Als die Lebenskraft den Körper des erhängten Jérémie, Lucies Urgroßvater, verließ, schickte ihn eine endlose Kette von ursächlichen Zusammenhängen nach einer sehr kurzen Reise durchs Bardo mehr als vierhundert Jahre früher ins Leben zurück, denn das Schicksal, wo alles miteinander verbunden ist, in einem riesigen Geflecht unsichtbarer Fäden, kennt keine Zeit. Als er in der bitteren Februarkälte des Jahres 1551 wieder den ersten Atemzug tat und zu Bewusstsein kam, schrie er, ohne zu wissen, dass er gerade an der Seele seiner damaligen Mutter vorbeigerauscht war, die gleich nach ihrem Tod im Kindbett ins Lebensrad stieg, während noch das Blut an ihren Schenkeln klebte, das die respektvollen Totengräber sorgfältig abwuschen, bevor sie den Leichnam in ein makelloses Leichentuch hüllten und der Verwesung im fleischfressenden Sarg übergaben, Adieu, junge Mutter, schön und sanft wie alle Mütter. Es hätte nicht viel gefehlt, und Jérémie wäre nicht hier und jetzt in diesem eisigen Herrenhaus von Saint-Maury in der Nähe von Pons-des-Charentes unter der Herrschaft Heinrichs II. geboren worden, denn sein Vater hatte lange gezögert: Als der Arzt ihm ins Ohr flüsterte, dass der Herr in seiner Güte zulassen würde, dass man eines der beiden leidenden Wesen rettet, aber nur eines von beiden, entweder seine Frau oder sein noch ungeborenes Kind, musste er sich entscheiden. Dem hartgesottenen Hugenotten war es nur unter allergrößten Mühen gelungen, einen zweifelhaften Adelsstand zu erlangen, er beschloss, dass man das Kind ins Leben holen solle, damit sich sein Stamm vermehren könnte und sein junges Geschlecht eine Chance bekäme, sich auszubreiten, denn das war ihm am wichtigsten. Wenn die Ehefrau überlebte, war es wenig wahrscheinlich, dass sie noch einmal gebären würde, aber solange sie lebte, würde er nicht noch einmal heiraten können – also opferte er die Gebärende für die Frucht ihres Leibes, und in der bitteren Kälte der Welt brüllte Lucies Urgroßvater erneut, vergaß aber bald das Seil, das Knacken der Halswirbel und den endlosen Sturz, die seine frühere Existenz vierhundert Jahre später und fünfzig Meilen entfernt beendet hatten. Man wusch ihn, gab ihm den Namen Theodore, aber auch Agrippa, was »der unter Schmerzen Geborene« hieß, damit das Kind sein Leben lang nicht vergaß, dass es sein Leben dem Tod seiner Mutter verdankte. Man vertraute ihn der Fürsorge einer bäuerlichen Amme an, die seit ihrer ersten Geburt die Kinder anderer stillte, eine menschliche Milchkuh, sanft und dick, die das Haar des Neugeborenen zärtlich streichelte und traurig sein würde, wenn man es ihr, wie es immer der Fall war, wieder wegnahm, traurig wie das mutterlose Kind, das geglaubt hatte, an dieser geliehenen Brustwarze die mütterliche Zärtlichkeit zu entdecken, die es niemals erleben würde – und da die eifersüchtige neue Stiefmutter den Sohn aus erster Ehe schnell verdrängte, lernte er auch keine väterliche Zärtlichkeit kennen. Von seinem Vater bekam er einen starken Willen, eine seltene Energie und eine von Calvin und der Reformation geprägte Erziehung mit auf den Weg, jener Reformation, die die Region zwischen Loire und Gironde, die erst seit rund fünfzig Jahren Frieden kannte, wenn auch ungewollt, fünf Herrschaftszyklen lang dezimieren und für lange Zeit die Leiden und Vergnügen des Krieges dorthin zurückbringen sollte. Agrippa lernte Latein, Griechisch, Hebräisch und die Heilige Schrift, bevor er die Gegend verließ, die er später als Soldat mit Krieg überziehen sollte und die seine Seele und sein Gewissen geprägt hatte: Dieser Fanatiker des Evangeliums wäre ziemlich überrascht gewesen, wenn er erfahren hätte, dass er in einem vorherigen Leben ein armer Bauer gewesen war, der sich vier Jahrhunderte später vor Kummer erhängt hatte. Man erzählt sich, als Kleinkind habe er eines Abends gespürt, wie sich jemand seiner Bettstatt näherte und sich zu ihm legte; eine bleiche weiße Frau, die ihm einen eisigen Kuss auf die Wange drückte. Er war darüber so verstört, dass er zwei Wochen lang das Bett hüten musste, und auch wenn er es nie und nimmer wagte, diese Erscheinung ein Gespenst zu nennen, vergaß er diese kalte und unbekannte, allerletzte Liebkosung nicht, so wenig wie die Köpfe der gemarterten Protestanten in Amboise, die von Fliegen und Schmutz überzogen an einem Galgen hingen; zu diesem Zeitpunkt war er acht Jahre alt, und vielleicht rührte die ganze Gewalt, zu der er später fähig war, die schreckliche Rache, die er übte, seine Gnadenlosigkeit, seine Blutgier und Mordlust, über die er das Evangelium vergaß, von diesen beiden Kindheitserlebnissen her, einem zärtlichen Gespenst und einem Dutzend abgetrennter Köpfe, die an ihrem Haar aufgehängt in der sanften Sonne des Anjou langsam aufquollen. Théodore Agrippa d’Aubigné wird den Totengräbern Arbeit geben, er wird den Krieg genießen, mit Vergnügen töten, plündern, Festungen, Dörfer, Bauernhöfe einnehmen und trotz aller Lehren und Briefe dem dunklen Weg seiner vorherigen Inkarnation blind folgen, mit seiner Soldateska den Weiler niederbrennen, in dem Jérémie sich in blinder Wut erhängt hat, ebenfalls ohne zu verstehen, dass alles miteinander zusammenhängt, dass alle Feindseligkeit fortdauert und sich in den wandernden Seelen ansammelt wie Schlick am Ufer – Agrippa, geblendet und getäuscht vom Hass, wird den Krieg und das Rachewerk für die protestantische Partei fortführen, die ohne ihren Widerstand mit Waffengewalt sicher nicht überlebt hätte. D’Aubigné, der größte Dichter seiner Zeit, verbrachte seine Jugend als glühender Christ unter den abtrünnigen Kindern in den Kämpfen von Jarnac bis Orléans; er wurde Knappe Heinrichs von Navarra, den er später verachtete, als Navarra abschwor und auf die Seite der Papisten wechselte; D’Aubigné wurde Dichter, um für die Verfehlungen seiner Jugend zu büßen, in der er mehr als jeder andere für die Freiheit gelitten und sie genossen hatte, die schöne Freiheit, die Bibel in französischer Sprache zu lesen, jener neuen und noch wilden Sprache, die er mehr als jede andere liebte und die er in den kleinen Büchern lesen konnte, die Calvin in Genf drucken ließ, wohin der junge Agrippa ging, um zu studieren. Dort war er allerdings unglücklich, fühlte sich einsam, hatte keine finanzielle Unterstützung; er flüchtete sich nach Lyon, wo er versucht war, sich in die Saône zu stürzen, Selbstmord zu begehen, um sein Elend zu beenden, so wie sein Ahnherr Jérémie sich erhängt hatte, oder besser gesagt, sich erhängen würde, um seine Gewissensbisse loszuwerden – einer Eingebung folgend, die vielleicht aus seinem vorherigen Leben stammte, trat Agrippa von der Brüstung zurück und ging von der Brücke herunter: Dank eines jener Zufälle, für die nur das Schicksal zu sorgen weiß und die immer eine Bedeutung haben, ob man sie Auspizien oder Vorzeichen, Zeichen oder Omen nennt, trifft er genau in diesem Moment auf seinen Vormund, der sich nach Genf aufgemacht hatte, um ihn finanziell zu unterstützen, und dieser Mann konnte nicht ahnen, dass ihre zufällige Begegnung den jungen Agrippa davon abhalten wird, sein Leben zu beenden, und dass er ihn stattdessen ins Vergnügen der Schlachten werfen würde. Um die edlen Märtyrer der protestantischen Sache zu rächen, die man in Amboise, in der Saintonge und in Paris verbrannt oder lebendig begraben hatte, schließt sich Agrippa den Truppen von Condé und Coligny an. Er entgeht ihrem fürchterlichen Schicksal in der Bartholomäusnacht: Im Hemd entkommt er nachts aus dem Zimmer, in das man ihn eingesperrt hat aus Angst, er könnte bewaffnete Männer um sich sammeln. Er ist siebzehn, das Alter des Unverstands. Bei einem ersten Scharmützel mit den Papisten kommt er zu seiner ersten Ausrüstung. Da ich nicht schlechter gerüstet aus dem Krieg hervorgehe, als ich in ihn ziehe, werde ich ihm nicht vorwerfen, dass er mich ausgeplündert hat, notiert er auf einem Schuldschein. Mit einer Arkebuse, einem Helm und einem Brustpanzer, den er einem Toten abgenommen hat, tritt er in den Krieg ein.

 

*

 

Marcel Gendreau, der schriftstellernde Lehrer, war also gezwungen, das Dorf zu verlassen. Er bat seinen Schulinspektor um sofortige Versetzung und erhielt eine Stelle sieben Meilen südöstlich, in Échiré, dem Marktflecken, in dem er geboren war, im Land der Butter und der stolzen Burgen. Er fand ein Schulhaus nicht weit entfernt von der Sèvre und traf auf Kinder in kurzen Hosen und mit aufgeschürften Knien, die alles in allem denen recht ähnlich waren, die er gerade verlassen hatte – er tauschte die Feder gegen die Angelrute und beobachtete, auf einem Faltstuhl sitzend und an eine Pappel gelehnt, bis ins hohe Alter den schillernden Fluss, die schnappenden Weißfische und die grasenden Kühe, und jedes Mal wenn er mit Blick auf die Chalusson-Anhöhen, hinter denen die Sonne aufgeht, seine Angelrute zusammenschob, den Hakenlöser und das Taschenmesser in seinen Weidenkorb legte, musste er unwillkürlich an die tote Louise und ihren Bastard denken, möge Gott ihm beistehen, mögen die Engel ihnen beistehen, und er versuchte, sich für etwas anderes zu interessieren, für andere Geheimnisse, für den unsichtbaren Schleim auf den Schuppen von Fischen, der sie glitschig macht, so dass sie nicht zu fassen sind, oder für die grausamen Stacheln auf den Rücken der Barsche, die sich fröhlich in seine Finger bohrten.

Er versuchte zu vergessen, dass er ein Buch geschrieben hatte: Manchmal begegnete er donnerstags, am Markttag in Niort, in der Markthalle dem Drucker Chiron, der ihn mit einem freundschaftlichen Klaps auf den Rücken begrüßte und an einem Tresen zu einem Gläschen Weißwein einlud. Doch wenn Marcel Gendreau, verwirrt durch die Begegnung, nach seiner Heimkehr ein Exemplar seines Werks in die Hand nahm und verlegen, ja, angewidert darin blätterte, stellte er fest, dass dies nicht mehr sein Text war, dass es niemals seiner gewesen war, als erinnerte er sich nicht mehr an die Stunden, die er mit ihm verbracht hatte, an die Worte, die er aneinandergereiht hatte, an die Leute und das Dorf in der Ebene, in dem er fast zwanzig Jahre lang gelebt und gearbeitet und das er dann vergessen hatte wie einen Groschen, der lautlos aus einer löchrigen Tasche fällt. Marcel Gendreau begann, beim Angeln Sonette zu dichten, Verse, die er niederschrieb, sobald er nach Hause kam, seine Schäferdichtung, omnia vincit amor, Liebe überwindet alles, paludum Musae, o Musen der Sümpfe, kommt unter diese kühle Buche und lasst uns singen, kommt in den schläfrigen Schatten dieser Ulme und lasst uns in Versen voller Tragik von der Liebe singen, Verse, die den aufmerksamen Leser an das Schicksal Jérémie Moreaus erinnert hätten, des Erhängten, dessen großer Zeh aus dem Strumpf herausschaute: In der Sommernacht, in der für ihn alles zusammenbrach, vertraute der Kriegsheimkehrer Jérémie Moreau, die Augen voller Tränen und Auguststerne, seinen Schmerz und seine Demütigung darüber, das Gemetzel überlebt zu haben, dem Himmel an, um dann durch einen Fensterladen zu sehen, dass der gewölbte Bauch seiner Frau verschwunden war – da war kein Kind, kein Früchtchen im Mutterleib, und es schien ihm völlig klar, dass er Opfer eines Zaubers geworden war, einer Hexe, dunkler Magie, den Grund dafür kannte er nicht, aber nun verstand er das heimliche Hohngelächter Longjumeaus, die Grimassen Chaudanceaus, das Grinsen der Brüder Chaigneau, sie alle hatten sich über ihn lustig gemacht. Unter den Sternen weinte er vor Wut und dachte an den Verantwortlichen für diesen Betrug, den Anführer dieser Kumpanei, seinen Schwiegervater, den Verfluchten, der ihn von Anfang an manipuliert hatte, und Jérémie war so erschöpft von der Wut, der Angst, der Enttäuschung und dem finsteren Sternengefunkel, dass er seine Augen über seinen Tränen der Scham und des Stolzes, seinen in den Mundwinkeln brennenden Männertränen schloss und einschlief.

Am nächsten Tag hätte er sich den Blicken und Sprüchen stellen müssen, hätte die Wut, die Erniedrigung lautstark mit Worten, mit Schlägen, mit Schreien bekämpfen müssen, hätte gegen das Gelächter im Dorf ankämpfen müssen, hätte Louise und den Schwiegervater stellen, brüllen, die Axt, die Hacke, die Hippe schwingen und das Andenken dieser ganzen Familie, des ganzen Dorfs mit Blut überziehen müssen, aber er tat nichts dergleichen. Nichts. Jérémie brach die Tür zu seinem eigenen Haus auf und zog wieder ein; er ließ die Fensterläden offen, so dass man seine Anwesenheit in dem weißen Bruchsteinhaus bemerken konnte, das heute sein Sohn, Lucie und Arnaud bewohnen, hundert Meter entfernt vom Hof seines Schwiegervaters, Louises Vater, der die Verräterin und den Bastard aufgenommen hatte, und dies schon vor geraumer Zeit, dem Staub auf dem langen Eichentisch und den Spinnennetzen zwischen den Balken nach zu urteilen.

Während der Besatzung sprach er mit fast niemandem. Er tauchte nicht mehr in den Cafés auf, spielte nicht mehr Trut oder Belote; er betrank sich in der Einsamkeit, schluckte ganze Fässer von dem Fusel, mit dem sein Keller gefüllt war, und erging sich in Selbstmitleid über sein Schicksal als armer Schlucker, Ehemann ohne Frau, Vater ohne Sohn, Bauer ohne Land. Louise, ihr Bastard und ihre Eltern taten so, als würden sie ihn nicht sehen. Für sie war er Luft. Für alle. Als er zum Rathaus ging, um auf Anweisung der Besatzer sein Jagdgewehr abzugeben, unterhielt sich der Bürgermeister gerade mit einem kaum zwanzig Jahre alten, blonden und sehr bleichen Boche in grüner Uniform, der dem Stadtoberhaupt einen Stapel Papiere übergab. Der Bürgermeister unterbrach sich nicht einmal für ein He, Moreau, was führt dich hierher? Jérémie wartete fünf Minuten, zehn Minuten, das Gespräch dauerte an; er versuchte höflich, sich bemerkbar zu machen, hallo, Bürgermeister, nichts half, er erntete nur einen erzürnten Blick, also schulterte Jérémie sein Gewehr wieder – jenes Gewehr, das ihm sein Schwiegervater als Mitgift gegeben hatte – und ging. Alkohol machte ihn aggressiv, das wusste jeder; einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, die beiden Kugeln im Doppellauf abzufeuern, eine in die Brust des Bürgermeisters, die andere in den deutschen Blondschopf, mehr als sechsunddreißig Gramm Blei aus nächster Nähe verdienten die beiden Bastarde nicht, sie würden das Gehirn des Fritzen und die Bronchien des Bürgermeisters gut durchlüften, dachte Jérémie, als er durchs Dorf ging; mit der rechten Hand umklammerte er den Schulterriemen der Schrotflinte, als zöge er damit in den Krieg, ist ja schließlich auch Krieg, der Krieg, der ihm Frau und Kind genommen hat, denkt er, er weiß, man hat ihn verhext, mit einem bösen Zauber belegt, er hat den bösen Blick auf sich gezogen, er weiß, dass seine Frau bei einer Zauberin war, um ihn loszuwerden, es wäre beinahe gelungen, der Krieg hätte ihn fast getötet, und jetzt sind es die Macht des Bösen, der Schmerz, die Jérémie Moreau zu überwältigen drohen, der Teufel, der wie ein scharfer Hund auf ihn losgelassen wird, das Böse, das ihn verbannt, ihn zum Einsiedler in den Wäldern macht, er wird laufen, sich auf die Macht des Hasses stützen, um weit wegzulaufen über die Ebene, in die undurchdringlichen Sümpfe hinter Benet, in die Gegend zwischen Coulon und Damvix, wo ihn niemand je finden wird.

Zu Hause packt Jérémie seinen Rucksack, jenen Armeesack, den er seit dem grünen England mit sich herumgeschleppt hat. Am Nachmittag holt er sein Fahrrad aus der Scheune und fährt nach Westen Richtung Vendée, um im Marais zu verschwinden.

Omnia vincit amor, Liebe überwindet alles, paludum Musae, o Musen der Sümpfe, kommt, lasst uns unter der kühlen Esche sitzen und singen, kommt in den schläfrigen Schatten dieser Ulme und lasst uns auf Latein, in Versen von tragischer Liebe, sündigen Leidenschaften und Christus invictus singen, in der Sprache Messalinas, der Sprache der Vergebung, der Begierde und der Medizin: Diesen Gedanken hing der schriftstellernde Lehrer Marcel Gendreau nach, als er mit der Angelrute in der Hand auf seinem Klappstuhl in einer Biegung der Sèvre saß, dort, wo das Tal sich sanft vor den Trauerweiden, den Pappeln und den Kalkfelsen in die grünen Felder ausdehnte – ein Stück weiter in Richtung der etwas gedrungenen romanischen Kirche von Échiré mit ihrem achteckigen, seit der Renovierung wieder hellen Glockenturm, der vom Mittelalter und den Plantagenets sehr solide in die Erde des Poitou getrieben worden war und dessen große Glocke im verblassenden Licht bald zum Vespergottesdienst und zum Zusammenschieben der Angelrute läuten würde, schillerten die Schieferdächer des Château de la Taillée in der untergehenden Sonne wie der Rücken eines Barschs. Marcel Gendreau wusste um die Taten und das Treiben Jérémies des Wilden im Marais, um die langen, dunklen Jahre, die verlorenen Jahre bei den wütenden Libellen und den Fröschen im Frühling, in herbstlicher Stille und beschwerlichem Winterschlamm – er hatte sogar die Hütte gefunden, in der Jérémie der Verrückte drei Jahre lang über den Hass auf seine Mitmenschen gebrütet und nur zwei Besuche erhalten hatte, beide gleichermaßen tragisch: den ersten von Gendarmen, die den kleinen Chaigneau suchten, und den zweiten vom kleinen Chaigneau selbst, in Panik wie ein Spatz, der in einer Scheune eingesperrt ist, die Augen in ständiger Unruhe, so verängstigt, dass er sogar Jérémies Gastfreundschaft ausschlug, während dieser versuchte, ihn zu beruhigen, mein Gott, nun fasse dich doch, die Polypen waren doch schon hier, sie haben dich nicht gesehen, so schnell werden sie nicht wiederkommen! Aber nichts half, und der kleine Chaigneau ging in seinem Schicksal unter, das wie Pech an ihm klebte und blutig war wie der Marais selbst.

Jérémie mochte sein Leben in der Hütte; ein Leben so glanzlos und frei wie ein Axthieb, ein Leben aus Lehm und Holunder, Schwarzwurz und Brennnessel, Plötzen und Schnecken – morgens zog Jérémie schon in der Dämmerung durch den Marais (ohne das Blätterdach der hohen Bäume, die Zuflucht der ruhig und friedlich verflochtenen Wasserwege zu verlassen) und sammelte, pflückte und angelte, was er zum Leben brauchte; nachmittags spaltete er sein Holz, hackte die wenigen offenen Gemüsereihen in der schwarzen Erde, fing ein Kaninchen oder Rebhuhn, das er gegen Wein, Schnaps und andere lebenswichtige Güter – Schnur, Streichhölzer, Tuch – eintauschte; der erste Winter war dunkel und kalt, bis Jérémie den alten gusseisernen Ofen aus dem Dorfhaus zu sich holte. Die folgenden Jahre verbrachte er in Gesellschaft der Flammen, die wie laszive Hexen auf den Holzscheiten tanzten und manchmal grunzten, je nachdem, wie gut der Ofen zog, und dabei stellte er sich den Atem fantastischer Tiere vor, von Greifen oder Feuerhunden. Wenn er nach Hause kam, roch die Umgebung der Hütte nach verbranntem Holz, und dieser Duft, der sich mit der feuchten Kälte vermischte, erinnerte ihn unmittelbar an seine Kindheit, den Geruch kurz vor dem ersten Schnee, und manchmal schneite es tatsächlich. Oft dachte er, den Blick auf die Flammen gerichtet, an den Zauber, mit dem er belegt war, an den Fluch, der auf ihm lastete, dieses abgekartete Spiel, und ihn packte die Wut, der Zorn, der Hass; dann griff er zur Axt und rächte sich an den dicken Ästen der Ulmen. Oft träumte er von Louise, sah sie im Dunst, wenn der Nebel über den Sümpfen tanzte. Selten zog er in größter Verzweiflung die Schrotflinte aus seinem Versteck und steckte die beiden Läufe unter sein Kinn, gegen seinen Adamsapfel oder in seinen Mund; noch seltener schloss er fest die Augen und drückte mit ausgestrecktem Daumen und ausgestrecktem Arm auf den Abzug, bis er das Klicken des Hahns ins Leere hörte und sich seinen eigenen Körper leblos in einer Blutlache vorstellte, das Gehirn von der Ladung weggeblasen.

Um seinem Schicksal zu spotten, nagelte Jérémie Moreau nachts Kröten an die Türen; er war sehr schmutzig, hatte einen langen Bart und roch übel nach verfaultem Fisch und Schlamm; jeder hielt Jérémie für verrückt, für verrückt und für einen Zauberer, besonders seine Frau, die ihn so sehr fürchtete, dass sie glaubte, er verfolge sie bis in ihre Träume mit seinen bösen Zaubersprüchen und seinem Prophetennamen.

Jérémie Moreau, der Rohling, war ein anderer geworden, anders als zuvor; wie Wasser und Eis den Stein aufsprengen und ihm schließlich eine andere Form geben, war Jérémie ein durch die Zeit und den Regen verwitterter Wasserspeier über der Pechnase einer Burgruine – eine Schreckensgestalt mit hasserfülltem und vom Fasten entstellten Gesicht: Er war an den Prüfungen gewachsen, hatte zugelegt an Bosheit und Schläue.

Mit seiner Rache wartete Jérémie Moreau bis zum Kriegsende.

Er wartete auf den ersten Ball nach der Befreiung, der schon stattfand, während die Deutschen noch immer sechzig oder achtzig Kilometer vom Dorf entfernt in und um La Rochelle waren; er wartete und ernährte sich derweil von Beifuß und Hass, von seiner Wut und dem Wind in den weißen Pappeln. Der Sommer war fröhlich und brutal, flirrend vom Korn, Dreschmaschinen fuhren von Bauer zu Bauer, von Hof zu Hof; einhundertfünfzig Deutsche rächten sich mit ihren Panzern und Kanonen an den Städten im Norden des Deux-Sèvres; die Sterne zogen wie Omen oder Flugzeuge über den Himmel; die Luft duftete nach Sauermilch und Kordit. Das Wasser in den Sümpfen trübte sich kein bisschen ein, die Nazi-Truppen aus dem Südwesten wurden an die Front im Norden zurückbeordert, die Straßen waren eine Zeitlang voller Soldaten in graugrünen Uniformen, dann kehrte die Ruhe zurück – und mit ihr die Tellermützen der Streitkräfte des Inneren.

Am 2. September 1944 kam Jérémie ins Dorf. Poupelains Sohn erzählte dem Lehrer Gendreau, er habe ihn, versteckt im Schatten, mit einem Bündel unter dem Arm gesehen, während noch getanzt wurde; er sei allein gewesen. Niemand sonst hat ihn gesehen, weder die Wirte in den Cafés noch die Tänzer, weder der Krämer noch der Bäcker. Vor allem nicht Louise, ihr Sohn oder ihre Eltern. Nach so vielen Monaten dachte Louise fast nur noch in ihren Alpträumen an Jérémie. Der Krieg schien vorbei zu sein, der Bastard war gediehen und war stark, sie liebte dieses Kind, das in Windeseile zum Jugendlichen wurde, von ganzem Herzen. Sie hatte auf dem Ball mit jungen Leuten getanzt, die stolz die Armbinde der Résistance trugen; ein Sänger und ein Akkordeonspieler trällerten Schlager im Patois, die man gerade überall hörte – die Angst vor den Boches war vorüber, eilig besang man ihre Niederlage:

 

Auf einmal, zum Teufel, waren sie überall,

Wie Kartoffelkäfer im August,

Wir mieden die Straße, denn auf all

Die Krautfresser hatten wir keine Lust,

Das Blatt schlug um, sie kamen ins Schwitzen,

Bald zogen sie ab, jedoch nicht friedlich,

Schön ist das Leben ohne Fritzen,

Wir sind sie los, die Dörfer glücklich.

 

Und der Abzug der Besatzer, von denen man so wenige im Dorf gesehen hatte, gab wie alle Schlachten, die gewonnenen wie die verlorenen, Anlass zu Ausgelassenheit – Louise war völlig egal, warum, sie liebte die Musik, feierte gern und achtete nicht darauf, welche Gassenhauer gerade gespielt wurden. Zwar quietschte das armselige Piano lauter als die Wasserpumpe eines Brunnens, und der Caruso krächzte wie eine Saatkrähe auf dem Feld, aber es war eine große Freude für die Leute aus dem Dorf, auf der Kreuzung vor dem Rathaus zusammenzukommen und nicht allein vor dem Radio zu hocken, auch wenn dort die Musik besser war. Und außerdem musste die Befreiung, musste Frankreich doch gebührend gefeiert werden.

Louise war mit ihrem Sohn zusammen nach Hause gegangen, jenem Sohn, der Jérémies Leiche später in der Scheune an einem Balken hängend entdecken würde, die Holzpantinen im Stroh, den nackten Zeh anklagend aus der Socke ragend, demselben Sohn, der im 21. Jahrhundert nach dem Genuss einer Schachtel belgischer Pralinen und einer Flasche Schnaps das Zeitliche segnen würde, Kinder und Enkelkinder hinterlassen sollte und der am damaligen Abend gegen Mitternacht im oberen Stockwerk, über seiner Mutter, ruhig zu Bett ging – Louise war im Erdgeschoss, in jener Ecke, die auf den Hof hinausging, in der sie Jérémie drei Jahre zuvor gesehen hatte, als sie sich auszog, und nun war Jérémie wieder da, stand dort, an derselben Stelle, im Schatten hinter dem Tor, mit seinem langen Bart und den von Traurigkeit, Sehnsucht und Wahnsinn gelben Augen – Jérémie beobachtete seine Frau durch die Spitzenvorhänge und die angelehnten hölzernen Fensterläden; sie trug ein flaschengrünes, in der Taille gegürtetes Kleid mit kurzen, leicht gepufften Ärmeln, rotem Bubikragen und Knöpfen bis zum Gürtel; das Kleid reichte ihr bis knapp unters Knie, und Jérémie betrachtete ihre von den hohen Absätzen geformten Waden, ihre schlanken Fesseln. Er erinnerte sich an Louises Körper, ihre Umarmungen, die Brüste unter seinen Händen, die Nässe ihres Geschlechts an seinem Finger, wenn er sie vorbereitete, an die Kraft der Entladung, den Parfümgeschmack in seinem Mund, wenn er lange Zeit ihre Brust geleckt hatte, wie ein Hund das Schweineblut vom Boden leckt, um seine Zunge daran zu reiben, und diese Erinnerungen schürten den Hass, den Wahnsinn und die Sehnsucht Jérémies, der ächzend sein verfluchtes Paket umklammerte und darauf wartete, dass Louise das Fenster öffnen würde, um die Fensterläden zu schließen, der zitternd wartete, weil er seit Monaten auf diesen Augenblick gewartet hatte, auf die Befreiung, seine Befreiung, nicht die von Frankreich, und bei diesem Gedanken hatte er für einen kurzen Moment den Krieg vor Augen, das Drachenmaul des Krieges, komm schon, Louise, öffne das Fenster, um die Läden zu schließen, es ist Zeit, öffne das Fenster und streck deinen Kopf heraus, beuge dich vor und entriegele den Halter. Louise stand vor ihrem Spiegelschrank, betrachtete sich in ihrem hübschen Kleid und pfiff leise vor sich hin, senkte ihr Kinn, als wollte sie den ersten Knopf lösen, und plötzlich erinnerte sie sich an die noch offenen Fensterläden, und Jérémie spürte sein Herz klopfen und wie eine Kastanie im Feuer zerspringen, wie hinter einem MG, wenn es die Körper zerreißt, Louise drehte am Fenstergriff, öffnete die Fensterflügel und lehnte sich hinaus in die dunkle Nacht.

 

 

Spiel ohne Ansage; links hat gegeben; Paco hat den Pik-Buben aufgenommen; Régis, in Not, greift an.

 

Der dicke Thomas beobachtete melancholisch die Belote-Partie; er spürte einen neuen, kühlen Hauch im Nacken, eine Kühle, die bedeutete, dass er Lynn erst in einem Monat wiedersehen würde. Der dicke Thomas hatte Lynn lange mit Stielaugen hinterhergeschaut, wie sie beim Verlassen des Angler-Cafés ihren Hintern wiegte, doch Schluss mit dem Gejammer, jetzt verfolgte er mit großem Interesse das Spiel: Régis hatte mit Karo eröffnet, seltsam, Paco hatte Pik als Trumpffarbe gewählt und den Pik-Buben genommen, wieso eröffnest du dann mit einer niedrigen Karo, einer scheiß Lusche, das verspricht nichts Gutes, keinen Trumpf auf der Hand, kein einziges Ass, ein elendiges Blatt, Régis wusste, wie das Spiel geht; Thomas konnte Pacos hochrotes Gesicht nicht sehen, weil er ihm den Rücken zukehrte, aber er hätte es gern getan: Bei 50 Cent pro Punkt juckt und kribbelt es ganz schön, wenn man dabei ist, da kannst du noch so ein Gesicht ziehen, du hast dich auf den aufgedeckten Buben gestürzt, hast ihn genommen, den Pik-Buben, und dein Partner hat nicht einen verdammten Trumpf auf der Hand, nicht einmal ein Ass, und das heißt, dass Patarin alle Pik hat, sonst hätte Alain diesen verlockenden Buben genommen, unglaublich. Zwei Knilche, die zwanzig Punkte sausen lassen, das ist nicht normal. Das Leben ist ungerecht.

Thomas spielte gern Karten, weil er es liebte, wenn andere Pech hatten; ihm lag mehr daran, die anderen verlieren zu sehen, als selbst zu gewinnen, und wenn er manchmal eine kleine Partie Hold’em veranstaltete, machte es ihm nicht nur Spaß, zu gewinnen, sondern auch, zu beobachten, wie die armen Kerle um das Geld kreisten. Jetzt, da alle online spielten, gab es immer weniger Leute im Café, aber Thomas konnte sich auf seine Stammgäste verlassen: Das Angler-Café war die einzige Bar in der Gegend, in keiner der umliegenden Ortschaften hatte sich eine Kneipe gehalten. Es ist der Leuchtturm der Ebene, sagte Thomas, und der Bürgermeister Martial Pouvreau brüstete sich vor seinen Amtskollegen aus den benachbarten Käffern damit, wir haben die Bar-Tabac mit Anglerbedarf; und in der Tat war die ganze Gegend glücklich, dass man dort bei einem kleinen Côte-de-Irgendwas oder einem Blanc-Cassis einen Lottoschein ausfüllen oder Angelzeugs kaufen konnte, Maden, rote, gelbe, grüne oder weiße Mystic™-Köder in Tuben wie Uhu™, oder künstliche Köder von Dudule™ in allen Schattierungen (die Thekenseite aus cremefarbenem Resopal zierte übrigens ein Werbe-Aufkleber aus der Zeit des Vaters vom dicken Thomas), Körbe, um Krebse zu fangen oder um die gefangenen Krebse am Leben zu halten, Angelschnüre, Vorfächer, Angelbleie und überhaupt alles Notwendige, um dem Angelsport zu huldigen. Thomas behielt diesen fischkundigen Fachhandel bei, auch wenn er so gut wie kein Geld einbrachte, denn er war selbst mindestens ein ebenso großer Liebhaber des Grundangelns wie des Kartenspiels; jeden Sonntag stellte er zwei oder drei Ruten am Sevreau bei Magné auf, wo er eine Hütte besaß – tagsüber Neunaugen, Weißfische und Schleien, abends in der Dämmerung, wenn sich der Fluss im Schatten der Weiden verdunkelte, Zander mit den Lebendködern, die er am selben Nachmittag aus dem Wasser geholt hatte: Man kann sagen, dass Thomas ein Experte war, er kannte nicht nur den Lauf der Sèvre und ihrer Mäander, sondern auch alle Gewässer, Kanäle, Wasserwege, Zu- und Abflüsse im Marais.

Paco behielt seine Zehn und warf mit Trauermiene seine Karo-Dame ab; auch Thomas begriff die Gefahr dieser Wahl, wenn bei der nächsten Runde die Zehn vom Ass gestochen würde: Patarin legte in der Tat mit einem breiten Lächeln seinen König auf die Dame – und spielte dann sofort sein Karo-Ass aus: Wenn Régis das bedienen muss, ist es die Beresina, dachte Thomas; er lehnte sich mit beiden Händen auf den Tresen, um besser zu sehen. Die Beresina: Régis hat die Karo-Acht und kann daher nicht Trumpf spielen, er hätte auch keinen spielen können, denn er hatte überhaupt keine Trümpfe – hätte er welche gehabt (Trümpfe oder Asse), hätte er niemals, absolut niemals mit Karo eröffnet und damit seinen Partner in diesen Schlamassel gebracht. Paco war Napoleon, er sah zu, wie sich die Punkte auf dem Tisch häuften wie die Pocken beim niederen Klerus: Ein Unglück kommt selten allein, Alain schaffte es, sein Pik-Ass loszuwerden, indem er das Ass seines Partners mit seinem Trumpf-Ass überstach. Thomas der Wohltätige konnte nicht umhin, auszurufen, zweiunddreißig Punkte mit einem Stich, meine Fresse, so gemein kann das Leben sein! Nicht immer gewinnt, wer den Trumpf aufnimmt! Wenngleich Paco wusste, dass er mit der Pik-Neun und der Pik-Acht in der Hand stechen musste, war ihm wie Napoleon in Moskau klar, dass sein Partner auf gut Deutsch ein Scheißblatt in der Hand hatte: Sonst hätte Régis selbst den Pik-Buben aufgenommen. Weniger begreiflich war, warum auch Alain den Pik-Buben hatte liegen lassen; ziemlich sicher, weil er dieses Pik-Ass in der Hinterhand hatte und überzeugt war, da Régis sich als Erster hatte entscheiden müssen, dass das erwähnte Ass sowie zahlreiche Trümpfe am Ende bei ihm landen würden, was sich als Fehleinschätzung herausstellte. Régis wusste, dass er diese Runde, so gut es eben ging, zu Ende bringen musste, indem er immer Farbe bediente und versuchte, die wenigen Punkte, die er hatte, zu Pacos Trümpfen auszuspielen (ihn zu schmieren, wie es vulgär heißt), und er lamentierte herum, weil er zum ersten Mal in seiner langen Karriere als Belote-Spieler einem Buben-Karree so nahe gekommen war. Aber dieses Spiel ging ohne Meldungen über die Bühne, mit fünfhundert Punkten zu 50 Cent pro gezähltem Punkt am Ende, und nach der verlorenen ersten Runde lagen sie 140 zu 22 zurück, was bedeutete, dass sie jeweils 20 Euro zurücklagen. Régis war ein bisschen wie der gute Marschall Ney beim Russlandfeldzug. Der Fürst von der Moskwa sah Napoleon beunruhigt und resigniert an.

 

 

Nach Ausspielen der Karo-Zehn. Paco trauert dem Capot nach, der Möglichkeit, alle Stiche zu machen.

 

Alain ist also vorn, nachdem er den Stich gemacht hat, und spielt sein Kreuz-Ass aus. Paco bedient mit Stöhnen wie eine Gebärende; noch hofft er, dass nicht alle Trümpfe in derselben Hand sind. Sollte Patarin die Belote und die Rebelote, also Trumpf-König und -Dame auf der Hand haben, wäre das nicht mehr die Beresina, sondern sein Waterloo. Da kommt die Kreuz-Zehn, jaja, Régis opfert seinen Kreuz-Buben; Alain zögert einen Moment und spielt dann eine Herz-Acht, eine Farbe, von der Patarin einmal mehr wie durch ein Wunder das Ass besitzt. Régis legt angewidert seine Herz-Sieben drauf.

Die Hälfte der Partie ist um, und Paco hat noch keinen Stich gemacht, dabei hatte er geglaubt, er könnte alle machen.

 

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Der erste Laut, der sich in Patarins Gedächtnis eingeprägt hat, ist der Schrei des Schweins, das zur Schlachtung geführt wird, und der erste Geruch der nach verbrannten Borsten, die man mit dem Schweißbrenner absengt. Patarin der Fleischer war der Sohn Patarins des Fleischers, der selbst Sohn Patarins des Schweinehirten war, Schlachter und Fleischzerleger vom Vater zum Sohn, bis eine kleinliche Gesetzgebung darauf bestand, dass die Ferkel nicht mehr mit den Füßen an einer Traktorgabel aufgehängt werden durften, um sie in den Hinterhöfen ausbluten zu lassen; das Handwerk hatte sich stark verändert. Patarin kochte noch immer Würste und Pasteten, Rillettes und gefüllte Schweinelenden, aber mit dem Fleisch von Schweinen aus der benachbarten Gâtine, die geschlachtet, in Viertel zerteilt, in Kühlwagen geliefert wurden; er fuhr mit seinem Verkaufswagen durch die Lande, einen Tag zu Hause in La Pierre-Saint-Christophe, einen in Coulonges, einen in Parthenay, einen in Coulon und einen in Champdeniers oder Cherveux. Patarin hatte seinen rollenden Marktstand, wie er ihn nannte, mit seinem Wappen bemalen lassen, das er wie folgt beschrieb: Zwei einander zugewandte Eberrüssel in Silber über einem gewölbten grünen Band, das mit »Patarin Sohn« warb, bekannt im ganzen Bas-Poitou für die Qualität seiner Produkte, seiner Blutwurst oder seiner Brathähnchen, deren gelblicher Bratensaft sich über Kartoffeln ergoss, so dass sie appetitlich im Fett schwammen. Patarin war froh, in diesen holzbefeuerten Hähnchengrill investiert zu haben, dessen Duft die Kundschaft mindestens genauso anzog wie die glänzend rote Lackierung des brandneuen Lieferwagens. Patarin spielte schon als Teenager Belote, oft mit denselben Partnern; er nahm gern an Turnieren teil, von deren Austragung er auf seinen Fahrten durch das Département Deux-Sèvres erfuhr. Er wäre äußerst überrascht gewesen, wenn man ihm erzählt hätte, dass er nach seinem Tod als Graugans wiedergeboren würde, dass er jedes Jahr im Herbst in seiner Heimat Polen losfliegen und mit einem gewaltigen Flügelschlag Tausende von Kilometern zurücklegen würde, um im Marais und auf den Salzfeldern der Bucht von Aiguillon zu überwintern. Patarin wusste natürlich auch nicht, dass er in seinen früheren Leben eine ganze Schar von Arbeitern, Landarbeitern und armen Mönchen gewesen war, auch mal ein Schleifer, ein Gastwirt und vor sehr langer Zeit, um das Jahr 507 herum, als sich in den Ebenen zwischen Tours und Niort, wo die Heiligen unterwegs waren, noch viele Wunder ereigneten, sogar ein Pferd, ein kleiner ungestümer Fuchs mit breiter Brust und glänzendem Fell. Das Pferd, das später einmal Patarin wurde, trug einen fränkischen Kriegerkönig mit Schwert und Franziska, der aus Tournai gekommen war, um das Territorium des Goten Alarich zu erobern, des Königs von Aquitanien und Hispanien. Der Krieger hat erst kurz zuvor Götzen und Dämonen abgeschworen, er respektiert den heiligen Martin und den heiligen Hilarius, wenn auch weniger als sein Wurfbeil, seinen Scramasax und sein Reittier, diese andere Form der Dreifaltigkeit – wie vertrackt es mit diesem Gott in drei Personen doch ist, der sich die Welt untertan machen will und dazu Heiden wie ihn bekehrt, die in die Knie gehen, damit er ihre mächtigen Häupter besser mit geweihtem Öl salben kann. Bete an, was du verbrannt hast, verbrenne, was du angebetet hast; Chlodowig betete Bäume und Quellen an, die Wölfe und den Klang des Schildes, wenn es zerbarst; er liebte Gold und Silber, Wälder und Klöster; er fürchtete Remigius von Reims wie einen Heiligen, ja, sogar wie einen Gott, und mehr als allem war er dem Kampf, dem Schlachtgebrüll, der Tapferkeit und der Gefahr zugetan. Als Chlodwig, wie man ihn später nannte, nach Tours kam, befahl er seinen Männern, sich im Land von Sankt Martin nichts zu nehmen außer Wasser und Gras; einen Soldaten, der es wagte, gegen diesen Befehl zu verstoßen, tötete er eigenhändig – das Pferd schnaubte; Helm und Schädel von der Axt gespalten, fiel der Mann zu Boden. Alarich hielt den Süden; seine Horden warteten irgendwo bei Poitiers mit den verbündeten Arvernern unter ihrem Anführer Apollinaris, dem Sohn des Sidonius aus Clermont-la-Sombre, der dunklen Stadt. Chlodwig schreckt das nicht; er weiß, wenn er die Heiligen nicht missachtet, ist ihm der Sieg sicher. Er ist die Lanze gegen den feindlichen Angriff. Manchmal spürt er noch, wie ihm die alten Götter den Wind des Gemetzels ins Gesicht blasen – und auf dem Höhepunkt der Schlacht ist es nicht mehr die Christusliebe, die seinem Arm Kraft verleiht, sondern der Zorn Wotans oder die Macht Yngvis, und nach jeder Schlacht kniet er vor dem Altar nieder und tut Buße. Was hat Chlodwig auf dem Weg zu Gott zurückgelassen? Welche Waldgeister, welche magischen Ketten, welche Amulette, welche Lieder?

Sein Fuchs, der ein Mönch, dann ein Scherenschleifer sein wird, kaut gemächlich das neblige Gras im Tal der Vienne; man befindet sich unweit von Poitiers und nähert sich bereits einem ersten Wunder. Keine Furt ist in Sicht, um den tiefen unbekannten Wasserlauf zu überqueren, der durch ein Hochwasser angeschwollen ist. Mit Tausenden von Männern folgt man dem Ufer, das von dunklen Wäldern umgeben ist, die Hoffnung, über den Fluss zu kommen, schwindet immer mehr – man muss wohl das Ende der Frühlingsregen und den Rückgang des Hochwassers abwarten. Plötzlich scheut der Fuchs, Chlodwig hebt den Kopf: Aus dem Wald tritt eine große und schöne Hirschkuh, sie flieht entlang des Flussufers; der Fuchs spürt Chlodwigs Fersen brutal in seinen Flanken, die Trense gelockert in seinem Maul, er stürmt vorwärts und verfolgt in gestrecktem Galopp das fliehende Tier, das – als dunkle, verschwommene Bewegung – einige Meter voraus zu sehen ist. Ein paar Sprünge weiter stürzt sich die Hirschkuh in die Vienne und durchquert sie, das Wasser reicht ihr bis zur Brust: Hier ist die Furt, nach der die Armee vergeblich gesucht hat. Chlodwig beobachtet, wie sich das Tier ans Südufer rettet, während hinter ihm seine Truppenführer das Wunder beschwören. Chlodwig hat eine Göttin erkannt: Freya; Freya oder die Hand eines Heiligen; dieses Omen erfreut und begleitet ihn bis in die Schlacht – bis zur Eroberung all jener Städte Aquitaniens, die das Territorium der Franken vergrößern werden.

In Vouillé wölbt sich die Ebene sanft wie der Bauch einer Frau. Die Felder sind Lichtungen eines Waldes, der im Süden von den Mäandern der Auxance begrenzt wird. Die Goten warten. Zu Gruppen formiert scharren die Pferde ihrer zahlreichen Reiter eng gedrängt mit den Hufen. Die Franken beziehen nachts an den Waldrändern ihre Lager. Chlodwig striegelt sein Pferd selbst. Er wählt ein mächtiges und scharfes Sax, an dessen Knauf ein silberner Ring glänzt, und eine solide Frame mit einer Klinge in Form eines Lorbeerblatts; er schläft unter seinen Männern in der kühlen Frühlingsluft, neben seinem Reittier. Mitten in der Nacht wird Chlodwig von einem magischen Licht geweckt, das von der einige Meilen entfernten Basilika Saint-Hilaire ausgeht und ihn wie ein Glorienschein umgibt. Seine Truppen beobachten das Wunder, das sie mit Mut erfüllt; lange vor dem Morgengrauen, während der Nebel die Ackerfurchen füllt und zwischen die Beine der Soldaten kriecht, haben sie sich dort zu Tausenden mit nacktem Oberkörper aufgebaut. Im wechselhaften Schein des Mondes, der im Westen untergeht, rücken die Verbände auf dem Schlachtfeld vor. Die Morgenröte ist eine alte Frau mit grauen Fingern, sie trägt ihnen die furchterregenden Schreie der ersten gotischen Reiter, des ersten Angriffs zu; die Franken stehen hinter einem tödlichen Nebel aus Franzisken, hinter einem Wald aus Lanzen, sie brechen die erste Angriffswelle der Goten, metzeln verwundete Pferde und abgeworfene Reiter nieder – Chlodwig bleibt mit seiner Reiterei im Hintergrund, versteckt sich ein Stück weiter weg am Waldrand; sein kleines Pferd scharrt mit den Hufen; um es zu beruhigen, schmeichelt er ihm und tätschelt seinen Hals. Chlodwig will einen schnellen Sieg. Er will Alarich persönlich stellen und ihn töten. Er wartet, bis der König der Goten erscheint, dann wirft er seine Reiterei in die Schlacht. Ein Aderlass im Kampfgetümmel, ein Schwerthieb durch die geballte Menschenmasse, eine Blutfurche, eine Schneise extremer Gewalt, um wie ein brennender Wurfspieß direkt vor die Füße des feindlichen Königs getragen zu werden. Chlodwigs kleines Pferd bricht die Gliedmaßen der Krieger am Boden, zertrümmert die Schädel, als galoppierte es durch ein Feld klebriger Koloquinten. Alarich ist nahe. Der Rex Gothorum besitzt alles von der Loire bis nach Afrika. Der kleine Fuchs sieht den Reiter nicht, auf den er zuhält; er beißt in die Mähne von Alarichs Pferd, dann bäumt er sich auf; nach vorne gebeugt, stößt Chlodwig den Sax, den er wie eine Verlängerung seines Arms führt, in die Gedärme des Goten – die Klinge tritt am Schulterblatt wieder aus, ein glänzend schwarzes Lanzett direkt am Genick, das im nahenden Tod schon erstarrt ist. Alarich wird aus dem Sattel gehoben, sein Schrei erstickt im gurgelnden Blutschwall in seiner Kehle, in seinem Mund. Für einen Moment steht er, gestützt von einem Schwert am Ende eines wundersam ausgestreckten Arms, über einem mit den Vorderhufen hochsteigenden Pferd. Alarichs Blick bricht im Himmel über der Ebene; Chlodwigs kleines Pferd fällt zurück, als der Gote von seinem Reittier rutscht und Chlodwig das Metall aus dessen Körper zieht – der Stahl reibt geräuschvoll am Knochen –, um hoch über seinem Helm das purpurrote Schwert zu schwingen, an dem das feindliche Blut perlt: Alarich ist tot! Sieg!, während im selben Augenblick der Gotenkönig inmitten der scheppernden Bronze und des dumpfen Lärms der heillosen Flucht zu Boden stürzt. Mit einem letzten wütenden Aufbäumen versuchen die gotischen Reiter der Zangenbewegung zu entkommen, die sie zu zermalmen droht, und sprengen wild auseinander vor den Wurfbeilen, die sie niedermähen, ihnen die Sprunggelenke zerschneiden, die Oberschenkel zerschmettern, bis das Blut spritzt, die Schädel von der Nase bis in den Nacken spalten. Mit der sterblichen Hülle ihres Königs fliehen die Goten zu dessen Söhnen, Alamarich und Gesalech, und ziehen sich dann in den Süden zurück.

Als Chlodwig ein paar Stunden später von seinem Fuchs steigt, kniet er nieder und betet; er dankt Wotan und Yngvi; er dankt Christus, der um sie herumflattert wie eine Krähe auf dem Schlachtfeld. Danke für das Letzte Königreich. Danke für die Toten. Danke für die Wunder. Ehre sei dem heiligen Martin! Ehre dem heiligen Hilarius! Ehre!

Er schmeichelt und tätschelt wieder das Pferd, das ihm so gut gedient hat (sollte es ein Gesandter des Herrn sein? Eine Emanation des Waldgottes?), und während der Abend perlgrau auf die bereits schwarze Erde fällt, bricht er nahezu allein, nur mit einigen wenigen Kriegern im Gefolge, deren Grausamkeit sich jetzt, da Nebel und Tod sie umweht, in mystischen Schrecken verwandelt hat, in die Abtei von Saint-Hilaire auf, überlässt die Gefallenen den Priestern und Dohlen, um Maixent dem Frommen, der sich dort aufhält, für seine Gebete zu danken und ihm das Ergebnis der Schlacht mitzuteilen, den Sieg, den sie dank seiner errungen haben, und um Buße dafür zu tun, dass die Götzen ihnen die gewünschte Hilfe gewährt haben. Als sie kurz vor Anbruch der Nacht den Wald erreichen, in dem die Abtei liegt (ein blauer Duft nach Schnee liegt in der Luft), stellt sich Chlodwig und seinen Leute plötzlich ein knurrender Wolf mit gebleckten Zähnen in den Weg. Ein Wolf mit breiter Brust, gelben Augen und dunklem Fell; die Pferde scheuen, schnauben, wiehern, der Wolf scheint sich tief zu verneigen, er blickt Chlodwig in die Augen, legt sich auf den Bauch, rollt sich dann auf den Rücken, bevor er mit einem Satz im Schutz des Dickichts verschwindet – wieder ein Wunder, ein wahres Wunder, ein Beweis für den Bund zwischen Christus und den alten Göttern, ein Sieg nach der Schlacht, ein Kelch, in dem sich die Zukunft der Welt zeigt. Aber Chlodwigs kleines Pferd versteht natürlich nicht, wie der fränkische König diesen Wolf deutet, für das Pferd und für alle, die sich fürchten, ist das Wunder das Leben, in jedem Augenblick, in jeder Sekunde. Der kleine Fuchs, der eine Schar von Frauen und Männern und eine Graugans sein wird, schüttelt die Mähne, als verweigerte er sich, dann trägt er König Chlodwig in die Abtei des heiligen Maixent und seinem Schicksal entgegen, dem Schicksal einer Kerzenflamme, einer Romanfigur zwischen der Erinnerung an eine Taufe und an siegreiche Schlachten.

Natürlich hätte man Patarin genau in diesem Augenblick den Namen Zama oder sogar den der Katalaunischen Felder ins Ohr flüstern können, es hätte nichts geändert – Patarin war ein einfacher Mann, der von Schweinen, Frauen und Autos träumte, den das Dorf Vouillé nicht an die glorreiche Schlacht Chlodwigs im Jahr 507 erinnerte, sondern an einen gleichnamigen Marktflecken in der Nähe von Niort an der Straße nach Limoges. Im Gegensatz zu Arnaud, dem Cousin von Lucie, wusste Patarin selbst in seinen tiefsten Träumen nichts von seinen vergangenen Leben, und ob er einen Herz-Buben auf den Tisch knallte oder sein Schlachtermesser in ein Stück vom Kamm stieß, er war stets mit derselben Gewissheit bei der Sache: Er hatte die Trumpf-Zehn, den dritthöchsten Trumpf nach der Belote und der Rebelote, der Trumpf-Dame und dem Trumpf-König. Als er seine Kreuz-Neun ausspielte, die letzte Lusche, die er noch hatte, stellte er sich für einen Moment die Qualen vor, in denen Paco sich befand, das Martyrium, das er durchlitt, seine Gehenna: Es waren noch sieben Pik im Spiel, und Paco selbst hatte vier davon. Wo waren die anderen drei? Zu diesem Zeitpunkt war es mehr oder weniger klar, dass Patarin sie hortete; in diesem Fall musste Paco die seinen clever ausspielen, sehr clever sogar, um die zehn Zusatzpunkte für den letzten Stich nicht zu verlieren, was zwar nichts am Ergebnis ändern würde (sie waren weg vom Fenster, es sei denn, es geschah ein Wunder, doch die gibt es beim Belote nicht), aber an der Moral. Und Paco wusste, wie man spielt (wie Patarin schon vermutet hatte), er spielte sogar sehr gut – manchmal verschwor sich das Schicksal gegen ihn, und die Parze der geforderten Karte durchschnitt früh den Lebensfaden der Partie, aber Pacos Entscheidungen standen nie zur Debatte, er hatte einfach nur Pech, dass die Karten zu seinen Ungunsten verteilt waren.

Paco war mit Manuel, dem portugiesischen Maler, und Yacine, dem Harki, einer der wenigen Dorfbewohner von ausländischer Herkunft; sein Vater war Ende der dreißiger Jahre in die Gegend gekommen, als das republikanische Katalonien in die Hände der Nationalisten gefallen war und alle Soldaten der Republikaner über die Pyrenäen fliehen mussten: Das großzügige Frankreich inhaftierte sie in grauenhaften Konzentrationslagern, die weitläufig zwischen dem Atlantik und dem Roussillon verteilt waren, zog sie während des Sitzkriegs zum Festungsbau ein, und da es sich alles in allem um nutzlose Mäuler handelte, die man durchfüttern musste, übergab man sie schließlich in großer Zahl den Deutschen. Die hatten immerhin den Sitzkrieg gewonnen; sie beeilten sich ihrerseits, diese Republikaner einzusperren, vorzugsweise in Mauthausen, wo über die Hälfte von ihnen umkam – Pacos Vater war diesem Schicksal entkommen und hatte sich im gastfreundlichen Westen in der Nähe von Niort niedergelassen, wo er den Beruf des Lastwagenfahrers ergriff und hauptsächlich die Milch für die Genossenschaftsmolkerei Pamplie abholte; Paco war ebenfalls Lkw-Fahrer bei einem Logistikunternehmen mit Sitz in Saint-Maxire und befuhr die Straßen der angrenzenden Départements. Von Spanien zeugte noch sein nachtschwarzes Haar, eine Leidenschaft für Paella an den Sonntagen und für Fußball an den übrigen Tagen – für ihn war Frankreich zwar ein schönes Land, das er herzlich liebte, aber sobald es um das runde Leder ging, waren die spanischen Vereine, daran war nichts zu ändern, haushoch überlegen, was ihm auf dem Schulhof viele Schläge und viele Löcher in seiner Hose eingebracht hatte; er erinnerte sich noch an die Tracht Prügel, die er einstecken musste, als der FC Nantes im Halbfinale des Europapokals der Pokalsieger gegen Valencia mit vier zu null verlor, er war so ausgiebig bespuckt worden, dass er mit glänzenden Haaren nach Hause kam, mit zerrissenen Hosen und Tränen in den Augen, aber trotzdem hatte er gelächelt, weil die »Kanarienvögel« mindestens ebenso gedemütigt worden waren wie er, sogar viermal hintereinander, und sämtliche Maxime Bossis und Bruno Baronchelli hatten nichts ausrichten können.

Paco sah sich die Kreuz-Neun von Patarin an, dann die Kreuz-Dame von Régis und hörte hinter sich das vulgäre, triefende Lachen von Thomas, der sich wie immer über das Pech der anderen freute; Alain warf seine Kreuz-Acht ab, er wusste, dass Paco mit der Pik-Sieben stechen würde; der Sohn des Spaniers hatte also noch die beiden höchsten Trümpfe und die Trumpf-Acht auf der Hand, Patarin aber hatte die schrecklichen drei, den dritthöchsten Trumpf mit der Zehn, die Belote und die Rebelote, also Armageddon und Apokalypse, wie auch immer: Selbst mit Régis als Marschall Ney begann sich dieser Rückzug wie eine heillose Flucht anzufühlen.

 

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Im Winter des Jahres 1588 will sich der Kriegerdichter Agrippa d’Aubigné, der die Seele des erhängten Jérémie aufgenommen hatte, auf Schloss Mursay zurückziehen, das zwei Meilen von Niort entfernt in jener Schleife der Sèvre liegt, die ihm so gefällt, und sein Schwert neben dem Kamin an einen Nagel hängen, seine Brustharnische, Pistolen und Arkebusen in einer Truhe verstauen, um sich endlich zu erholen, sich seiner Familie und dem Schreiben zu widmen. Sosehr er den Kampf liebt, nach monatelangem Krieg im Bas-Poitou und im Aunis im Dienst Heinrichs von Navarra braucht d’Aubigné Ruhe. Trotz der Unerbittlichkeit der katholischen Liga hält sich die protestantische Partei gut, unter anderem dank des unermüdlichen Einsatzes ihrer militärischen Führer wie Saint-Gelais und er selbst, die das Poitou und die Saintonge zum Schauplatz ihres Widerstands gemacht haben – die Schlacht von Melle, die Schlacht von Brioux, die Schlacht von Brouage, die missglückte Belagerung von Angers, der sichere Rückzug vor den Truppen des Herzogs von Mercœur, dem großen Verwüster des Poitou, aber der endgültige Sieg über den berühmten Günstling Heinrichs III., Anne de Joyeuse, der die Provinzen so ungehemmt verwüstet hatte, dass er dafür im Oktober des Vorjahres in der Schlacht von Coutras massakriert worden war. All diese Kriegsherren konkurrieren mit der Pest um die enorme Angst, die sie den Bewohnern einflößen, ob Katholiken oder Protestanten, von denen schon etliche tausend der Krankheit zum Opfer gefallen sind, bevor sie erneut durch Eisen und Feuer dezimiert werden.

Im Schloss von Mursay, das im Schilf des Sèvre-Tals versteckt liegt, geschützt durch seine Türme und seine vom Fluss gesäumten Mauern, fühlt d’Aubigné sich sicher. Seine Kinder Louise-Artémise, Constant und Marie wachsen glücklich auf. Suzanne de Lezay, die Herrin von Mursay und seit zehn Jahren seine Ehefrau, fürchtet um das Leben ihres Mannes; einige Wochen vor seiner Ankunft sah sie einen Zug von Maultieren und Eseln im Hof des Schlosses ankommen, und da eines der Tiere d’Aubignés Kopfbedeckung, seine Waffen, sein Florett und seinen Gürtel trug, hatte sie zuerst geglaubt, er sei tot – aber nein, er hatte es faustdick hinter den Ohren, er wollte lediglich sein Kommen ankündigen und vermeiden, wie er sagte, dass seine Frau zu sehr in Aufregung gerate. D’Aubigné legte seine Waffen ebenso gern ab, wie er sie ergriff – die Pferde, die Nacht, die Einöde kennen seinen Namen; das Schwert, die Lanze, das Papier und die Feder kennen ihn auch. Während eine dünne klare Eisschicht den Fluss bedeckt, in der sich die kahlen Eschen spiegeln, schreibt er in den langen Monaten seiner Erholung Verse, mal traurige und wütende, mal witzige und ironische. Er will ein Zeuge seiner Zeit sein – dieser Zeiten voller Grauen, dieser Lügen und Massaker, dieser Friedensbemühungen, die ebenso stets zum Scheitern verurteilt sind, wie der Mensch zum Leiden verdammt ist. Er hat bereits einen Titel, einen kurzen Titel für diese langen Laisses, diese gewaltigen Tiraden gegen die Hässlichkeit des Schicksals; er nennt sie Les Tragiques. In diesem Jahr, 1588, schiebt er seine Rückkehr nach Mursay hinaus; Ende Dezember ist er in Saint-Jean-d’Angély bei Heinrich von Navarra, wo sie von der Ermordung des Herzogs von Guise im Schloss von Blois erfahren; sicher stoßen sie an auf den Tod des Chefs der Liga. Am Abend des 27. Dezember trifft sich d’Aubigné etwas weiter nördlich mit seinem Kameraden Saint-Gelais in einem Dorf namens Sainte-Blandine am Rande des Waldes von Chizé. Sie wollen dem Süden des Poitou zu Hilfe eilen und nach Niort, das für die Truppen der Liga eine Drehscheibe ist und von Generalleutnant Laurent sowie von Malicorne, dem Gouverneur des Poitou, gehalten wird. Zu diesem Zweck haben sie einige hundert Soldaten, Armbrustschützen, Arkebusiere, Artilleristen versammelt, sie führen sogar Pulvergeschütze mit, um die Stadttore aufzusprengen, Belagerungsleitern, um die Festungsmauern zu überwinden, und Artillerie: mindestens fünf Kanonen und Feldschlangen. Die Nacht ist mondlos und klirrend kalt. Auf den Stadtmauern von Niort schützen sich die Wächter mehr vor dem eisigen Nordostwind als vor möglichen hugenottischen Angreifern – sie glauben, die protestantischen Truppen würden nach Cognac marschieren. Die Befestigungsanlagen sind gewaltig: etwa zehn Meter hohe Mauern, mehr als zwanzig Türme, eine Burg mit einem doppelten Donjon, der im Westen durch eine Feldschanze zum Flusshafen hin geschützt wird, in dem sich Boote und Lastkähne drängen. Aber die Protestanten wissen, welche Tore am stärksten verteidigt werden.

Nördlich der Barbakane, die das Échiré-Tor am Eingang des Souché-Turms schützt, werden erste Leitern geräuschlos auf den Grund des Grabens gestellt. Auf der anderen Seite der Stadt, am Ribraise-Tor, bringen Sappeure Sprengladungen an und ihre Mörser in Stellung. Das Erklimmen der Stadtmauern beginnt – den Hugenotten gelingt es leicht, sie zu überwinden, sie schneiden den Wachposten die Kehle durch, bevor diese Alarm schlagen können, gehen in kleinen Gruppen in die Stadt hinunter, um das Échiré-Tor von innen zu öffnen. Es kommt zu einem kurzen Kampf, bei dem d’Aubigné und Valières einige der albanischen Söldner töten, die die Wachmannschaften stellen. Man schlägt Alarm, die katholischen Truppen bekommen den Befehl, in den Norden der Stadt zu eilen, um die dort in Not geratenen Soldaten zu unterstützen. Währenddessen geben die Alarmglocken Louis de Saint-Gelais und der zweiten Gruppe von Angreifern unter Führung von Jean d’Harambure das Signal, die Sprengladungen zu zünden, mit denen sie das Ribraise-Tor unterminiert haben, und die Angreifer strömen in die Straßen, die zur Place de la Halle hinunterführen. Die Überraschung ist perfekt; in Windeseile sind die katholischen Truppen und die albanischen Söldner überrannt, man zögert sogar, sich hinter die Burgmauern zurückzuziehen – zweifellos aus Furcht vor der mächtigen Artillerie von Saint-Gelais. In dem Durcheinander werden die von d’Aubigné angeführten Soldaten auf dem Marktplatz, wo die Verteidiger eine Barrikade errichtet haben, von einer Salve aus Arkebusen empfangen – Valières wird tödlich verwundet, die Angegriffenen schlagen zurück, lassen einen Regen aus Blei und Bolzen auf die Feinde niedergehen. Welch ein Unglück: Man hört sie schreien, man erkennt ihre Stimmen – es ist die Abteilung von d’Harambure, der selbst ein Auge verliert. Die Hugenotten schaden sich selbst mehr als der Feind … Den Papisten haben sie eine schwere Niederlage beigebracht; diese fliehen und verschanzen sich in der Burg, die von Saint-Gelais belagert wird, der nicht nur seine Artillerie auf die Mauern richtet, sondern auch die der Stadt, die von den Papisten nicht rechtzeitig hinter die Festungsmauern gebracht werden konnten. Es ist kurz vor fünf Uhr morgens. D’Aubigné hat den Auftrag, die Verhandlungen mit dem Gouverneur des Poitou zu führen. Die Stadt will sich nur Heinrich von Navarra persönlich ergeben, der am Vormittag aus Saint-Jean-d’Angély eintrifft, dann wird Jean de Chourses, Seigneur de Malicorne, samt Frau und Gepäck nach Parthenay eskortiert. Saint-Gelais hat unterdessen einige Stunden gewartet, bis er die Stadt zur Plünderung freigibt. Vielleicht, damit diejenigen, die in der Lage dazu sind, sich in Sicherheit bringen können, vielleicht, weil es zum Plündern zu dunkel und zu kalt ist – jedenfalls wird es ein brutales Gemetzel. Einige Priester werden vom Scheitel bis zur Sohle aufgeschlitzt, zum Spaß schlingt man ihnen ihre Eingeweide um den Hals; man zerschlägt die Statuen und entwendet die Kandelaber; man misshandelt die Bürger, damit sie ihr Geld abliefern; die Stadt muss bezahlen für den Schmerz und das Leid, das man erlitten hat, denn das ist das Gesetz des Krieges, der Verlierer bezahlt; der Leichnam von Laurent, der in der Schlacht gefallen ist, wird am selben Galgen zur Schau gestellt, an dem schon Jamart hängt, angeblich der reichste Einwohner der Stadt.

Die Totengräber mit den Leichenbittermienen schaffen Vilpion de Valières und viele andere, Hugenotten und Katholiken, Ketzer und Papisten fort; manche werden zerstückelt, mit ungelöschtem Kalk verbrannt und in den Fluss geworfen, andere auf den Friedhöfen begraben – während die Leichen verwesen, werden die Seelen wiedergeboren; Valières wird zu einer Krähe, die zwischen den Türmen und Wällen von Maillezais herumkrächzt, während d’Aubigné und nach ihm sein Sohn Constant die Gouverneure der Stadt sind; die Krähe lebt dreißig Jahre und kostet mehrmals Menschenfleisch, bevor sie ihrerseits stirbt und (während ihr Kadaver von einem schönen roten Fuchs abgenagt wird) im Körper eines Hauptmannshundes wiedergeboren wird, in einem der Hunde von François de La Rochefoucauld, einem schönen, grauen Windhund, der mit seinem Herrn an der Belagerung von La Rochelle teilnimmt, dann im Körper einer Möwe, die zweiundzwanzig Jahre lang die Schiffe vom Wachturm an der Hafeneinfahrt von La Rochelle, der Tour de la Chaîne, durch die Meerenge zwischen der Île de Ré und der Île d’Oléron, den Pertuis d’Antioche, eskortiert, und weiter in mehreren Seeleuten, von denen einer ein großer Sklavenhändler war, der nach seinem Tod auf der Île Bourbon, heute La Réunion, in Saint-Hermine wieder ins Leben tritt, als Bäckergehilfe in Mauzé-sur-le-Mignon arbeitet und als Sträfling endet, der am 27. Februar 1808 im Alter von sechsundvierzig Jahren im Zuchthaus von Rochefort stirbt, ohne seinen Sohn René gekannt zu haben: René Caillié wird als erster Europäer Timbuktu betreten und lebend von dort zurückkehren; dieser Caillié wiederum wird nach seinem Tod zu einer sanften und resoluten Chouanne, die einen bretonischen Adligen heiratet, dessen winziges Gut weder durch die Revolution noch durch das Kaiserreich Schaden nimmt; sie war streng katholisch und starb 1878 unter schrecklichen Schmerzen, nachdem zwei scheuende Pferde, deren Kutsche an einem Prellstein hängen geblieben war, sie gegen das Eingangstor ihres Hauses gedrückt hatten – dann gönnte das Ewige Werden dieser Seele eine Pause, bevor sie in einer Familie von armen, hungernden Kuhhirten in der Gegend von Fontenay-le-Comte wiedergeboren wurde, wo sie im Alter von drei Jahren an einem unbekannten Fieber starb: Ihr Vater konnte sich keine Totengräber leisten, also grub er hinter seiner Hütte auch noch dieses elende Loch neben dem seines totgeborenen Kindes, das ins Rad des Lebens zurückgekehrt war, in die Welt zwischen den Welten, ohne gespürt zu haben, wie die Luft in seinen Lungen brannte, und das in ferner Zukunft, im 22. Jahrhundert, wiedergeboren wurde, dem Jahrhundert der Großen Dürre und der Verzweiflung, als alles starb, alles verschwand und verbrannte, vor der Wiederkehr der neuen Blütezeit, der Ära von Maitreya, dem kommenden Buddha, dem Buddha der gütigen Liebe; dieses Dharma wird dann nicht mehr sein, aber die Illusion des Samsāra wird fortdauern wie die der ins Rad des Lebens geworfenen Seelen, die auf der Suche nach dem Erwachen sind wie ein Neugeborenes nach seinem Atem, wie die Pflanze nach dem Licht.

D’Aubigné verbrachte den Tag mit Heinrich von Navarra in Niort, dann machte er sich an der Spitze einer Abteilung wieder auf den Weg, um weitere Orte für seinen Freund zu erobern; am Neujahrstag schrieb der künftige König Heinrich IV. an Diane d’Andoins, seine schöne Corisande:

 

Soll ich Ihnen immer nur von der Einnahme von Städten und Festungen berichten? In der Nacht haben sich mir St. Maixent und Maillezais ergeben, und ich hoffe, dass Sie noch vor Monatsende von mir reden hören. Der König triumphiert: Er ließ den Kardinal de Guise in Fesseln legen und ins Gefängnis bringen, dann den Präsidenten von Neuilly und den Prévôt des Marchands hängen und vierundzwanzig Stunden lang auf dem Platz zur Schau stellen, dazu den Sekretär des verstorbenen Monsieur de Guise und drei weitere Anhänger der Liga. Die Königinmutter sagte zu ihm: »Mein Sohn, gewährt mir eine Bitte, die ich an Euch richte.« – »Je nachdem, worum es geht, gnädige Frau.« – »Ich möchte, dass Ihr mir Monsieur de Nemours und den Fürsten de Genville freigebt. Sie sind jung, sie werden Euch eines Tages einen Dienst erweisen.« – »Das mache ich gerne, Madame. Ich gebe Ihnen die Leiber und behalte selbst die Köpfe.« Er hat Truppen nach Lyon geschickt, damit man den Duc de Maine festnimmt. Wir wissen nicht, ob es ihm gelungen ist. Man kämpft in Orléans und noch näher bei uns, in der Stadt Poitiers, von der ich morgen nur sieben Meilen entfernt sein werde. Wenn es der König wünscht, würde ich sie zum Einlenken bringen.

Wenn das Wetter dort, wo Sie weilen, so ist wie hier, bedaure ich Sie, denn hier hat es seit zehn Tagen nicht mehr getaut. Ich warte nur darauf, dass man mir zuträgt, die Königin von Navarra sei verstorben, sei erdrosselt worden. Dies und die Nachricht vom Tod ihrer Mutter würden mich den Lobgesang des Simeon anstimmen lassen.

Für einen Mann des Krieges ist dies ein viel zu langer Brief. Gute Nacht, meine Liebste, ich küsse Sie hundert Millionen Mal. Lieben Sie mich so, wie Sie es tun. Es ist der Neujahrstag. Der arme Harambure hat ein Auge verloren, Fleurimont liegt im Sterben.

 

Navarra ernennt d’Aubigné unverzüglich zum Gouverneur von Maillezais, einer alten, befestigten Abtei und katholischem Bischofssitz auf einer Insel mitten in den Sümpfen. Einige Wochen später macht sich Agrippa wieder auf den Weg nach Mursay, zu seinem Schreibtisch und seiner Familie, wo er wie gewöhnlich das Ende des Winters abwarten will.

Der arme d’Harambure hat ein Auge verloren, Fleurimont liegt im Sterben.

Im Jahr darauf kann Heinrich von Navarra den Lobgesang des Simeon anstimmen – seine Schwiegermutter Katharina von Medici stirbt. Sie wurde zu einem Nachtfalter, dessen fette, weiße Raupe in der Dunkelheit umherkroch, die Qualen der Metamorphose durchmachte und die der Puppe erlitt, bis sie mit ihren Flügeln den Kokon durchbrach und schließlich ein Eulenfalter im Hof des Louvre wurde, geblendet von einer Laterne, um die sie lange Zeit kreiste, bevor sie furchtbar verbrannte und sofort in einer anderen Larve der Finsternis wiedergeboren wurde, denn aus den schrecklichsten Reinkarnationen kommt man nicht mehr so leicht heraus, wenn man durch ein verbrecherisches und niederträchtiges Leben dort gelandet ist.

 

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Als Kate und James, das englische Rentnerpaar, das sich am Dorfrand niedergelassen hatte, den angehenden Ethnologen David Mazon für ein Interview empfingen, waren sie, wie wir gesehen haben, zugleich misstrauisch und auf seltsame Weise geschmeichelt, dass sich nicht nur die Wissenschaft für ihr Alltagsleben interessierte, sondern darüber hinaus die Wissenschaft Frankreichs – einer Nation, die bekanntermaßen überaus arrogant sein konnte, wenn es um andere Nationen ging. James vermutete (das ließ er zumindest seine Frau wissen), dass es bei diesem Interview um die Entscheidung britischer Staatsbürger, Europa zu verlassen, gehen würde sowie um die Konsequenzen für Emigranten wie sie – Kate dachte allerdings, es sei von einer »ethnologischen Studie« die Rede gewesen, und erwartete die Ankunft eines alten Herrn in Jodhpurhose und Tropenhelm. Als David das erste Treffen wegen des kalten Wetters absagte, hatte sie sich ein wenig erleichtert gefühlt. Wie jedes Jahr waren ihre Kinder mit dem Zug aus London gekommen (sechs Stunden Fahrt bis zum Bahnhof Niort), um die Weihnachtsferien bei ihnen zu verbringen und sich mit Ente, geräucherter Forelle, Austern, Krabben und Hummer verwöhnen zu lassen. Das Haus von Kate und James, ebenfalls ein altes Bauernhaus, aber wahrscheinlich kleiner als das ihres Nachbarn, des malenden Erotomanen Maximilien Rouvre, war geräumig und besaß eine sehr hübsche schmiedeeiserne Veranda und ein schönes Vordach über der Haustür, dazu einen angenehmen Garten voller Rosen und Hortensien, den Kieswege durchzogen, die unter den Füßen knirschten, einen Brunnen, ein Vogelbad mit einem gusseisernen Cherub und eine große Voliere auf gedrechselten Holzpfosten, in der zwei weiße Tauben saßen. All diese Elemente stammten aus dem frühen 20. Jahrhundert, Kate hatte lediglich alles einmal gründlich entrosten und neu streichen müssen, ihr Unterhalt war ihre einzige Sorge, James nutzte seine Zeit für andere Aktivitäten (Rechnungen und Rechtsstreitigkeiten). Das Haus hatte sie ein Butterbrot gekostet, wie sie sagten, was auf dieser Seite des Ärmelkanals einem Apfel und einem Ei entsprach, und daher konnten sie ihr kleines Londoner Haus in Hammersmith behalten, wo ihre Kinder wohnten, ein Haus, das durch die Nähe zur Themse gleichermaßen bequem und extrem feucht war, besonders im Winter – da ist die Luftfeuchtigkeit oft so groß, sagte James, dass man sich von einem Zimmer zum anderen nicht hören kann.

Als David Mazon, der unerschrockene Anthropologe, am 14. Januar eintraf, stellte er sein Moped in den Hof, nahm den Helm ab, zog seine Handschuhe aus und bewunderte den Garten, der trotz des Winters nichts von seinem Charme verloren hatte. Er vergewisserte sich, dass er seine Ausrüstung, Notizbuch und Aufnahmegerät, dabeihatte, und schickte sich an, die Klingel auf der rechten Seite der Eingangstür zu betätigen, doch dazu blieb ihm keine Zeit – Kate öffnete ihm sofort. James wartete in seinem Crapaud-Sessel, den er auf dem Sommerflohmarkt in Coulonges-sur-l’Autize erworben hatte, wie die meisten anderen Möbel, die David entdeckte: uralte Schränke und Buffets aus hellen, tabakbraunen Obstbaumhölzern, ein Art-déco-Billardzimmer und schließlich ein kleines Wohnzimmer, in dem James ihn erwartete – durch die Veranda schien eine schöne Wintersonne, ein Anblick, der im Westen des Deux-Sèvres ebenso selten war wie am Themse-Ufer, und deshalb bemerkt wurde. In Gedanken staunte James über Davids Jugend und sein fast perfektes Englisch, das, ausnahmsweise, auch noch ein britisches und kein amerikanisches Englisch war; David erklärte, er habe einige Jahre in London gelebt, wo er sein Studium begonnen hatte – und schon drehte sich ihr Gespräch um Pubs, bubble & squeak und scotch eggs, was David nostalgisch und James hungrig machte. Sie setzten sich an den hübschen, mit grünem Filz bezogenen Spieltisch, den Kate auf der Veranda aufgeklappt hatte, und David schaltete das Aufnahmegerät ein.

Kate und James hatten sich Mitte der nuller Jahre im Deux-Sèvres niedergelassen. Zunächst hatten sie regelmäßig ein Haus in der Nähe von Saint-Hilaire-la-Palud gemietet, einem Dorf mitten im Marais, das sie wegen seiner Metzgerei und dem sonntäglichen Markt mochten, wie James bemerkte, dann dieses Gebäude erworben. Auch wenn es hier außer dem Angler-Café keine Geschäfte gab, das Haus hatte sie sofort für sich eingenommen, um nicht zu sagen, verzaubert. Und außerdem sei es im Marais noch feuchter als an der Themse. Hier auf der Ebene waren sie besser dran. Viele Briten hatten nach der Finanzkrise verkauft, doch sie waren geblieben. Ja, sie hatten englische Freunde in der Gegend. Ja, seit drei Jahren, seit der Pensionierung von James, lebten sie das ganze Jahr über hier. Zwischen dem Innenpool, den sie in der Scheune hatten einbauen lassen, einem Golfplatz ein paar Meilen entfernt, dem Strand ab und an und einem guten Glas Wein waren sie rundum glücklich. Zumindest wäre es das Letzte gewesen, etwas anderes zu sagen. »Außerdem ist es hier ein bisschen wie in England«, sagte Kate beiläufig. James ging noch weiter: »Diese Gegend war bis Ende des 15. Jahrhunderts englisch, vielleicht fühlen wir uns hier deshalb so wohl. England mit Weinbergen, das ist das Paradies«, fügte er hinzu. David lachte herzhaft, während er die Antworten des Ehepaars sorgfältig notierte. Freizeitaktivitäten, Gesundheitsversorgung, Einkaufen, er fragte sie nach allem, was ihren Alltag ausmachte, und nach dem Bild, das sie sich von der Region gemacht hatten. Fühlten sie sich einer Gemeinschaft zugehörig? Was bedeutete das Wort Dorf für sie? Und das Wort Landleben? Sie waren sich nicht einig – Kate wünschte sich mehr soziale Interaktion im Dorf, während James wollte, dass man ihn in Frieden ließ. Er wollte so wenig wie möglich aus dem Haus gehen. Für James bedeutete das Leben auf dem Land vor allem Ruhe und Einsamkeit, während es für Kate um Naturverbundenheit, die Nähe zur Tier- und Pflanzenwelt und um den besonderen Austausch mit den Frauen und Männern in ihrer Umgebung ging, im Gegensatz zur Anonymität und der Angst vor dem Anderen in der Großstadt. Sie sprach gern Französisch, ging einmal wöchentlich auf den Markt in Coulonges, besuchte jeden Dienstag den Patchwork-Kurs im Festsaal, schwatzte über dies und das mit Lynn, der Friseuse, die ein- oder zweimal im Monat zu ihnen kam (David überlegte, dass es gut wäre, Lynn zu interviewen, auch wenn sie offenbar nicht im Dorf lebte, abgesehen von den Bauern, den Totengräbern und dem dicken Thomas war sie eine der wenigen, die dort arbeiteten, also bat er Kate um ihre Telefonnummer und bekam sie), außerdem arbeitete sie im Organisationskomitee des jährlichen Flohmarkts mit, eine Menge Aktivitäten, durch die Kate fast jeden im Dorf kannte, und das, ohne ins Angler-Café zu gehen, das James und Kate, wie sie bereitwillig zugaben, schrecklich fanden, absolut deprimierend. Sie zogen es vor, ihre Gin Tonics und ihren Rotwein zu Hause zu trinken, anstatt sich dem höllischen Gestank des Cafés auszusetzen, meinte James, der keinerlei Anstalten machte, David gegenüber zuzugeben, dass er sich zu Tode langweilte und jeden Anlass zum Vorwand nahm, um nach Großbritannien zurückzukehren: Geburtstage, Beerdigungen, Rugbyspiele. Er misstraute den Franzosen, die er für großsprecherisch, unzuverlässig und humorlos hielt. Seine Haupttätigkeit bestehe darin, fasste er zusammen, einen Tag lang auf den Klempner zu warten, den nächsten Tag auf den Elektriker, wieder einen auf den Dachdecker, und das immer wieder aufs Neue, denn diese Leute kämen nie, man frage sich, ob es sie überhaupt gab.

Das Gespräch wandte sich der Europäischen Union und dem Austritt der Briten zu; Kate und James glaubten ernsthaft, dass sich für sie dadurch nichts ändern würde, weder ihre Situation in Frankreich noch die der Franzosen in England; über alles andere würde man sich verständigen können. Das Vereinigte Königreich sei schließlich eine Insel. Und Norwegen sei wohlhabend, obwohl es nicht Mitglied der EU ist. Ganz im Gegenteil.

David war begeistert von seinem Interview, er hatte viel Stoff, über den er sich hermachen konnte, und sein Kopf war voll von schnellen Schlussfolgerungen. Kate bot ihm eine Tasse Tee mit Shortbread an, worüber ihm vor Freude fast Tränen in die Augen traten; dann beschloss er, sich zu verabschieden – in der Tasche eine formelle Einladung für die kommende Woche zum »Aperitif«, eines von James französischen Lieblingswörtern, und zu einer Partie Billard mit anschließendem Abendessen, auf das sich David schon im Voraus freute. Er packte seine Sachen zusammen und kletterte wieder auf seinen Jolly Jumper, der ausnahmsweise, wie zu Ehren seiner Gastgeber, sofort ansprang und eine hübsche blaue Rauchwolke in den Himmel des Poitou jagte.

 

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Als Jérémie Moreau, Lucies Urgroßvater, nach dem Dorfball sah, wie Louise sich, um den Fensterladen zu entriegeln, in die Dunkelheit hinausbeugte, als würde sie sich vor ihm, vor dem Schicksal verbeugen, trat er aus dem Schatten und pflanzte sich vor ihr auf, ein Lehmbrocken aus Hass und Wut mit Augen, die vor Rachgier glänzten, ein stummes Geheul, das die Nacht wie ein Blitz ohne Donner zerriss: Jérémie sagte nichts, er hielt sein Paket in den Händen, und die ganze Energie des Mannes, der den Krieg, das Feuer, das Wasser und die langen Monate in der Einsamkeit der Sümpfe überlebt hatte, sammelte sich in der Sekunde, in der Louise ihn ein paar Zentimeter von sich entfernt in der Dunkelheit erblickte – schwarz mit schwarzem Bart, schwarzen Augen, schwarzen Brauen, langem schwarzen und dreckig glänzendem Haar, mit einem Gesicht, das wie mit dem Messer aus dem Stoff der Finsternis geschnitzt war. Und Louise glaubte, sie würde vor lauter Angst zwei Tode sterben, erstens, weil ein Mann vor ihrem Fenster stand, und zweitens, weil sie Jérémie erkannt hatte und ahnte, dass er gekommen war, um sich zu rächen.

Der stumme Schrei, der offene Mund, das stockende Herz, die angespannte Brust, Louise wie vor den Kopf geschlagen, so überrascht, dass sie das Gefühl hat, nach hinten umzufallen. Sie streckt schützend die Hände aus, Jérémie schwingt sein verfluchtes Paket, er hat das rohe Leinen entfernt, der Sack riecht nach Blut und Gräueln, Jérémie schwingt den nackten Fluch, und in dem Moment, in dem Louise das Gleichgewicht verliert, in der Sekunde, in der sie unter dem Gewicht des Grauens den Boden unter den Füßen verliert, schleudert Jérémie das schändliche, stinkende Ding auf sie, den Tod, er schleudert den Tod auf sie, den noch in der Gebärmutter steckenden, blutverschmierten Tod, die schwarze, noch mit dem Bauch verbundene, verwesende Plazenta, weißes und grünliches Fleisch, versiegelte Augen. Louise schüttelt sich und stürzt, sie hat Blut im Gesicht, auf der Brust, Leichensaft auf dem ganzen Körper, der Gestank verpestet die Luft, eine Totgeburt, ein totgeborenes Ding, ein Kind, Jérémie hat ihr ein totgeborenes Kind entgegengeschleudert, vor Ohnmacht und Ekel schlägt Louise um sich, stößt mit ihren Armen ins Leere, sie stöhnt, sie stöhnt, um ihren Mund nicht dieser flüssigen Pestilenz zu öffnen, die über ihr Gesicht läuft, weinend und bebend liegt sie am Boden und stößt das Ding von sich, die weiße Kreatur mit den geschlossenen Augen in ihrem blutigen, schleimigen Ballon, Louise stöhnt ihr Grauen hinaus, mit zusammengebissenen Zähnen brüllt sie einen furchtbaren, stummen Schrei hinaus, bis sie vor Entsetzen und Ekel ohnmächtig wird, während Jérémie in der Dunkelheit verschwindet.

Ihr Vater entdeckte sie am nächsten Morgen. Nachdem er viele Male an die Tür seiner Tochter geklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, ging er hinein – sie saß auf dem Boden, mit dem Rücken an den Spiegel gelehnt, immer noch im grünen Ballkleid, das Gesicht von schwärzlichen Flecken bedeckt, die Augen offen, mit starrem Blick, und neben sich den Fötus eines toten Kalbs, wie er vermutete, mitsamt der barbarisch aus dem Bauch einer Kuh herausgerissenen Gebärmutter; der Anblick war so grauenerregend, so unbegreiflich, und der Gestank so gewaltig, dass der Vater sich an der Tür festhalten musste, um nicht umzukippen – er näherte sich langsam seiner Tochter, sprach sie sanft mit ihrem Namen an, Louise, versetzte der Scheußlichkeit neben ihr einen Fußtritt, Louise starrte ins Nichts, war abwesend, weit weg, da schloss er sie in die Arme wie ein Kind.

 

 

Manchmal ist alles verloren, aber die Ehre gerettet.

 

Paco war also vorn, er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Um die zehn Extrapunkte für den letzten Stich nicht zu verlieren, blieb ihm nur noch eine Möglichkeit, nämlich zuerst seinen kleinsten Trumpf auszuspielen, die Pik-Acht – Patarin brachte nun seine Trumpf-Zehn nach Hause, Régis warf seinen Herz-Buben ab, und Alain, der Schuft, schmierte seinen Partner mit der Herz-Zehn, noch ein Stich mit mehr als zwanzig Punkten, der Paco und Régis durch die Lappen ging. Darauf warf Paco seine vierunddreißig Punkte, die beiden höchsten Trümpfe, die Neun und den Buben auf den Tisch, Patarin meldete in einem Atemzug erst Belote, dann Rebelote und spielte daher, wie es die Regel vorschrieb, erst den Trumpf-König und danach die Trumpf-Dame aus, und Paco strich die letzten acht Karten ein, warf unwillkürlich einen Blick auf seine Stiche, knappe fünfzig Punkte, na dann, keine fünfzig Punkte, das war echt unglaublich, Patarin konnte ihm da nur zustimmen, alles ist so gelaufen, wie es die Karten vorgaben. Mit vier Trümpfen, darunter Bube und Neun, also die Vierunddreißig, macht man normalerweise das Spiel. Man muss sagen, dass du wirklich nichts auf der Hand hattest, Régis. Du sagst es, keinen Trumpf, kein Ass, nur elende Luschen!

Der dicke Thomas war entzückt. Er liebte Katastrophen und fürchterliche Niederlagen; zu seiner Familie gehörten seit Anbeginn der Welt Bistrowirte und Bauern, Bauern und Bistrowirte; er wusste natürlich nicht, dass seine Wollust, seine Lügen, seine Massaker an Kleinwild und Fischen ihm eine Reinkarnation als Igel einbringen würden, und als einer der letzten Igel im Dorf würde er es nicht schaffen, rechtzeitig den Reifen des Imbisswagens auszuweichen, den Patarins Sohn übernommen hatte: Obwohl sich der Igel, der einst der fette Thomas war, zusammengerollt hat, fährt Patarins Enkel ihn platt und schickt ihn ins Bardo zurück, aus dem er zwei Jahrhunderte zuvor, 1815, als Wanze ins Leben zurückkehrt, als weibliche Bettwanze, Cimex lectularius, die nach fünf Wochen im Nymphenzustand das Erwachsenenstadium erreichte, dunkelbraun und einige Millimeter lang und Anfang Juni im ersten Stock der Auberge de la Boule d’Or geboren war, einem großen Gasthaus in Niort an der Avenue de la Quintinie, zwischen der Straße aus Paris und der in einer Art Namens-Metonymie Rue de la Boule-d’Or benannten Straße, die beide in die Avenue einmünden; eine Herberge, die auf den als Place de la Brèche bekannten Paradeplatz hinausging und mit ihren schönen Stallungen, zwei Speisesälen, Küchen, einem großen Keller und etwa dreißig Zimmern eines der größten Gasthäuser in der Stadt war, das von einem gewissen Lagrave geführt wurde. Die Bettwanze C. lectularius, eine Blutsaugerin, suchte ihre Nahrung nachts auf den Körpern der Gäste; sie lebte in einem Versteck hinter einer der Bettlatten und hatte nur wenige Dezimeter zurückzulegen, um auf einen schlafenden Fuß zu klettern, zum Knöchel oder zur zarthäutigen Wade zu wandern und zwischen zwei Haarwurzeln ihren Stech- und Saugrüssel in die Haut des Schläfers zu pflanzen – dann saugte sie sich mit Blut voll, kehrte in ihr Versteck zurück und verdaute es, bevor das Ganze wieder von vorne losging. Manchmal begegnete sie einem Männchen, das ihr hastig sein nadelförmiges Geschlechtsorgan in den Unterleib stach, um sein Sperma ohne Koitus direkt in ihren Bauch zu spritzen, und diese seltsame Vergewaltigung war so brutal, dass das Weibchen manchmal dabei starb. Wenn das Weibchen nicht aufgeschlitzt oder mit Krankheitserregern infiziert verendete, legte es unweit seines Verstecks einige hundert Eier ab, Eier, die nach fünf Larven- und Nymphenstadien zu ebenso vielen brandneuen Cimex lectularii wurden, die wiederum Blut fraßen, in ihrem Bauch das Geschlechtsmesser des Männchens empfingen oder selbst Männchen sein konnten, bereit, in die erregenden Bäuche der Weibchen zu stechen, und all diese Gliederfüßer nahmen Seelen auf, die, zu fortwährendem Leiden verdammt, nach Lust und Laune des karmischen Rads in der Unendlichkeit der Reinkarnationen umherirrten.

Am Abend des 1. Juli 1815 stand das Gasthaus kopf. Tagsüber war es sehr heiß gewesen, und als die Sonne langsam unterging, traf zur größten Überraschung Napoleon Bonaparte höchstpersönlich ein, mit Generälen, Waffen und Gepäck. Nach seinem Aufbruch am 29. Juni in La Malmaison erreichte er über Rambouillet, Tours und schließlich Saint-Maixent, wo er sich wegen der Weißen in großer Gefahr befunden hatte, Niort und stieg, finster gelaunt und schweigsam, in der Auberge de la Boule d’Or ab. In Niort hielt man zu den Blauen, vor allem dank der kaiserlichen Truppen, die dort stationiert waren, um die Aufständischen zu bekämpfen; es sprach sich schnell herum, dass der Kaiser persönlich im Ort logierte; bald versammelte sich eine Menschenmenge unter den Fenstern der Herberge: Soldaten, Bürger, Citoyens kamen von allen Seiten und feierten mit Vive l’Empereur! den Mann, der seit dem 22. Juni kein Kaiser mehr war. Diese Rufe waren Balsam für Napoleons Seele; der Adler zeigte sich an einem Fenster und dankte der Menge. Es war das zweite Mal, dass er die Stadt besuchte; 1808 war er schon einmal durch Niort gekommen und hatte eine ebenso verschwommene wie angenehme Erinnerung an die Stadt bewahrt.

Am Abend seiner Ankunft dinierten er und die Generäle Beker und Gourgaud zusammen mit dem Präfekten. Am nächsten Tag war die Menge so hartnäckig, dass er beschloss, am 2. Juli in Niort zu bleiben; am 3. Juli reiste er nur widerwillig nach Rochefort ab, da man ihn gewarnt hatte, dass die Engländer den Pertuis d’Antioche blockieren könnten. Napoleon plante, Frankreich zu verlassen und in den Vereinigten Staaten Zuflucht zu suchen; er hoffte, dass ihn ein Kriegsschiff, das ihm treu war, durch die Blockade und über den Atlantik bringen würde.

Die Bettwanze, die zuvor der dicke Thomas und ein überfahrener Igel gewesen war, wusste natürlich nicht, dass man an jenem Abend die Place de la Brèche beflaggt hatte, dass nun die kaiserliche Fahne, aus dem Schrank hervorgeholt, über dem Platz wehte; sie kannte die Stadt nicht, wusste nichts über ihre geographische Lage, geschweige denn über die schlafenden menschlichen Körper, von denen sie sich ernährte wie in den zwei Nächten, in denen sie sich über die Beine des kleinen Korsen hermachte – das Insel- und Kaiserblut war genauso nahrhaft wie jedes andere, wenn nicht noch nahrhafter; Cimex lectularius bemerkte weder die blaue Uniform mit den goldenen Knöpfen, die ordentlich gefaltet auf dem Stuhl vor dem kleinen Sekretär lag, noch das Schwert in der Scheide (eine Waffe, die Napoleon sogar an Bord der Bellérophon nach Sankt Helena begleiten sollte), noch den weltberühmten Zweispitz aus Filz, den er stets bis in den Sommer hinein trug. Am Morgen des 3. Juni krabbelt die Bettwanze kurz vor Sonnenaufgang über die kaiserliche Wade hinauf zum Oberschenkel, der wegen der großen Hitze unbedeckt ist; sie orientiert sich an der Körpertemperatur und den Kohlendioxidemissionen, bereitet sich auf eine neue Mahlzeit vor, eine blinde und freudlose Mahlzeit. Wenige Stunden zuvor hat sie ein Dutzend Eier in einer Matratzenhöhle abgelegt. Als sie hinter dem Knie, in der Mulde zwischen Oberschenkel und Gelenk, an eine geeignete Stelle gelangt, ganz in der Nähe derjenigen, an der sie in der Nacht zuvor zugestochen hat, bohrt sie zwei dünne Röhren, die aus ihrer Mundöffnung herausragen, durch die Haut; mit der einen saugt sie Blut, mit der anderen injiziert sie einen gerinnungshemmenden und betäubenden Speichel. Sie pumpt einen Milliliter warmes Blut in sich. Sie ahnt nichts von dem Reflex, den der juckende Stich vom Vortag bei der kaiserlichen Hand auslöst; sie versteht die Bewegung dieser Finger nicht, die sie unabsichtlich zerdrücken, sie fühlt, wie ihre Körperhülle aufreißt und das gerade aufgesaugte Blut sich auf der Haut des Schläfers ausbreitet, sie spürt einen Schmerz wie bei der Paarung, wenn ihr Bauch durchbohrt wird; sie versteht den Tod nicht, sie versteht nicht, dass ihre Wahrnehmungen erlöschen, das Heiße, Kalte, Lauwarme, und auch nicht das Klare Licht, sie löst sich auf in Bewusstlosigkeit; sie versteht weder ihren erneuten Eintritt ins Lebensrad noch ihre Wiedergeburt in einem anderen Körper, die nur ein Moment im Kreislauf der aufeinanderfolgenden Existenzen sind.