines Körnchens Wahrheit bedarf, fügte man mit leiser, fast flüsternder Stimme hinzu, dass diese abscheuliche Affäre mit dem Tod der armen Louise und ihrem Bastard zu tun habe, dass es bei alldem um ein perverses Buch gehe, das besagter Lehrer verfasst habe, ein Buch, das im Übrigen niemand oder fast niemand gelesen hatte. Die Dorffrauen wiederholten abends bei ihren Ehemännern, was sie gehört hatten, wobei sie nach Gutdünken Einzelheiten hinzufügten, die sie für selbstredend hielten und die von den Klatschweibern nur aus Nachlässigkeit nicht erwähnt worden seien; die Männer machten es genauso, wenn sie sich im Hof des Hufschmieds trafen, obgleich sie über bestimmte Aspekte nicht sprachen, weil sie untereinander weitaus schamhafter waren als ihre Gattinnen.
Das plötzliche Fernbleiben Marcel Gendreaus vom Boulespiel oder vom Aperitif und einer Partie Karten und auch dass er nicht mehr im Hof des Hufschmieds auftauchte, war der Beweis, dass etwas mit ihm nicht stimmte, und man nahm seine Abwesenheit als stummes Eingeständnis eines grauenhaften Vergehens, dessen Unbestimmtheit den Schrecken noch größer machte.
Man nahm die Kinder von der Schule.
Der Bürgermeister sorgte sich über die Wendung der Ereignisse und sprach mit dem Tierarzt Marchesseau darüber, der die Sache vollkommen lächerlich, aber schwer wieder auszumerzen fand; er versprach, mit seiner Frau zu reden, die ihm eine völlig andere Geschichte erzählte als die, die er in dem Buch gelesen hatte, die ihn aber stark beeinflusste. Halbherzig versuchte er, seine Frau zur Vernunft zu bringen, während er aus Feigheit ebenso wie aus Faulheit einräumte, dass ein Zweifel nicht schaden könne, man wisse ja nie.
Louises beklagenswerter Sohn war in den Mittelpunkt einer düsteren Aufmerksamkeit gerückt, die zwischen Spott, Wut und einem Rest Mitleid schwankte, das von jenen kollektiven Schuldgefühlen herrührte, die sich allzu schnell in Ressentiments verwandeln; der junge Mann verstand überhaupt nicht, wie ihm geschah, und begnügte sich damit, die Schultern zu zucken und auszuspucken, was man als wütenden Hass auf den Lehrer deutete.
Als Marcel Gendreau die Anzahl der Fehlenden in seiner Klasse exponentiell anwachsen sah und an einem Donnerstagnachmittag traurig feststellte, dass niemand mehr zum Fußball kam, begriff er, dass er einen Fehler gemacht hatte, und entschloss sich zu einem Strategiewechsel. Der Respekt, den seine Bildung und sein Amt einflößen konnten, war im Grunde genommen von Furcht geprägt, vor allem aber stammte er nicht aus dem Ort, sein Studium und seine Bildung konnten leicht zu einem unüberbrückbaren Graben zwischen dem Dorf und ihm werden. Nichts ahnend von dem Klatsch und der üblen Nachrede, beschloss er, sich der Sache zu stellen, und kehrte eines Abends zum Aperitif ins Café Longjumeau zurück. Als der Lehrer das Café betrat, spielte man gerade eine Partie Trut; die Blätter blieben auf der Hand und die Münder offen; fassungslos sah man zu, wie Marcel Gendreau seinen Überzieher auszog, die Mütze abnahm und sie an den Kleiderständer hängte; Longjumeau schenkte nicht zu Ende ein, sondern stellte die Flasche auf den Tresen zurück. Marcel Gendreau schluckte und schickte sich an, zur Bar zu gehen.
Alle musterten ihn schweigend.
Im Kamin zerbarst ein Holzscheit, unter den Schritten des Lehrers knarrte das Parkett.
Er ging bis in die Mitte das Raums und stammelte ein Guten Abend allerseits, was ihm sofort lächerlich erschien.
Longjumeau starrte ihn feindselig an; Marcel wandte den Blick ab, suchte nach einem freundlichen Gesicht und fand keines.
Er blieb einige Sekunden reglos stehen, wartete, ob sich irgendetwas tat, ob jemand seinen Gruß erwiderte, ihm zulächelte oder zuwinkte; er erkannte Patarin, den Fleischer, und Bergeron, der schnell zur Decke hinaufsah; er erkannte Poupelin, den Hufschmied, und den langen Chaigneau, die ihre Karten brutal auf den Tisch knallten.
Von einer entsetzlichen Scham überwältigt, machte Marcel Gendreau auf dem Absatz kehrt, schnappte sich schnell seinen Überzieher, zog die Schirmmütze über die Stirn, um seine tränenerfüllten Augen zu verstecken, und ging hinaus, ohne die Tür zu schließen.
*
Nachdem die beiden Gendarmen beschwingt von den heimlichen Schlückchen Calvados das Angler-Café verlassen hatten, stiegen sie wieder in ihren Streifenwagen und nahmen den längsten Weg nach Coulonges. Dabei unterhielten sie sich wie immer über ihre nahende Pensionierung und die Feste, die sie zu diesem Anlass organisieren würden; der eine hatte in einem Katalog bereits das Boot und den Anhänger gefunden, mit denen er sich zu diesem einzigartigen Moment beschenken wollte – eine kleine Anglerhütte im Marais am Ufer der Sèvre besaß er schon; er hatte sich immer ein hübsches Boot gewünscht und vor allem die Zeit, um es zu nutzen, und während er den Wagen langsam über die bei der Flurbereinigung geschaffenen Wege steuerte, plauderte er mit seinem Kollegen, der gleichfalls ein großer Räuber im Reich der Fische war, mangels Hecht und Zander über Gründlinge, Flussbarsche und Rotaugen, über die sagenhaften Fänge, die ihm seine Barkasse ermöglichen würde. Zum Ärger der beiden schneite es dicke Flocken, man würde deshalb in den nächsten Tagen bestimmt viel Arbeit haben, den Zustand der Straßen zu überprüfen, den Autofahrern bei Unfällen zu Hilfe zu eilen und so weiter; einziger Vorteil war, dass man sich bei den Schneeräumern und Salzstreuern vom Straßendienst würde aufwärmen können, die in puncto Schnaps immer gut ausgestattet waren. Sie hatten gerade mit dem Auto den sehr sanften Anstieg aus der Ebene erklommen und wollten Richtung Westen zur Stadt hin abbiegen, als der Fahrer eine dunkle Gestalt bemerkte, die schnell über den Acker huschte, tief gebückt wie ein Soldat im Feld, um sich hinter einer Hecke zu verstecken. Er sah zu seinem Kollegen und fragte, ob er auch etwas bemerkt habe, was dieser verneinte, aber von einem Reflex gesteuert, den man professionell nennen könnte, bog der Fahrer nach links auf einen noch schmaleren Weg ab, um sich Klarheit zu verschaffen, was seinen Kollegen aufbrachte, Menschenskind, was machst du denn, ich hab doch gesagt, da war nichts. Ich spinne doch nicht, erwiderte der Fahrer, ich bin ganz sicher, dass ich jemanden gesehen habe; trotz des Schneetreibens suchte er durch das Türfenster mit weit aufgerissenen Augen die Hecke ab, sein Sozius seufzte und spähte über die Schulter des Fahrers ebenfalls hinaus. Entgegen seiner Gewohnheit stromerte das Wildschwein, Empfänger der Seele Pater Largeaus, am helllichten Tag zwischen zwei Hecken herum; es war fröhlich an jenem Morgen, das Gestrüpp roch nach Winter und Graupel, nach toten Vögeln und strenger Kälte, und es lief mit dem Rüssel fast am Boden, um unter dem Schirm der Bäume Schutz zu suchen, denn es hatte das Brummen des Motors gehört und gesehen, dass sich der blaue Renault-Kastenwagen näherte, hatte seine Vibrationen gespürt und sich entschieden, schleunigst in Deckung zu gehen, es würde ihm nicht noch einmal einfallen, tagsüber durch die Gegend zu ziehen, dazu war hier zu viel los, es musste das Weite suchen, in das Wäldchen laufen mit seinen Wasserlöchern, seinen Schlammkuhlen, in denen man sich so gut suhlen konnte, und vor allem musste es zurück zu seinen Bachen, denn Dezember war ein Brunftmonat, der Monat der Rivalität und der Kämpfe unter den Keilern und des großen Vergnügens der Paarung für die Sieger: Das Wildschwein mit der Priesterseele war ein einsamer junger Eber, der bald auf die begehrte Bache treffen würde; Angst und Begierde machten ihm Beine an jenem Morgen, als es galt, ins schützende Dickicht zu gelangen, ohne von den beiden Gesetzeshütern in ihrem Streifenwagen bemerkt zu werden, aber schon einige Sekunden später brüllten die beiden Polypen vor Schreck, denn ein heftiger Aufprall hatte beide gegen die Windschutzscheibe ihres Wagens geschleudert; sie fluchten, überschütteten sich mit Beschimpfungen, ohne zu erfassen, was eigentlich passiert war, aber man musste sich den Tatsachen beugen: Sie steckten mit der Vorderachse ihres Wagens in einem Loch. Vorsichtig stiegen sie aus, und tatsächlich zog sich ein Graben ein Meter breit und ebenso tief durch den Weg; das Fahrzeug war mitten hineingefahren, die vordere Stoßstange hatte sich verklemmt, die Vorderräder hingen im Leeren. Das ist deine Schuld, du Vollpfosten, meinte der Zweite. Von wegen, da kann ich doch nichts für, gab der Erste zurück. Trotzdem idiotisch, du hättest wenigstens gucken können, wohin du fährst, setzte der Zweite nach. Wie hätte ich denn bei der Verfolgung eines Verdächtigen, der in Richtung Trafohäuschen abhaut, ahnen sollen, dass hier eine solche Sauerei von einem Graben lauert, maulte der Erste. Tja, jetzt sind wir ja auch gut vorangekommen, philosophierte der Zweite. Wozu dient das Loch eigentlich?, wollte der Erste wissen. Zur Blockade von Polizeiautos, erklärte der andere trocken: Ist ein Panzerabwehrgraben. Der Schnee klebte an ihren marineblauen Pullovern; sie froren und schlüpften in ihre Dienstjacken. Und jetzt?, fragte der Zweite. Jetzt holen wir die Kiste da raus, meinte der Erste und kletterte zurück auf den Fahrersitz. Schieb du von vorne, fügte er hinzu. Na klar, grunzte der Zweite, sehe ich vielleicht wie ’n Riese aus? Ich kann ja schlecht gleichzeitig schieben und fahren, brachte der Erste vor.
Nichts zu machen. Trotz allem Kraftaufwand und einem Rollentausch erreichten die beiden Gendarmen nur, dass ihre Jacken eine volle Ladung Schlamm abbekamen, den die Räder nach hinten spritzten.
Die hätten uns auch ’nen Allrad geben können, wetterte der Erste.
Die wussten eben nicht, dass du fahren würdest, spottete der Zweite.
Wir müssen anrufen, damit sie uns jemanden schicken, seufzte der Erste.
Da werden wir was zu hören kriegen, prophezeite der Zweite.