»Meine wackeren Totenpfleger und traurigen Grableger, Großmeister Sèchepine, Schatzmeister Grosmollard, Kammerherr Bittebière, werte Freunde und Amtsbrüder, auch in diesem Jahr haben wir uns wieder versammelt, um zwei Tage lang die Unterbrechung unseres traurigen Amts zu feiern, die uns das Schicksal seit Anbeginn der Zeit gewährt, zwei Tage Pause, in denen wir keine Leichen unter die Erde bringen, in denen uns Gevatterin Tod selbst zubilligt, dass wir uns erholen und dabei vergessen, was wir alle wissen, nämlich dass wir zuletzt in ihren Armen liegen und sie als letzte Geliebte jeden von uns umschlingt. Heute also begehen wir wie jedes Jahr seit Menschengedenken das Jahresbankett unserer Bruderschaft, bei dem wir schlemmen, uns den Bauch vollschlagen und die Kehle befeuchten. Lasst uns fröhlich sein, Brüder der Traurigkeit, statt lange Gesichter zu machen, wollen wir ein gigantisches Gelächter anstimmen! Doch zuerst lasst uns wie unsere Vorgänger die Trinkordnung festlegen, damit es dereinst nicht heißt, die Totengräber würden vorzeitig unter dem Tisch liegen – ich sehe schon, wie eure Blicke zärtlich die Karaffen streicheln. In der ehrwürdigen Tradition unserer Bruderschaft werden wir also gemeinsam das Glas heben und, zumindest am ersten Tag, vor und nach dem Trinken plaudern; dann überlassen wir uns dem Rebensaft, der heiligen Ampulle, die uns mit ihrer Weisheit erleuchtet, und wir werden saufen bis zum Umfallen und uns im Suff bemühen, verständlich zu lallen, und am zweiten Tag werden wir fast nicht mehr sprechen und uns schweigend auf den Nektar konzentrieren, bis uns das Wunder des Schlafs widerfährt, und wenn wir alle schlummern, wird Gevatterin Tod wieder die Macht über das Leben bekommen, und wir werden zu unserer Trauerarbeit zurückkehren, wie es geschrieben steht in der Heiligen Schrift. Jetzt ist Pause! Gevatterin, lass deine Sense ruhen! Hab Erbarmen mit uns Geplagten! Möge das Lebensrad stillstehen!«

Sobald die rituellen Formeln gesprochen waren, leerte Martial Pouvreau einen großen Weinkelch, tauchte seinen Schnauzbart ins Glas, bekleckerte sein Hemd. Das musste man gesehen haben: die pockennarbigen Gesichter, die weit aufgerissenen Augen der Gäste, die sich bebend in Geduld übten und darauf warteten, mit ihm gleichzuziehen und sich auf die heiß begehrten Weinflaschen zu stürzen, auf die Pasteten, die von den Helfern aufgetragen wurden, auf die Gewürzgürkchen, auf die Spießbraten über dem Feuer.

»Ah, meine wackeren Totenpfleger, ich trinke auf euch! Lang lebe Gevatterin Tod!«

Nun gluckerten die Getränke in den Kehlen, schnalzten die Zungen, rülpsten die weniger Gesitteten, und die besonders Durstigen ließen erleichterte Seufzer hören: Das Bankett war eröffnet.

»Lang lebe die noble Hure, Gevatterin Tod!«

»Lang lebe die noble Hure, Gevatterin Tod!«, wiederholten alle im Chor mit dem schrecklichen Schrei der Sträflinge, einem Schrei von tobenden Galeerensklaven.

»Und jetzt, meine wackeren Totenpfleger, meine verehrten Grubenschaufler, jetzt lasst uns leben! Schlagt Schlottermilch aus den Eiern heraus! Lasst uns speisen und palavern! Laben wir uns an diesem Leichenschmaus!«

Das musste man gesehen haben: Wie die neunundneunzig Gäste ihre Hände nach den Schüsseln ausstreckten, nach dem Brot, wie sie sich die Scheiben abschnitten, sie aufeinanderlegten, einer oder zwei verschluckten sich, räusperten sich, husteten, und hätte ihnen ihr Nebenmann nicht auf den Rücken geklopft, hätten sie die Tradition Lügen gestraft, nach der beim Bankett der Totengräber nichts sterben darf außer Geflügel, Kaninchen, Schweinen, Lämmern und Ochsen, die bei der Vorbereitung zum Festschmaus zahlreich ad hoc das Zeitliche gesegnet hatten, und in diesem Jahr auch Frösche und Aale aus vollen Reusen in Hülle und Fülle; doch bevor alle ihre Hauer hineinschlugen, bevor sie alles hinunterschlangen, ergriff Großmeister Sèchepine das Wort, um die Begrüßungsrede zu erwidern und dem Ritual folgend die erste Frage zu stellen:

»Danke, Meister Pouvreau. Gesundheit und langes Leben! Danke für den Empfang, den du uns in dieser reizenden Abtei bereitest! Unberührt von der Krise, freuen wir uns, hier zu sein, haben wir doch nur einmal im Jahr die Erlaubnis dazu. Lasst uns, Freunde, über unser trauriges Schicksal nachsinnen und die Ärzte preisen, die für unser täglich Brot sorgen. (Alle brachen in Gelächter aus und versprühten dabei Cornichonbrocken.) Mögen unsere Frauen Unsterbliche gebären! Doch auch wir fallen ins Grab! Das ist das Lebensrad! Trinken wir, meine Freunde, trinken wir, denn drei Tage lang dürfen wir es vergessen, dürfen wir fröhlich sein: Schlagt Schlottermilch aus den Eiern heraus!

Die erste Frage, die ich euch gerne stellen würde, meine wackeren Totenpfleger, bezieht sich auf Frauen. Bis jetzt sind sie aus unserer Bruderschaft ausgeschlossen. Doch das 21. Jahrhundert fordert, dass wir sie aufnehmen. Sind sie nicht dem Mann in jeder Hinsicht gleichberechtigt?«

Das musste man gehört haben: Die tiefe Stille, die diese gewagte Aussage hervorrief. Alle hörten auf zu kauen, manche spuckten den Wein zur linken Seite hin wieder aus zum Zeichen ihres Abscheus und zum Leidwesen ihres Nebenmanns; andere spitzten ihre Lauscher mit größtem Interesse.

»Frauen? Du möchtest Frauen sehen? Ich glaube, du denkst mit deinem Schwengel, Sèchepine, und der ist weiß und verdorrt. Du sprichst wohl für ihn. (Verstohlenes Kichern.) Du willst Frauen sehen? Das Bankett in eine Orgie verwandeln? Warum den Damen einen solchen Unglücksberuf aufbürden? Warum sie an unserem tristen Schicksal teilhaben lassen, wenn sie davon ausgenommen sind? Willst du ihnen unter dem Vorwand der Gleichheit unseren Kummer zumuten? Du lebst zu gut, Sèchepine. Du vergisst, wie wir leben. Lass die Brüste in der Welt der Schönheit.«

Alle johlten: »Pouvreau sagt es, wohl gesprochen, Pouvreau!«, und nutzten die Pause, um noch einmal an den Pullen zu nuckeln und dabei melancholisch von Nippeln zu träumen. Das musste man gesehen haben: Was Sèchepine für ein Gesicht machte; ganz blass war er wegen des Affronts.

»Irrtum, Pouvreau! Du schüttest das Kind mit dem Bade aus, Rhetor! Hier mein Argument: Du weißt genau, warum es keine Frauen in der Bruderschaft der Totengräber gibt, warum nicht einmal unsere Ehefrauen dazugehören. Ich sage, das ist eine antiquierte Regelung. Dass ihr ein Märchen zugrunde liegt. Eine Ungerechtigkeit. Ein Aberglaube. Wie bitte? Unsere Frauen sollen unsere Buchhaltung erledigen, unsere Kunden empfangen, aber selbst keine Bestattungen durchführen? Sieht man sie etwa nicht in Schwarz bei den Beerdigungen? Sind sie etwa nicht besser darin, die Trauernden zu trösten? Für den gepeinigten Witwer das wieder aufkeimende Begehren zu verkörpern? Die Herzen zu erreichen, die Tränen zu lösen? Und du, Pouvreau, wäre es dir nicht lieber, wenn du stirbst, Gott bewahre!, dass eine zarte und sanfte Hand dich ein letztes Mal wäscht statt die haarige Pfote eines Lehrjungen? Frauen sollen Lebende schminken und frisieren, aber auf keinen Fall Tote? Sie können alles, außer in diese Bruderschaft eintreten? Ich sage: Wo’s nach Formalin mufft, hilft nur frische Luft.«

Er nahm einen Schluck. Prompt ertönten bewundernde Pfiffe. Aber auch unzufriedenes Murren. Pouvreau lächelte abschätzig; er wartete, bis Sèchepine sein Glas abstellte.

»Das ist nicht der Punkt, mein Freund. Wünschst du dir auch Foltermägde, Henkerinnen, Soldatinnen? Wir haben gesehen, wohin uns diese Modernität führt: Das schöne Geschlecht ist nicht mehr, was es war. Sind Frauen immer noch durch die Bank schön? Und ist ein hübsches Köpfchen unter einem Helm einen Ständer wert? Ich meine, wir haben Statuten, lang leben die Ruten!«

Nach dieser klangvollen und treffenden Sentenz leerte Pouvreau seinen Becher, einen etwas blassen Beaujolais, nicht voll ausgereift, süffig, so moussierend, dass Sterne in den Gläsern aufstiegen, rubinrote Funken, wenn das Kerzenlicht hineinfiel. Denn gegenüber dem gehaltvollen, dicken Blut eines Bordeaux, der Finsternis eines Corbière oder dem samtigen Blaurot eines Languedoc bevorzugte er insgeheim die dunklen Gamay-Weine aus den Bergen des Lyonnais, die schwarze Pinottraube, die nächtlichen Côte de Nuits, Weine aus Beaune oder Chalon, von denen er den naiven Eindruck hatte, man könne sie hektoliterweise trinken, ohne Schaden zu nehmen, als würde man irgendwo zwischen Auxerre und Dijon oder kieloben auf der Saône treiben und beim Urinieren den überschüssigen Rebensaft wie ein Wal in schönen Fontänen in die Luft blasen. In diesem Jahr hatte man, da die Zusammenkunft im Westen stattfand, im Refektorium der Abtei von Maillezais ganze Fuder von Weinen aus dem Anjou und von der Loire angekarrt, volle, tanninsatte Chinon-Weine aus den Flusskieslagen, die mit einem leichten Aroma von Brombeere und Lakritze sanft durch die Kehle flossen, deren Weinstein an den Zähnen haftete und noch mehr Durst machte, immer mehr Durst, so dass man, wenn man nacheinander die Vendée, dann den Lay, den Thouet und die beiden Sèvres leer gesoffen hätte, am liebsten mit einem gigantischen Strohhalm von jenem Hügel aus, auf dem Rabelais’ Geburtshaus La Devinière steht, auch noch die Vienne, wenn nicht gar die Loire ausgesoffen und die Sümpfe trockengelegt hätte, um in ihnen die Aale und Frösche zu fangen, die, gut zerteilt und frikassiert, mit viel Knoblauch und Petersilie versehen, die Gerichte ebenso königlich schmückten wie den Gaumen entzückten, weil Butter, Knoblauch und Petersilie so gut zu allem passen – die kleinen, gummiartigen Knochen der Froschlurche sind außerdem sehr nützlich, um sich vor einer Rede in der Öffentlichkeit die Schneidezähne zu reinigen und sie von den grünen Fitzelchen zu befreien, so wie es mit großen Mengen eines Rachenputzers allemal gelingt, eine Knoblauchfahne zu verdecken, ob vom Knoblauch an Weinbergschnecken oder Froschschenkeln, an Terrinen und Pasteten oder sogar, mehr schlecht als recht, von blankem, rohem Knoblauch: dem teuflischsten, dem stärksten.

In diesem Jahr also, als Martial Pouvreau gerade seinen Becher mit dem Beaune leerte, den er vom vorausgegangenen Jahresbankett gerettet (Pouvreau war reich, folglich geizig, meinten die einen, oder schlau, die anderen) und mit dem Auto aus Cîteaux herbeigeschafft hatte, einer Gegend, die von manchen mit dem Paradies auf Erden verglichen wird (Pouvreau, den die Gürkchen durch den Speichelfluss, den sie hervorrufen, die Pasteten durch das Salz, das sie enthalten, und der Rotwein aus reiner Gewohnheit ordentlich hungrig gemacht hatten, fixierte die Spanferkel und die Lämmer in den Kaminen und konnte die Augen nicht mehr davon losreißen), und als die versammelten Totenpfleger, Erdarbeiter, Steinmetze, Friedhofswärter, Thanatopraktiker, Feuerbestatter und Leichenwagenkutscher (es gab nur noch einen in Europa, einen alten Holländer, einäugig wie ein alter Klepper und sturzbetrunken) sich auf das Buffet mit den Vorspeisen stürzten, nachdem Martial Pouvreau (der diesjährige Gastgeber) und Grégoire Sèchepine (der Großmeister) jene Lebensweisheit von Montaigne, wonach der Kommandant sein Volk in die Schlacht führen soll, beherzigt und die Vorhut aus Wein, Terrinen und Gürkchen niedergemacht hatten, inmitten dieses panischen Vorgeplänkels also, während dessen die Angst vorherrschte, etwas zu verpassen, und jeder versuchte, so schnell wie möglich eine Art Anfangsrausch zu bekommen, ansatzweise zu einer ersten Sättigung der Gier zu gelangen, während es weinrot aus den Schnauzbärten troff wie aus Boxernasen im Ring, und Krümel sich in den Vollbärten sammelten, ergriff Sèchepine erneut das Wort, nicht ohne zuvor zwei leere Karaffen aneinanderzustoßen und so für Stille zu sorgen:

»Brüder und Freunde! Sargträger und Bestatter! Hiermit erkläre ich das Jahresbankett der Totengräber feierlich für eröffnet! Lasst uns singen!«, und sofort legten alle los, die einen versprühten Krümel, andere (die Schleckermäuler) spuckten ein ganzes hartes Ei oder einen Froschschenkelknochen aus, während sie die Hymne der Bruderschaft anstimmten, einen gravitätischen und langsamen Marsch in d-Moll – der Tonart, die Mozart Gevatterin Tod zugedacht hatte –, von einem unbekanntem Reimeschmied mit lateinischen Versen ausstaffiert, die von Pluralformen des Ablativs auf -ibus nur so strotzen, die, in fidelium partibus, das Kennzeichen der wahren poetischen und gelehrten Sprache sind. Alle sangen, die Hand auf dem Herzen, den Refrain de poenis inferni et de profundo lacu, »von den Qualen der Hölle und vom Schlund der Unterwelt«, und den hebräischen Vers, yǝhē’ šǝmēh rabbā’ mǝb̠ārak̠, »gelobt sei der Name des Herrn«, Heiden und Juden, Katholiken und Muslime, Protestanten und Atheisten, glühende Marxisten oder Mitglieder der Petite Église des Deux-Sèvres, alle schmetterten die Hymne aus voller Kehle, denn ob sie aus der Gegend stammten oder von weit her kamen, das Prinzip der Brüderlichkeit unter den Bestattern erforderte, dass jeder großmütig seine Überzeugungen an der Garderobe der Bruderschaft abgab; alle taten zum Beispiel so, als seien sie Liebhaber von Gefilte Fisch, sogar die Ungläubigen und selbst die, die Fisch in Aspik, ob Karpfen, Hecht oder Zander, verabscheuten. Beim Bankett sperrten auch sie den Mund auf, um sich damit vollzustopfen, denn Gleichheit angesichts des Todes war einer der Grundsätze des Banketts, und die schlimmsten Rassisten unter den Sargträgern vergaßen zwei Tage lang ihre Vorurteile: Zum Donnerwetter!, wir üben einen grauenvollen Beruf aus, und wir wissen alle, Atheisten, Muslime, Juden und Christen, dass wir am selben Ort enden, in einer tiefen Grube oder in den Flammen eines Verbrennungsofens, und, ob gut oder schlecht, dem entgeht keiner: Willkommen in der Asche oder in der Fäulnis.«

Martial Pouvreau hatte die Abordnungen verschiedener Konfessionen empfangen, die Würdigungen und Komplimente, Spenden und Geschenke entgegengenommen. Das Refektorium der Mönche in der Abtei von Maillezais war groß genug, um sie alle aufzunehmen, neunundneunzig Mitglieder, die armen Totengräber, die Bestatter, die Thanatopraktiker und die Tiere, die sie mitbrachten, die Lämmer, die Schweine, die sich in den Kaminen am Spieß drehten, die Fische, die Vögel in Aspik und die Pasteten, die Hunde, die zu ihren Füßen unter der gewaltigen hufeisenförmigen Tafel schliefen, bei deren Anblick Freude aufkam, so lang und so breit war sie, so voll beladen mit Wein, Speisen und so gut bestückt mit klugen Köpfen. Sobald man die Hymne gesungen und Mozart jaulend und kauend erledigt hatte, ergriff Großmeister Sèchepine entschlossen und unbeirrt von Neuem das Wort und kam wieder auf seinen Antrag zurück:

»Wisst ihr eigentlich, meine werten Totengräber, dass früher Frauen in unsere Bruderschaft aufgenommen wurden? Dass sie eine Stimme im Kapitel hatten? Dass sie nicht nur Tote begruben, wuschen, salbten, parfümierten, Leichname öffneten und wieder verschlossen und weinten, sondern dass sie auch tranken und pfiffen, schlemmten und prassten? Kurz und gut, dass sie sich für nichts zu schade waren? Wusstet ihr das? In sexu muliebri celebrat fortes victorias et corpore fragiliores ipsas reddet feminas virtute mentis inclitae gloriosas, wie es der Dichter Venantius Fortunatus ausdrückt.«

Sogleich erwiderte ihm einer der muslimischen Totengräber mit langem Bart und Mantel:

»Bei uns, meine Brüder, waschen sie seit Ewigkeiten die Verstorbenen. Fest steht, man braucht Frauen, um Frauen zu begraben. Doch sie deshalb in unsere Bruderschaft aufnehmen? Wollen wir ihr Schnattern bei unserem Bankett hören? Sollen wir zur Bruderschaft der Hanswurste werden? Alle werden sich zum Hahn machen, um ihnen zu gefallen! Ich sehe dich schon vor mir, Patureau, wie du hechelst und den Propeller in den Wind hältst. Und du, Leborgne? Und du, Couilleroy? Und du, Mosche, glaubst du, sie respektierten deine Frömmigkeit?«

»Bravo, Freunde, ich sage: Volltreffer!«, erwiderte Sèchepine. »Diese Harpyien würden sich auf uns stürzen wie halb verhungerte Schiffbrüchige, das ist sicher. Sie könnten deinem schönen Zinken nicht widerstehen, Lebel! Auch nicht deinen Segelohren, Séraphin, deinen Ohrmuscheln mit dem breiten Rand, aufgrund derer jeder sagt, ›Ah! Dieser Séraphin, was für ein Tritonshorn!‹ Sie werden von deinen Warzen nie genug bekommen, Dessais, so viel ist klar. Mischten sie sich unter uns, würdest sogar du, Bertheleau, aus deiner Lethargie erwachen und aus dem Bankett eine Orgie machen! Ich sehe es voraus! Eure ungestüme Männlichkeit, eure sprichwörtliche Gewandtheit beim Liebesspiel! Fast hätte ich sie vergessen! Verzeiht, meine Freunde. So beherrscht ihr also eure Begierden: Ihr Schlaumeier, ihr denkt mit dem Schwanz!«

Von den Kelchen und Tellern stieg empörter Protest auf. Plötzlich ergriff ein alter Totengräber das Wort:

»Verzeih, Meister Sèchepine, aber du gehst zu weit. Weder bedarf es so viel Aufwands noch der Beleidigung. Uns mit unserer Männlichkeit einzuseifen, alter Ironiker! Ich schlage vor, die Sache von hinten aufzurollen. Nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Sich ans Verfahren zu halten. Sich der modernen Zeit zu stellen. Stimmen wir ab und sprechen nicht mehr darüber.«

»Mein Freund, du weißt genau, dass es in dieser erhabenen Versammlung nicht üblich ist, über etwas abzustimmen, das nicht ausgiebig besprochen, verhandelt, diskutiert wurde!«

Die Empörung schwoll an: »Zur Abstimmung! Zeit zu futtern, Sèchepine! Schluss mit dem Lamentieren! Lass uns die trocknen Kehlen schmieren! Reden sind ein Störfaktor! Schluss jetzt endlich, Schluss, Rhetor! Zu Tisch!«

Das war natürlich eine Provokation, denn sie saßen bereits bei Tisch, und mehr denn je. Aber Sèchepine, der eine lange Erfahrung mit diesen Versammlungen hatte, erkannte, dass die Kehlen sich verbündeten, die Mägen in Aufruhr waren. Man musste einen bestimmten Alkoholpegel erreichen, bevor man ernsthafte Fragen erörtern konnte.

»Nun denn! Zur Abstimmung! Wer ist für ein geeintes, gemischtgeschlechtliches Bankett? Wer ist dafür, dass Frauen als vollberechtigte Mitglieder in unserer Bruderschaft aufgenommen werden?«

»Dann wäre es keine Bruderschaft mehr, sondern eine Schwesternschaft, wenn nicht gar eine Gemischtschaft!«, rief jemand dazwischen.

Hier und da kurzes Gelächter.

»Zur Abstimmung, Leute! Zur Abstimmung! Wer dafür ist, hebe die Hand!«

Es war ein überraschender Erdrutschsieg. Manche versuchten sogar, mit beiden Händen abzustimmen, um bei der Wahl noch mehr Gewicht zu haben. Das Ergebnis war klar und deutlich – Sèchepine triumphierte, das männliche Vorrecht war gefallen.

»Wohlan«, sagte er und lehrte seinen Kelch, »die Sache ist entschieden. Und jetzt wollen wir das Ergebnis feiern! Genießt, Genossen! Erheben wir unsere Gläser!«

Wie immer bei solchen Dingen freuten sich die Verlierer darüber, ihre Enttäuschung mit einem Trunk hinunterzuspülen, und die Gewinner, ihren frischen Sieg zu begießen; alle waren also wieder damit beschäftigt, die Gläser zu leeren, zu gurgeln, den Schlund zu wässern, das Zäpfchen zu besprengen, die Stimmritze zu netzen; man wusste, dass die ernsthaften Fragen zurückkehren würden, denn es gab schließlich eine Tagesordnung für das Bankett, aber im Augenblick feierte man die Ouvertüre, das Incipit, die Flutung. Sèchepine freute sich, dass sein Antrag angenommen war, seiner Meinung nach war es höchste Zeit, Frauen den Beitritt mit allen Rechten zu gewähren; er strich Rillettes au Vouvray auf ein Stück Brot und drückte ein tiefgrünes Cornichon hinein, wie man eine Patrone in einen Gewehrlauf schiebt; die Brotkruste war weder zu hart noch zu weich, sie kitzelte die Schneidezähne und kraulte den Gaumen, bevor die fette Schweinepastete, illuminiert von der knackigen Säure des Gürkchens, zu einer Ausschüttung von Glückshormonen im Gehirn des Großmeisters führte – ah, diese Rillettes nehmen einem alle Sorgen, dachte er, die des Gaumens, die des Bauchs und die der Seele, und diese unvermittelte Freude entging seinem Nebenmann Pouvreau nicht, der ihm gratulierte und ihm ein Glas mit Chinon füllte, dessen Jugend dem Bürgermeister zufolge das Pfand einer schönen Zukunft war, fruchtig herb, ohne kantig zu sein, Gerbsäuren ohne Astringenz, »was die Mundwinkel hebt«, wie der Chef des Magistrats und der Totengräber gern betonte.

Die Schmalzschmelzer prüften regelmäßig die Spiralfedern der Drehspieße, die einen beträufelten die Spanferkel, andere die Lämmer, wieder andere die Hasen (die beinahe gar waren). Gut gefettet mit geschmolzenem Speck aus dem Flamboir und großzügig mit einer Sauce aus Sauerampfer und Feldthymian bepinselt, verströmten die Hasen einen Duft wie ein englischer Rasen, wie ein korsisches Wäldchen, wie ein Sumpf, den man trockenlegt: Kraft, Zartheit, Laune der Natur. Natürlich waren sie gewildert, denn im Frühjahr war die Hasenjagd verboten; man hatte sich erlaubt, einige aus dem Bestand zu nehmen, alte Hasen mit langen Ohren, verschlissene, gerissene, ehrwürdige und libidinöse, exzentrische und wollhaarige, und man hätte nur männliche erlegt, wenn man sie hätte erkennen können, was unmöglich war, weshalb es lange Zeit als ausgemacht galt, dass der Hase ein doppelt unreines Tier sei, ein Wiederkäuer ohne Hufe und ein unverbesserlicher Sodomit, doch das war reine Verleumdung, purer Neid – die Häsin, notierte schon Aristoteles, kann von Neuem trächtig werden, bevor sie die Jungen, mit denen sie trächtig ist, geworfen hat: Diese Fähigkeit entzückte die Totengräber, die von allen Menschen am meisten am Leben hingen, weil sie mit dem Tod lebten.

Die Reihenfolge der Fleischgerichte richtete sich nach der Garzeit, man speiste also der Größe nach, und wenn kein Fleisch mehr da war, wich man notgedrungen auf das Gemüse aus; zuerst die Hasen, dann die Lämmer am Spieß, dann das Kalb, das gevierteilt briet; der Fisch, Aale, Neunaugen, Karpfen, Zander und Hecht, frittiert, als Klößchen, in Terrinen, in Aspik oder in Sauce, folgte auf die Vorspeisen, herrliche Pyramiden mit russischen Eiern, weiß, gelb und grün wie auf einem Stillleben, saftig von der frischen Mayonnaise, garniert mit Petersilie und Estragon; wie in Flauberts Mégara waren die Servierplatten aus Bronze, die Kratres schwappten über, und die mit Spannung erwarteten neuen Speisen befeuerten die Fresslust. Jedes Jahr waren die Gastgeber angehalten, dem Bankett einen lokalen Anstrich zu geben: Martial Pouvreau hatte außer den Froschschenkeln aus den hiesigen Sümpfen jene Trockenbohnen gewählt, die man Mogettes nennt und die in den Ecken der tausendjährigen Kamine in ehrwürdigen Kesseln fröhlich blubberten – die größten Schlemmermäuler kauerten vor der Feuerstelle am Boden und rösteten über der Glut eine Scheibe dunkles Brot, die sie mit Knoblauch einrieben, bevor sie eine dicke Schicht Bohnen darauf verteilten, gierig wie Kinder beim Vesper, und man musste sehen, wie ihnen das Wasser im Mund zusammenlief, wie sie sabberten und vor Ungeduld brannten, ihre Mäuler aufrissen wie eine Bombarde.

Sèchepine prüfte einen Augenblick das Treiben der Totengräber um ihn herum, die Terrinen und Pasteten, die verschlungen wurden, die Flammen in den riesigen Kaminen des Refektoriums. Der weise Sèchepine verstand es, sich Zeit zu lassen, und sollte er sich wie die anderen unter dem Tisch wälzen, Gott bewahre, dann bestimmt erst spät in der Nacht. Er schlürfte also seinen dunklen Chinon, anstatt ihn hinunterzustürzen: Denn der dürfte bis zum Ende des Banketts wohl einige Totenpfleger umkippen lassen! Manche würden in aller Glückseligkeit mit der Stirn im Senf einschlafen und die Debatten mit ihrem Schnarchen rhythmisieren! Doch der Großmeister konnte sich nicht erlauben, schwach zu werden, mit dem Kopf in der Sauce zu liegen, einen stieren Blick zu haben; er musste bis zum Schluss und ohne offizielle Pausen Haltung bewahren wie der Frontsoldat auf dem Denkmal für die Gefallenen.

Ganz kribbelig geworden zu Beginn der Agape (das Wort bedeutet auf Griechisch nicht weniger als »Liebe«), beobachteten die Bestatter einander wie Pferde vor dem Rennen; sie fragten sich, wer als Erster nach dem Vorstand reden würde und was sein Anliegen sein würde, denn im Grunde genommen waren sie neugierig auf Geschichten und neue Erzählungen, versessen nicht auf rege Anträge, sondern darauf, bewegt zu werden. Ein Totengräber namens Bertheleau stürzte sich als Erster ins Gefecht. Er hatte gerade eine Salatschüssel mit Froschschenkeln geleert und leckte sich die vom Öl glänzenden Finger voller Petersilien- und Knoblauchhäcksel; in seinem Teller stapelten sich die kleinen Knochen wie eine Streichholzskulptur. Als er mit dem Fingerlecken fertig war, bat Bertheleau, wie es üblich ist, seinen rechten Nebenmann um das Wort, das Sèchepine ihm so schnell wie möglich erteilte, um die Stille zu brechen, die langsam peinlich wurde.

 

BERTHELEAUS REDE:

WIE LUDIVINE DE LA MOTHE

GARGANTUAS LIEBESKUMMER LINDERTE

 

»Totengräber und Freunde, um auf die Frauenfrage zurückzukommen, die euch umtreibt, denn bei einem ordentlichen Bankett dürfen die Liebe und der Schwanz nicht unerwähnt bleiben, und da es in dieser Gesellschaft Brauch ist, von allen Schandtaten zu erzählen, da das Vergnügen ein Bürgerrecht ist (Kratzt das Schmalz aus euren Ohren, während ihr euch den Bauch vollschlagt! Schluckt den Rebsaft runter!), wird es (ich meine das nicht vulgär) gleich um die gigantische Größe einer Art Riesenmöse gehen, um den Witz von einem Schlitz sowie um das Moos im Schoß. (Bei diesen Worten blieben den verdutzten Gästen die Hände, die Ellbogen in der Luft stehen.) Wir alle sind vertraut mit ihrem Innenleben, ihrer Höhlenfeuchtigkeit, ihrer Kalbsleberweichheit, ihrem schleimigen Schlabber, ihrem schmatzenden Sabber, ihrem Humusgestank, ihrer Rebusgestalt, ihrer Form, als wäre ein Pflug durch sie hindurch. (Sogleich erhebt sich Protest: Sabber? Humus? Pflug? Das zu hören ist immer noch besser, als taub zu sein! Was sollen diese Beleidigungen, Bertheleau! Finger weg vom Wein, schenk dir Wasser ein! Mach keinen Ärger, zum Teufel! Wie schäbig, Bertheleau, das schöne Geschlecht so zu verunglimpfen!) Beruhigt euch! Ich rede von Furchen, ihr Säcke! Von gigantischen Gesäßen! Von Göttinnen! Und maßlosen Delikatessen: von Mösen wie Kutschtüren, aus denen sich Flüsse ergießen. Von Sturzbächen zwischen Bergen! Aber ja! Ich schwöre es! Erinnert euch, wackere Totenpfleger, wo wir uns befinden, dieses Abendmahl in diesem Speisesaal, diese Abtei von Thélème, habt ihr das göttliche Analemma der Sonnenscheibe vergessen? Hier wurde Gargantua geboren! Hier! Er kam ganz fertig zur Welt, vollständig ausgerüstet. Und stellt euch vor, dieser gute Riese wusste nicht, wohin mit seinem Ding, in welche Ritze, durch welche Schlitze: Es war so groß, dass keine Möse es aufnehmen konnte. Man versuchte es mit einer Ziege: Sie endete hasenschartig, gespalten und gewendet, die Hörner am Hintern, das Fell innen. Man holte eine Kuh für seinen homerischen Hobel. Die Hauptschwierigkeit war der Druck: Selbst mit geharnischter Brust, von einem Eisenkorsett gehalten, platzte sie auseinander. Gargantua, der keine Weibchen massakrieren wollte, versuchte eine Kamelstute zu penetrieren: Sie brüllte los, die Schnauze im Sand, die Luftröhre verstopft, den Tod sie fand. Herrgott noch mal, armer Gargantua! Er war dazu verdammt, ganz ohne Frau auszukommen! O grausames Schicksal! O krasse Trakasserie! Dazu verdammt, zu wichsen! Und wie er Hand anlegte!!! Man hätte meinen können, der Glöckner von Notre-Dame schrubbe, ding-dong, ding-dong, von oben nach unten, seinen Einäugigen, dessen gewaltiges Auge blinzelte. Und wehe, die Ladung ging los! Die Kanone spritzte ohne Rückstoß meilenweit, es regnete Homunkuli! Das ganze Poitou badete in dem Schaum, die Feinbäcker füllten schnell ihre Windbeutel damit. Das Sperma erfreute die Fischer, denn sie stießen darin häufig auf Perlen von Austern und Kaviar.«

(Was sollen diese grässlichen Geschichten? Pfui, Bertheleau, schlagt Schlottermilch aus den Eiern heraus! Genug der Gräuel! Bringt diesen Hornochsen zum Schweigen! Die Kommentare wurden rüde: Die Totengräber waren prüde. Es behagte ihnen nicht, beim Essen vom Wichsen zu sprechen. Bertheleau kümmerte sich nicht darum und fuhr fort.)

»Nach einem Hopser des dicken Schafts, einem Rülpser der unverbesserlichen Rute ertrank eines Tages mitten in einer Ratssitzung ein Magistrat – er hatte den Mund im falschen Moment aufgemacht. Der Riese, der auf der Kathedrale von Poitiers hockte, war tief betrübt. ›Bei der heiligen Radigunde! Aufgepasst, Freunde, ohne Absicht und mangels einer Möse in meiner Größe wird die ganze Politik mit Auswurf traktiert: Den Ministern wird dann die Tonsur geschmiert.‹ Zu dieser Zeit diskutierte man über die Benzinpreise und die Gummigeschosse, mit denen die Polizei nicht geizte: Manche (Vorwitzige) verloren ein Auge, andere (Strolche, Lasterhafte) lagen mit offenem Mund und übersät mit blauen Flecken herum. Das gemeine Volk hatte große Lust, den Präsidenten an den Ohren zu packen, damit sich der Pfropf in seinem Gehörgang löste und dieser große Mann wieder empfänglich wurde für die Schreie der Nation. Gargantua, der Philosoph, verfolgte die Demonstrationen von seinem Dach aus, das Kinn auf die Faust gestützt, verblüfft; er begann zu träumen, döste ein; sein Schwanz tropfte schnell, er pullerte los – die verwirrten Bullen unter ihm hoben ihre Schilde: Sie schützten sich, so gut sie konnten, vor dem goldenen Guss. In Reih und Glied! Die Schildkrötenformation! Lasst es pissen!

Gargantua träumte. Er träumte von einer herrlichen Insel, wo er an eine Palme pisste. Der Schauer war von Dauer, und der Pegel stieg – unter den Wachmännern wuchs die Sorge, sie erinnerten sich an die Notre-Dame-Affäre, als Gargantua, um den Brand zu löschen, der den Dachstuhl zerstörte, mit einem kräftigen Strahl hundert Bullen ertränkte, die in ihren Wannen Trut spielten.

Von der Sonne gewärmt, schlummerte der Riese auf den dünnen Schieferplatten. Eine Riesin namens Badebec kitzelte ihn. Sie neckte ihn, beperlte ihn, bestrichelte ihn, ritzelte ihn mit dem Fingernagel, liebhodelte ihn mit ihren Wimpern (o himmlische Liebkosung, mit den Wimpern von Badebec an den Eiern!), besträubte ihn, besabberte ihn, und Gargantua gurrte, surrte, schnurrte im Traum: Er wälzte sich so voller Wohlbehagen auf seinem Dach, dass es Schieferschindeln auf die Polypen regnete. Gargantua, stöhnte Badebec, Badebec, stöhnte Gargantua, und der Riese bekam einen Steifen.

Mit einem Mal wurde es dunkel auf dem Schlachtfeld.

›Eine Sonnenfinsternis, Gendarm! Unsere Truppen von finsterster Nacht überrascht!‹

›Nein, Chef, es ist der Riese, er verdeckt Phöbus! Mit seinem langen, geschwollenen Glied, groß wie ein Bus!‹«

(Die Totengräber waren von diesem gewagten Bild so eingenommen, dass sie schmunzelten. Sie freuten sich wie Kinder. Es war ein großes Rambazamba. Man stürzte sich auf die Pasteten, kabbelte sich um die Gürkchen, nahm mit riesigen Messern die Schinken in Angriff; man fiel über das noch dampfende, marinierte Pastrami her; die Rinderviertel hielten Wache, Malossol-Gurken neben sich wie Kosakenpeitschen. Da die Zuhörer ihren Hunger stillten, machte auch Bertheleau eine Pause. Er verschlang ein gefülltes Ei, leckte sich die Mayonnaise von den Fingern, spülte seinen Schnauzbart, indem er ihn in sein Glas mit Chinon-Wein tauchte, der duftete wie ein Rosenstrauch im Frühling. Dann konnte er nicht widerstehen und schnappte sich einen kleinen, mit Ziegenfrischkäse gefüllten Windbeutel, um alles aufzusaugen, wie er sagte. Die Totengräber waren wieder ganz Ohr, bereit für den Fortgang der Geschichte.)

»›Oh, Badebec, mein Herz, mein Putchen, mein Schnuckelchen, mein Lätzchen, mein Schläppchen, mein Pantöffelchen, nie soll ich dich wiedersehen?‹, sang Gargantua leise vor sich hin, als er aus diesem vollkommenen Traum erwachte.

Badebecs Möse war wie die Grotte der Apokalypse: tief, heilig und lumineszierend. Laut Gargantua der Ort der Erleuchtung! In ihrer Mitte ergoss sich ein Fluss, die Luft war erfüllt von einem süßen Duft wie von Pilzen. Sogar der Apostel Johannes hätte darin vor Wonne die Besinnung verloren! Die sieben Schläfer von Ephesus schliefen dreihundert Jahre darin. Die Eingemauerten hatten einen Hund, der fröhlich mit dem Schwanz wedelte, als man die Höhle öffnete. Die Wände von Badebecs Möse waren glatt und schlüpfrig; ein Honigtöpfchen voll süßer Tröpfchen; wenn man das Ohr auf sie legte, hörte man es gurgeln: das Echo des Tidenstands im Rektum. In einer Falte verborgen orakelte dort eine Pythia; und was die Schwänze hörten, erschreckte sie so sehr, dass sie zurückwichen wie scheuende Pferde. Tief drinnen an des Flusses Quelle, glaubt man, wohnen blinde Geschöpfe, und in der hintersten Ecke wachsen Anemonen weiß wie Spargel, prall wie Säcke.

In Gargantuas Fantasie war dieser Ort das Paradies, die perfekte Höhle, er träumte davon, darin sein Bett aufzustellen, sein Zelt aufzuschlagen, hier wollte er die Tarantella tanzen und seinen Stammbaum pflanzen.

Doch leider gab es diese geräumige Möse, diese Liebesmuschel, diese Wonnewiege nur in seinen Träumen.

Darüber war Gargantua auf seinem Dach untröstlich.

In der Dunkelheit unter ihm gingen die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften weiter. Man überbot sich gegenseitig, Steine gegen Schutzschilder Schlagstöcke gegen Helme, die Zivilisten weigerten sich, nachzugeben, die Bullen, mit mannhaftem Eifer, wollten sie vom Platz schaffen, mit Blendgranaten und Distanzwaffen. Diese regelrechte Schlacht erinnerte Gargantua an die Kriege seines Vaters, die Schmach der Fladenbäcker und alles, was darauf folgte. Er war für Frieden, herrje! Er riss das Kreuz vom Glockenturm, um sich an der Nase zu kratzen, sich die Fingernägel zu putzen, auf andere Gedanken zu kommen: Himmlischer Vater, es hilft nichts, rief er, ich will Lippenlecken, Enthemmung, Ausstoßung, Ableitung, Entladung, der Wonnen Zuckung, Verschmelzung, Flutung, Ermattung, die Völlerei, die Fummelei, den Hahnrei, die Spalterei, die Entschleierung, mit einem Wort, ich will die Vermählung, vereinigen, vereinen und einfügen. Manschen und panschen. In einer samtigen Möse planschen! Den sakrosankten Bund! Das Sakrum! In einem ausladenden Hintern schwimmen!

Je größer die Verzweiflung des Riesen auf dem Dach, umso stärker seine Erektion, und umso mehr drosch die Gendarmerie im Dunkeln auf die Strolche ein. Plötzlich entfuhr Gargantua ein gewaltiger Schrei, ein Brunftschrei, ein rohes und rasendes Brüllen: Er schleuderte das Eisenkreuz des Glockenturms wie einen Wurfspieß hoch in die Luft Richtung Süden. Nach ein paar Flugminuten schlug es vor dem Haus der Rosenjungfern in La Mothe-Saint-Héray ein und blieb, zack, aufrecht wie das Kruzifix einige Meter vom Fluss entfernt stecken. Jesus ließ plötzlich sein Licht über der Gegend erstrahlen! Ein Wunder! Mons Gaudii! Bei allem, was heilig ist! Diese Rosenjungfern hatte man aus der untersten Klasse geholt und unter den jungen Mädchen die intelligentesten ausgewählt, die seit ihrer Erstkommunion durch ihre Taten anerkanntermaßen bewiesen hatten, dass sie ihre Pflichten gegenüber Gott, Vaterland und Herrscher, ihren Eltern und der Menschheit erfüllten, brav und arbeitsam waren, weder Luder noch Flittchen, weder Metze noch Schnepfe, weder Rebellin noch Stricherin, weder Dirne noch Hure. So sehr, dass der Dichter über sie sagte:

 

Unter den zitternden Spitzen der weißen Hauben,

Die Wangen samtig und goldrot wie Nektarinen,

Erstrahlen in schöner Anmut die Mothaisinerinnen,

Um andren mit ihrem Glanz die Schönheit zu rauben.

 

Diese spröden Rosenjungfern wurden vom Dorf mit einer Mitgift ausgestattet und waren dazu bestimmt, von einem Hornochsen, einem bürgerlichen Grobian ohne Unkosten geehelicht zu werden. Misslich war allein, dass man jeweils nur eine nehmen konnte und nicht den ganzen Korb dieser blutjungen Rosen! Eine Einzige, und fürs ganze Leben! Ah, die schönen Betschwestern unter ihren Hauben! Sie waren also im Haus der Rosenjungfern versammelt, als das Kruzifix sich dort in den Boden rammte, päng. Eine von ihnen hieß Ludivine und war sehr fromm; als sie das Kreuz aus Eisen sah, fiel sie auf die Knie und betete, denn sie hatte erkannt: Die heilige Radegunde rief sie auf diese Weise zu sich! O Wunder! Mons Gaudii! Ihre Heiligkeit! Auf nach Poitiers, folgen wir dem Ruf! Und sie machte sich auf den Weg, zu Fuß über Pamproux und Lusignan. Mit ihrer Haube. Am nächsten Tag, ungefähr zur None, kam sie in Poitiers an.

Gargantua war noch im tiefsten Mittagsschlaf, nach wie vor auf seinem Dach, mit aufgerichteter Rute; unter ihm standen sich noch immer Demonstranten und Polizisten gegenüber. Der Riese träumte wieder; sein Gemächt krümmte sich, schien von einer Welle durchlaufen zu werden wie eine Schlange. Eine Palme im Wind sozusagen. Die stark angeschwollenen Hoden baumelten wie Glocken herab, dann pressten sie sich plötzlich gegen den Schaft, als frören sie – als klebten die Reifen einer Radachse an der Kanone oder als würden blaue Planeten von einem himmlischen Spieß angezogen. Das lebhaft und regelmäßig wogende Glied ließ einen Sturm befürchten. Die Polypen hatten sich geschützt, man hatte Taucheranzüge an sie verteilt.

Ludivine erblickte den Riesen ausgestreckt auf dem Dach liegend, den Kopf an den Glockenturm gelehnt, die Beine zwischen die Turmlaternen an der Fassade geklemmt, selig, ganz seiner Träumerei und seinem Ständer hingegeben, dann kratzte er sich unerwartet an Bauch und Schenkel und löste dabei Schieferschindeln, ohne es zu bemerken, die zwischen Kathedrale und Marktplatz auf die Schlacht der Strolche und der Soldateska zu seinen Füßen herabregneten: Fast wäre die Rosenjungfer vor Schmerz in Ohnmacht gefallen, als sie sah, wie der Kirchplatz zugerichtet war – sie floh ans Grab der heiligen Radegunde ganz in der Nähe, um sich zu sammeln. Man erzählt, die Heilige selbst habe zu ihr gesprochen: Ludivine, rette die Kathedrale! Ludivine, opfere dich! Ludivine, verschaff Gargantua Erleichterung!

Die Rosenjungfer hatte eine normale Statur, wenn sie nicht sogar ein wenig kleiner war als die meisten, was konnte sie da tun? Mit List eine Eisenkette herumschlingen? Ochsen an die Hoden binden, damit sie an den Eiern zogen? Sie war mutig und eine gute Schwimmerin: Sie fürchtete also nichts und stieg die Stufen in einem der Glockentürmchen an der Fassade hinauf, gegen das Gargantua sein linkes Bein stemmte. Der Riese war wieder eingeschlafen: Das Dach vibrierte von seinem glücklichen Grunzen; fast wäre Ludivine der Länge nach hingefallen. Ein starker Wind aus seiner Nase riss an der Haube auf ihrem Kopf. Sie klammerte sich also fest, um nicht abzustürzen – sie umschlang das Ding mit ihren Armen, mit Mühe reichten sie herum. Wie der Toppsgast an der Fock, so kletterte die Rosenjungfer den Mastbaum hinauf. Sie hielt sich an den blauen Adern fest, die sich über den Kolben zogen, umschlang den Stamm mit den Beinen; dann schob und zog sie sich wie ein Kind auf einem alten Baum den Phallus hinauf bis zur Vorhaut und setzte sich auf diesen Balkon. Die gute Ludivine: ein Muezzin auf dem Minarett! Die Haube im Wind wie ein Turban wandte sie sich an die Demonstranten: ›Friede, Freunde! Friede! Hört auf mit dem Streiten! Möge das Volk beim Präsidenten Gehör finden! Gott sei mit uns!‹«

Die Totengräber lachten von Herzen – eine Rosenjungfer, die an Gott und den Präsidenten appellierte, das war einzigartig! Am Kamin schwenkten die Männer, die zum Schmelzen des Fetts und zum Beträufeln der Hasen abgestellt waren, den rotglühenden Flamboir, aus dem geschmolzener Speck auf die aufgespießten Tiere tropfte; der Duft hätte ihnen zum Verhängnis werden können, er verleitete dazu, sich in die Flammen zu stürzen, die Zähne in den dampfenden Hasenrücken zu schlagen, sich über die Keulen herzumachen, an den Vorderläufen zu lutschen. Um der Verführung nicht zu erliegen, becherten die beiden Totengräber, die sich als Schmalzschmelzer und Spießbeträufler betätigten – und wenn der eine seine Hand bedenklich nach der Haut der Häsin ausstreckte, besprengte der andere sie mit geschmolzenem Fett: Der Verbrannte zog auf der Stelle seine Finger zurück und steckte sie in den Mund, wo ihm der Geschmack von Salz, Schwein und Rauch Linderung verschaffte. Während der Garzeit benetzte man die Braten unentwegt, darin lag das Geheimnis. Tief im Kamin verbrannten die Holzscheite; die Glut wurde mit der Schaufel nach vorne geschafft, wo sich die Drehspieße mit ihrem komplizierten, von Gewichten betriebenen Räderwerk unter den Argusaugen von je zwei Gesellen pro Feuerstelle drehten, zwei derben und finsteren Totengräbern. Auf einem Beistelltisch war vorausschauend ein Fässlein für sie abgestellt worden, denn den Flamboir zu bedienen machte Durst! Die Schmalzschmelzer betranken sich also mit dem Besten, dem begehrten Saignée Rosé, der den Trauben in einer Nacht entrissen wird, ein taufrischer Tropfen, der wie eine Alba-Rose im Sonnenlicht schimmert, ein Blütenregen in herbstlicher Morgenröte, um den sie alle beneideten, die Couilleroys, die Sèchepines, die Bittebières, die Delegationen von der Mosel oder aus den Vogesen, die ihren Gris de Toul und ihre Lothringer Käse vermissten, mit denen man zwei Scheiben Bauchspeck auf einer Scheibe Schwarzbrot überbuk – ah, und den Gros Lorrain, gut zehn Pfund gewaschene, vorsichtig gebürstete Kruste, er würde die Kehle hinuntergehen wie Mirabellenschnaps! Ah, so eine Raclette Sauvage mit Gros Lorrain über einem guten Feuerchen! O Welsche! O Pays de Saulnois! Hoffentlich kommt der Käse bald!

Nur einmal im Jahr ließen es die Totengräber so richtig krachen, beim Bankett, und da war alles erlaubt: Das übrige Jahr war für sie nur eine lange Trauerzeit, der Schweif eines Kometen, den der Tod fortgetragen hatte … Während Bertheleau sich eine kleine Pause gönnte, um seine Kehle zu schmieren, wurde die Suppe serviert – eine Rinderbouillon, in der Feldthymian und Estragon schwammen, und, weil auch die Gewürznelken irgendwo Platz finden mussten, Ochsenschwanz, Beinscheiben, Pastinaken, Sellerie und Zwiebeln. Eine Suppe, die einen aus glänzenden Augen anstarrte! Die Brühe dampfte, und den Totengräbern lief das Wasser im Mund zusammen. Manche bevorzugten (eine selten gewählte, aber zugelassene Alternative) eine Suppe aus Frühlingspilzen (mit März-Schnecklingen, Rötlingen und Käppchen-Morcheln) und ließen es sich schmecken. Der Knochenmann ist ein Verbündeter von Enzymen und Schimmelpilzen! Schlagartig ertönte ein Schnauf-, Schmatz-, Gurgel-, Glucks- und Löffelgeschepperkonzert.

Die beschwipsten Schmalzschmelzer besprengten die Hasen und beträufelten die trockenen Zäpfchen mit trefflichen Tropfen. Als Bertheleau der Duft der siedend heißen Suppe in die Nase stieg, entschied er klugerweise, sie abkühlen zu lassen, und setzte seinen Vortrag fort.

»Ludivine klammerte sich also kraftvoll und ungeniert wie ein Barbier aus Damaskus an Gargantuas Vorhaut. Auf dem Vorplatz der Kathedrale spuckten die Mannschaftswagen noch mehr Polizisten aus: Angesichts der Überzahl, des Schlagstockeinsatzes und des Tränengases wichen die Platzbesetzer zurück.

In diesem Moment erwachte Gargantua und stellte betrübt fest, dass er sich nicht mehr in seinem Traum, nicht mehr bei seiner Badebec befand, sondern auf dem Dach der Kathedrale von Poitiers. Große Schwermut befiel ihn, er bemerkte sein aufgerichtetes Glied, schloss es in seine Faust. Und als er seinen Schwanz so drückte, erzeugte er eine Kontraktionswelle, eine Kraft von unten nach oben, die der Fleischmenge in seiner Faust entsprach – der aufkommende Zephyr schleuderte Ludivine mit dem Hintern voraus in die Luft. Nach einem dreifachen Salto stürzte sie in die Tiefe und wurde wie von einem großen Mund aufgefangen: Sie wurde von der Harnröhre geschluckt. Gargantua spürte ein nicht unangenehmes Kitzeln, das die Haut über seinen Hoden straffte. Für Ludivine ging es hinab wie auf einer Rutschbahn – eingesperrt in der Spermaschleusenkammer wie Jonas im Wal. Sie kämpft. Schlägt um sich. Schwere Not: Der Pegel steigt. Sie hält sich fest und rüttelt, und Gargantua windet sich auf der Kathedrale. Hoho! Aah! Hi! He, he! Ei-jei-jei! Au-wau-wau! Ach du meine Güte! Das unsichtbare Emporsteigen der von Ludivine durchkraulten Schlottermilch! Wie das innen kitzelt! Wie es ihn schüttelt! Gargantua reißt die Augen auf, fast treten die Augäpfel aus ihren Höhlen, heiliger Bimbam! Er klemmt die Arschbacken so fest zusammen, dass seine Wangen hohl werden – er wiegt sich in den Hüften, schlenkert, schlingert, schwingert und versprengert sich rechtzeitig, er finkelt seinen Schwengel, wird puterrot, frohlockt, wölbt sich, schmackuliert sich und hat dabei nach Belieben seinen Grundel spassiert: Ah, ich platze!, dachte er, ich reiß mich hin! Die siderische Brühe in meinem Piephahn vermehrt sich! Plopp die Schmeichlerin! Die Unterhose schäumt!

Und siehe da! Ludivine ist wieder an der Luft, auf einer weißen Schaumwolke mit tranig trüben Rändern: metallisch schimmernd und luftig aerob, schleimig und klebrig, fällt sie dann donnernd herab und breitet sich aus wie ein Sumpf.

Bringen wir also zu Ende, was der Allmächtige sich ausgedacht hat: Ludivine landete in den Armen eines Polizisten, den sie später heiratet. Als diese höllische Affäre vorbei war, ging der Präsident mit reiner Weste aus dem Scharmützel hervor, nichts blieb an ihm hängen. Sobald er sich mit dem Wattestäbchen die Ohren durchgeputzt hatte, ließ er mit Unschuldsmiene verlautbaren: ›Ihr wolltet, dass ich zuhöre, jetzt höre ich euch.‹ Gargantua hatte ins Schwarze getroffen, die Platzbesetzer himmelten ihn an – er stieg an der Fassade hinab, wandte sich nach Westen, einen Rattenschwanz von Aktivisten im Schlepptau, anderen Schlachten entgegen.«

Die Totengräber waren sprachlos. Bertheleau, alter Schwede! Möge das Gelächter Gevatterin Tod verscheuchen! Freut euch des Lebens, Knochenmänner! Und da an diesem Tag alles erlaubt war, grobschlächtige Reden ebenso wie hochgestochene Vorträge, blieb Bertheleau weiterer Tadel erspart. Es war Brauch, dass die ersten und die letzten Tischreden der Liebe vorbehalten blieben – Bertheleaus Geschichte fügte diesem noblen Thema ein fantastisches Element hinzu, das gut zum zahnlosen und petersiliengrünen Gelächter (gefüllte Eier!) des Totengräbers passte.

Die neunundneunzig Gäste löffelten ihre Suppe und beobachteten unterdessen, wie die Königinpasteten aufgetragen wurden, die so luftig aussahen, dass man geschworen hätte, sie moussierten. Ah, die hätte selbst Maître Carême nicht verachtet!, dachte Sèchepine, der Feinschmecker war. Er nahm an, es handele sich um Kalbsbries, Käppchen-Morcheln, Sahne; vielleicht sogar um Frühlingstrüffel, so leicht und fruchtig, dass sie das Aroma von Flusskrebsschwänzen erst richtig zur Geltung bringen – aus der Ferne konnte Sèchepine nicht sehen, welche Fisch- oder Fleischfüllung die Blätterteigtörtchen verbargen, vielleicht sogar Fisch und Fleisch. Weißweinkrüge wurden herumgereicht: Chenin Blanc, ein guter öliger, strohgoldener Chenin, trotzdem mineralisch, der perfekte Wein mit seinem herben Anklang, wie die Erinnerung an das Leben, dachte Sèchepine, den die Schlemmerei zum Philosophen machte. Es war ein Vergnügen, die riesige Tischgesellschaft zu sehen und zu hören: Einige schlabberten noch ihre Suppe, fassten die Suppentassen mit beiden Händen und schütteten sie sich direkt in den Mund – durch ihre Nasenlöcher stießen sie den Dampf der Brühe aus wie Drachen. Andere ergötzten sich noch immer an den Terrinen oder den Eiern von der Vorspeise; einige, auch Sèchepine, warteten ungeduldig auf die nächste Ansprache.

 

REDE VON BITTEBIÈRE:

EINFÜHRUNG IN DIE ÖKOLOGIE DES SARGES

 

Der Kammerherr Bittebière ergriff das Wort; wie sein Name andeutete, stammte er aus dem Artois, aus Sainghin-en-Weppes, einem geheimnisvollen Dorf, dessen Bewohner (bestimmt zu Unrecht) Katzenfresser genannt werden.

»Totenpfleger! Zunftbrüder! Bevor die Kurzweil wieder zu ihrem Recht kommt, Liebesgeschichten erneut unsere Ohren umschmeicheln, bevor der Wein sie zuverlässiger versiegelt als Bienenwachs und wir uns den Freuden des Rauschs und dem Glück des Vergessens überlassen, sehe ich mich genötigt, uns einmal mehr an unser trauriges Gewerbe zu erinnern. Es gibt keinen Toten, der nicht durch unsere Hände geht! Wir tragen die Menschheit auf unseren Schultern!«

Geschmeichelt von dieser Anrede, wandten sich die Totenpfleger dem Redner zu; Sèchepine dagegen fragte sich, welch peinliche Neuerung Bittebière wohl ankurbeln wollte: Er misstraute ihm, denn er wusste, dass Bittebières fortschrittliche Einstellung jedes vernünftige Maß überstieg.

»Kollegen! Es ist Zeit für den Wandel. Überall auf der Welt brennen die Wälder, verschwinden die Tiere, der Planet erwärmt sich, die Böden sind vergiftet, dunkle Rauchschwaden steigen zum Himmel auf – es ist nicht mehr lange hin bis zur Ausrottung allen Lebens! Bald wird es nicht einmal mehr Totengräber geben, um Tote in die Erde zu betten … Adieu, gaudeamus, am Ende wird uns die Erde haben!«

(Ein zorniges Murmeln voller Grauen ging durch das Bankett. Wie bitte, alle sollten krepieren? Wer würde die Totengräber begraben? Wer den Bestatter bestatten? Sollte sein Leib, als Letzter seiner Art den Raben überlassen, die Erde besudeln?)

»Was, Freunde, Brüder, können wir in der Zwischenzeit tun? Wie können wir in Ausübung unseres traurigen Gewerbes dem Planeten helfen? Wie unbeschadet, wie integer bleiben? Zuallererst, indem wir aufhören, Formalinprodukte zu verwenden. Wie bitte? Höre ich Einwände, Aufschreie, Fäuste auf dem Tisch? Aber gewiss doch, meine lieben Brüder! Die Injektionen post mortem! All das verschmutzt die Umwelt! Das miese Formaldehyd, dieses verbotene Gift! Alles versickert … Alles rinnt weg … Wozu denn mumifizieren? Wozu diese chemische Pflege? Bizarre Injektionen aus einer anderen Zeit! Eine schreckliche Wegzehrung! Die Blutentleerung und das Ersetzen des Bluts durch Formalin, fünf Liter Gift, die im Boden landen! Es ist Zeit für Trockeneis, schnell und sauber unter die Erde gebracht, Zeit für edle unbehandelte Hölzer, für Eiche, Fichte! Formalin hat Leukämie im Schlepptau!«

Die Totengräber sahen einander an. Außer einigem Gluckern, ein paar Korken und Kaugeräuschen war es still: Es herrschte Sprachlosigkeit. Man wartete auf den Sturm, der losbrechen würde. Auf die Thanatopraktiker, die sich das nicht gefallen lassen würden. Da ergriff der Gastgeber, Martial Pouvreau, das Wort:

»Ist das dein Ernst, Bittebière? Du machst mich krank! Waschlappen, Schlappschwanz! Du bräuchtest dringend etwas Formalin! Eine ganze Schüssel voll, und aus Steingut! Das würde dir ein wenig Glanz verschaffen! Weißt du, welchen Verlust das für uns bedeutet? Weißt du, dass Formalin unser Obolus ist? Unser täglich Brot, mit dem wir Geld verdienen? Wenn wir nur noch vier Tannenholzplanken berechnen, ist es aus mit uns! Adieu, Kälber, Kühe, Schweine! Adieu, dralle Brüste, adieu, kleine Zitzen!«

»Martial Pouvreau ist dieses Jahr unser Gastgeber«, mischte sich Sèchepine ein, um noch einmal Bittebières Gegenredner für alle vorzustellen, die nach dem Antrag auf Zulassung von Frauen zur Eröffnung des Banketts gern schnell vergessen hätten, wer er war.

»Keineswegs, Pouvreau, du irrst dich gewaltig! Du tappst im Dunkeln!«, nahm Bittebière den Einwurf auf, »Eigentlich weißt du doch, dass Europa den Einsatz von Formalin verboten hat. Aus Achtung vor den Böden? Weil wir uns an einem Scheidepunkt befinden? Dem Präludium zum Fegefeuer?«

»Aber das ist es doch gerade, Himmel, Arsch und Zwirn, jetzt heißt es fakturieren, frakturieren, injizieren! Morgen ist es zu spät! Dann wird kein Manna mehr da sein! Ich sage euch heute in aller Form: Nehmt Formalin! Ohne Anstoß zu nehmen!«

»Mein Gott, Pouvreau, was soll man dazu sagen? Hast du nicht gehört, dass diese Produkte Gifte sind? Du willst Knete, Piepen, Kies – na gut, Pouvreau, erfinden wir zertifizierte BIO®-Bestattungen! Da liegen die Kröten! Unsere Bruderschaft braucht ein Label! Sie muss mit der Zeit gehen! Sauber und umweltverträglich sein für unseren Planeten.«

»Für unseren Planeten, Bittebière, für den Planeten? Dass ich nicht lache! Lass dir doch gleich einen Pferdeschwanz wachsen!! Schlüpf in eine Latzhose!! Sprich Schwedisch! Uns den Finger zu zeigen! Die Hysterie der Ökos wird hier nicht verfangen!«

Ein Totengräber aus dem Süden hob die Hand; Pouvreaus Einwürfe hatten Bittebière die Sprache verschlagen – er überließ das Wort gern einem anderen. Der Mann hieß Vendebout. Vendebout stammte aus dem Béarn; in seiner Stimme rasselten alle Flusskiesel der Gave de Pau. Fast hörte man die Forellen springen.

»Kammerherr Bittebière, Bruder Pouvreau, ich stehe hier, um Sie beide gleichermaßen zu kritisieren: Formaldehyde sind bereits verboten, im Krematorium wie bei der Erdbestattung. Das ist eine Tatsache – Konservierungsmaßnahmen können wir vergessen. Hussa! Zumindest wird es keine Rückkehr zu Benzoe, zum Einbalsamieren, zum Bandagieren und zur ägyptischen Grablege geben. Aber, mein Gott, der Kühltisch hält den Leichnam so lange kalt wie notwendig! Niemand muss lüften, die Fenster und die Därme öffnen, niemand ist gezwungen, den Bauchspeck im Mülleimer des Nachbarn zu entsorgen … Beim lebendigen Gott, ich habe Burschen gesehen, die haben den Xingar von Menschen Hunden vorgeworfen! Andere machen Wurst daraus!

Aber aufgepasst: BIO ist etwas anderes, BIO® ist der grüne Friedhof, da ist nichts mehr mit Marmor und teuren Särgen! Nur noch kleine Holzplaketten. Und was gibt es daran zu verdienen? Krümel! Krümel!«

»Stimmt, Vendebout«, nahm Bittebière den Faden auf, »ein naturbelassener Friedhof, das ist ultrahart für den Bestatter, Gewinnspannen sind illusorisch. Adieu, Marmorplatten, Vergoldungen, Stelen, Kenotaphe, Flachreliefs, Grabkammern … Adieu, Engelchen, vergoldete Sarggriffe, purpurfarbene Sargfutter aus geflammtem Musselin. Es heißt Abschied nehmen von der Behaglichkeit im Tod! Es lebe die Kargheit in Ewigkeit! Adieu, Trinkgeld für den Floristen, Adieu. Aber beim Erdaushub kann man kräftig zuschlagen!!! Sich Bepflanzung, Begrünung, Grabpflege im Frühjahr teuer bezahlen lassen, kurz und gut: Gärtner werden!«

»Schluss mit gekiesten Alleen und kein Glyphosat mehr gegen das Unkraut?«, flüsterte kaum hörbar ein Friedhofswärter, der wusste, wovon er sprach. »Als liefen unsere Pensionsgäste Gefahr, sich Krebs zu holen.«

»Viel Spaß beim Betrachten der Radieschen von unten, aber bitte nur solche mit Biosiegel!«, höhnte Pouvreau.

»Du kannst spotten, so viel zu willst, Pouvreau, aber das ist die Zukunft«, erwiderte Bittebière, während er seine trockene Kehle befeuchtete und damit bewies, dass man mit etwas Erfahrung zugleich sprechen und trinken kann.

»Die Gegenwart hat die Zukunft längst eingeholt«, schwadronierte ein Sargträger aus dem Deux-Sèvres. »Bei uns gibt es den ersten Bio-Friedhof, den Naturfriedhof von Souché in Niort. Dort ist es so grün, dass es in den Augen schmerzt. Holzschwellen trennen die Gräber. Null Grabsteine, nur eine Scherbe weißen Kalksandsteins mit einem Namen. Und Gras, Blumen, Büsche überall. Und wie das wächst! Mit den unlackierten, biologisch abbaubaren Särgen und allem, was darin verrottet, ist Moos die größte Herausforderung!«

»Permakultur auf Verstorbenen! Das ist die Zukunft! Pssst, es wächst!«

Dieser spannende Meinungsaustausch bekam Beifall von allen Seiten; Martial Pouvreau spürte, dass die ökologische Fraktion die Schlacht gewinnen würde – um sich zu rächen, brummte er seinem Nebenmann unflätige Worte ins Ohr. Er griff nach dem Krug mit dem Gamay aus der Touraine, der vor ihm stand, und füllte sein Rotweinglas randvoll; dann schob er seinen Schnauzbart über den Rand des Glases, lauernd wie ein Tiger, der geduckt, den Bauch auf den Boden gedrückt, umsichtig und geduldig im Bambushain an eine Wasserstelle heranschleicht, schnüffelte kurz an dem Nektar, bevor er die Oberlippe eintauchte und voller Genuss den ersten Zentimeter des Rebensafts lautstark schlürfte – jetzt, da keine Gefahr mehr bestand, das Glas umzustoßen, fasste er das Rotweinglas am Fuß (am Fuß, Unglückseliger! Sonst wärmst du es auf! Wein ist doch kein Cognac, schlag Schlottermilch aus den Eiern heraus!, rief er jedes Mal, wenn er jemanden beim Verstoß gegen diese Goldene Regel ertappte, und er hätte diese Weisheit sogar im Élysée- oder im Buckingham-Palast quer über den Tisch gebrüllt, wenn die englische Königin oder der Präsident zufällig auf den Gedanken gekommen wären, Wein aus einem Ballonglas zu trinken), dann kippte er den Inhalt mit einer zweifachen Aufwärtsbewegung von Stirn und Hand in den weit aufgesperrten Mund, brachte danach Kopf und Schultern wieder in gerade Stellung, schluckte mit einem endlosen »Ha« satter Erleichterung und starrte voller Appetit auf die gratinierten Austern à la Dumas, die auf Platten um den Tisch wanderten – Vorsicht, heiß, warnte der Kellner, der mit Handschuhen die feuerfesten weißen Schälchen mit den gratinierten Austern an jeden austeilte, der wollte. Als Gastgeber hatte Pouvreau die Schlemmerei organisiert; er wusste, dass noch drei oder vier Vorspeisen und Suppen auf dem Speiseplan standen, bevor das erste Fleisch serviert wurde. Er hatte große Lust, eine mit Parmesan gratinierte Auster in Champagner zu kosten, doch dazu musste man den Mund ausspülen; er schnappte sich daher ein Wasserglas, füllte es nach der zuvor für den Rotwein beschriebenen Methode mit Chenin Blanc aus Oiron und leerte es auf dieselbe Art mit dem kleinen Unterschied, dass er beim Schlucken mehrfach vernehmlich gurgelte, um seinem Gaumensegel jede Erinnerung an das Tannin zu nehmen. Er winkte den Lehrling zu sich, der die Schalentiere trug; das gebackene Fleisch hatte eine hübsche Perlmuttfarbe angenommen; die Muscheln kamen aus der Bucht von Aiguillon, in der Nähe der Abtei von Maillezais, wo sie zu Tausenden wild an nicht mehr bewirtschafteten Pfählen und auf vergessenen Austerntischen wuchsen.

Die neunundneunzig Gäste erfüllten das Refektorium mit dem Mahlen ihrer Kiefer, und abseits der führenden Köpfe in der Bruderschaft, Kammerherrn, Meister und Großmeister, kamen mehr oder weniger private Gespräche in Gang – ha! Letztere bekamen sich bei Anträgen und Neuerungen, die sie für tadelnswert erachteten, zwar schnell in die Haare, doch dieses Jahr gab es zum Glück keine Wahlen und Amtseinführungen, das Bankett fand zwischen den Wahljahren statt, es war ein normales Festmahl und nicht eine jener Schlammschlachten, bei denen man sich zu guter Letzt – jeder ein Zeus und Blitzeschleuderer – mit Éclairs au Café bombardierte und mit Windbeuteln um sich warf.

Sicher genoss Bittebière seinen ökologischen Sieg, vor allem aber die Langustinen, deren Fleisch er nach dem Herauslösen aus der Schale in eine perfekt mit Zitrone abgeschmeckte Mayonnaise tunkte, die mit einem Schuss Olivenöl versetzt war, gerade so viel, wie es brauchte, um ihr den grünlichen Schimmer des Watts bei Ebbe zu verleihen. Mochte man diesen Martial Pouvreau auch für etwas rüpelhaft, seine Vorstellungen für etwas konservativ halten, er war und blieb ein erstklassiger Gastgeber. Bittebière erinnerte sich an ein in jeder Hinsicht verheerendes Bankett einige Jahre zuvor in einem Grandhotel in Vichy, wo sie vor Kälte und Hunger fast gestorben wären, der Hauswein nahezu ungenießbar und der geforderte Unkostenbeitrag maßlos übertrieben waren, weil sich der Gastgeber vermutlich auf Kosten seiner Kollegen wie sonst auf Kosten der Toten hatte bereichern wollen, kurz, daran dachte Bittebière, als er sich vor Augen führte, was er bereits verspeist hatte:

ein kleines Brot mit Rillettes au Vouvray,

ein Scheibchen Entenpastete,

ein kleines Fässchen eingelegte Gurken als Beilage zu den oben genannten,

ein gefülltes Ei, also zwei Hälften,

zwei kleine Windbeutel mit Ziegenkäse, kaum größer als belgische Kirschbonbons,

sechs Froschschenkel, also drei Frösche,

sechs oder acht große Weinbergschnecken, »Cagouilles à la Charentaise« oder »Lumas«,

einen Happen Königinpastete mit Kalbsbries,

eine Schale Kraftbrühe mit Gänseleber-Croutons,

ein pochiertes Ei in Rotweinsauce mit einem Stück Brot im Speckmantel,

eine kleine knusprige Krebspastete,

sechs (er war sich der Zahl nicht mehr sicher) gratinierte Austern,

acht, pardon, mit dem letzten neun Langustenschwänze in Mayonnaise,

drei kleine Blanc-Cassis mit prickelndem Saumur,

einen Krug tiefroten Chinon,

dieselbe Menge goldgelben Chenin d’Oiron,

und deshalb freute er sich, dass man noch bei den Präliminarien war: Auch wenn er seine Hand dafür ins Feuer legen würde, dass dieser Pouvreau es verstand, einen kleinen Vorteil daraus zu ziehen, versprach dieses Bankett in die Spitzenklasse aufzusteigen und sich einen Platz unter den berüchtigtsten der letzten Jahre zu erobern, also neben dem, das Sèchepine in einem Chalet in den Vogesen organisiert hatte, es war köstlich, lang und zukunftsweisend, aber doch etwas zu fett gewesen, und dem von Bittebière, dessen liebstes Gericht die Carbonade war, ein flämischer Eintopf mit Artois-Bier, den seine Frau kochte; just in diesem Augenblick sah er, wie der Kellner eine urige Platte panierter Meeresspinnenzangen in einer Kräutersauce von höchster Qualität hereintrug – diese Wendung ins Maritime, dieses Eintauchen in die Gezeiten (erst die Austern, dann die Langustenschwänze, gefolgt von Krebsen) ließ darauf schließen, dass bald der Fisch auf den Tisch kommen würde, und er wartete ungeduldig (von Hunger konnte inzwischen nicht mehr die Rede sein, dieses Gefühl hatte er bereits nach drei oder vier Vorspeisen vergessen), was dieses Bankett noch für Überraschungen aufbieten würde.

Da ihm plötzlich auffiel, dass niemand eine Tischrede hielt, schaute er von den Krebszangen auf und linste nach einem Totengräber, der das Wort ergreifen wollte. Der fand sich, ding-dong, mühelos in einem jungen Sargträger aus der Region, der nun in den Ring stieg.

 

ERSTE NACHT:

DIE DAME MELUSINE UND DAS HAUS LUSIGNAN

 

Der junge Mann kam aus der Vendée und hieß Poiraudeau. Seine Stimme war sanft, die Vortragsweise klar und deutlich, der Klang angenehm. Nachdem er, wie es Brauch war, Bertheleau und ebenso Kammerherr Bittebière und Großmeister Sèchepine gegrüßt und ihnen gedankt hatte, hob er damit an, sein Bedauern auszudrücken, dass Bertheleau nicht Zeit gehabt habe, näher auf die Vorgeschichte einzugehen: Gargantua, von dem keiner, der richtig im Bilde ist, annehme, er sei von François Rabelais erfunden worden, sei in Wirklichkeit nämlich aus dem Leben gegriffen. François Rabelais habe sicher an diesem Tisch gespeist, diese Brühe getrunken, seine Schwermut zum Teufel gewünscht, die Gläser gespült, das Tischtuch aufgelegt, die Hunde fortgejagt, das Feuer angefacht, die Kerze angezündet, die Tür geschlossen, das Suppenbrot geschnitten und die Gevatterinnen hofiert, und natürlich habe dieser François Rabelais mit dem Kopf in den Büchern gesteckt, sein Magen aber sei in diesem Refektorium zu Hause gewesen: »Nun, meine Herren, François Rabelais hat Gargantua keineswegs erfunden, alles andere als das, denn Gargantua war ein wahrhaftiger Riese, der lange vor besagtem Meister Rabelais gelebt hat, aὐτὸς ἔφα« – diese Enthüllung hatte (da die meisten Totengräber noch nie von Rabelais gehört hatten, wenn auch, na klar, hier und da etwas über Gargantua) allerdings eine eher bescheidene Wirkung auf die Gäste, die es vorzogen, weiterzuschlemmen, anstatt Poiraudeaus Rede über François Rabelais zu lauschen, die zwar mit ihrem Griechisch und Latein von der medizinischen und vor allem religiösen Bildung des Redners zeugte, aber so leise und geschmeidig vorgetragen wurde, dass sie sich wie ein Wiegenlied anhörte und man deshalb bei dieser angenehmen Melodie Gefahr lief, sich so sehr zu langweilen, dass man ipso facto mit der Nase in der Mayonnaise oder in der Kraftbrühe landete. Poiraudeau fuhr also fort mit seiner höchst informativen Litanei über die Philosophie der Renaissance, Rabelais und seinen Freund Guillaume Budé, bis (den Sargträgern sitzt der Schelm im Nacken, wie man weiß) ein Schauer irdischer Nahrungsmittel über den armen jungen Mann niederging, zuerst sehr zaghaft, hier ein Brotkügelchen, da ein Gürklein (Poiraudeau wischte sich artig die Schultern ab, als wäre nichts gewesen), dann prasselten sie auf ihn herab wie ein kräftiger Regenguss: Mit dem Suppenlöffel vom gegenüberliegenden Tisch katapultierte Schneckenhäuser bespritzten die Glatze des Redners mit Butter; Langustenschwänze klammerten sich wie durch Zauberhand an den Kragen seines Sakkos, und schimmernde Froschknochen garnierten seinen Bart, kurz, er glich schnell einem Tableau vivant jenes Malers, der so beliebt ist, weil er Appetit macht – wie heißt er doch gleich?, ach ja, Arcimboldo –, denn er war bedeckt mit allem, was man werfen konnte, sogar mit einem halben Ei: die traditionelle Bestrafung für langweilige Redner. Traditionell und zugegebenermaßen ungerecht, denn Poiraudeaus Rede hatte nichts Nervtötendes, sie war nur, wie soll ich sagen, ein Rohrkrepierer, genau, Ἓν οἶδα ὅτι οὐδὲν οἶδα, bis der Redner, überhäuft von einem Schwall Essensresten aus allen Ecken des Saals und niedergedrückt von der Schmähung, begriff, dass er das Ruder herumreißen musste. Um Haltung zu wahren, klopfte er sich ein wenig ab, während er nachdachte, und brachte dann diesen Leitgedanken ein:

»Ἡ γλῶττα πολλῶν ἐστιν αἰτία κακῶν. Wisst ihr, Kollegen«, fügte er hinzu, »dass es Feen wirklich gibt?«

Die Totengräber merkten auf.

»Wisst ihr, dass in unserem Landstrich ein Geschöpf waltet, das noch mächtiger ist als Gargantua? Eine Fee von umwerfender Schönheit?«

Die Totengräber hörten auf, Rabatz zu machen.

»Wisst ihr, dass diese Fee Schlösser, Kirchen und Abteien erbaut hat? Dass sie die Stammmutter einer großen Familie ist, die mehrere Jahrhunderte lang über die Insel Zypern herrschte? Einer Familie aus dem Poitou, Vasallen von Richard Löwenherz, die Lusignan? Diese Fee heißt Melusine. Das Zauberwesen kommt aus Kaledonien, aus der Grafschaft Albany, also aus Schottland.«

Zypern, Schottland … Die bloße Erwähnung dieser fernen Landstriche hätte den Totengräbern den Mund wässrig gemacht, wäre ihnen nicht bereits aus anderen Gründen das Wasser im Mund zusammengelaufen. Ihre Augen glänzten, sie warteten auf eine Geschichte.

»Nicht weit von hier«, fuhr Poiraudeau fort, nachdem man aufgehört hatte, ungebührlich mit Speiseresten nach ihm zu werfen, »nicht weit von hier steht ein geheimnisvolles Schloss aus jenen dunklen und fernen Zeiten, als Troubadoure, Minnesänger, Jongleure und Bärenvorführer von Hof zu Hof zogen, aus jener Zeit, als nur Christus, Trommeln und Kerzen die Nacht erhellten, als man Kriege unter Nachbarn führte, ihre Ernten verwüstete und alle tötete, die nicht genügend Zeit gehabt hatten, sich zu verstecken. Eines Tages schenkte König Richard, Heinrichs Sohn, den wir ›Löwenherz‹ nennen, Herzog von Aquitanien, Graf von Poitou und König von England, denn damals regierten die Plantagenets über das grüne Albion und Cornwall bis an die Grenze zu Kaledonien, eines Tages also schenkte König Richard, nachdem er im Heiligen Land das Königreich Jerusalem regiert hatte und gegen Saladin ins Feld gezogen war, seinen Vasallen, der Familie Lusignan, die Insel Zypern. Guido von Lusignan wurde König von Zypern, sein Bruder Gottfried (genannt Gottfried mit dem großen Zahn, denn er hatte einen Rüssel wie ein Wildschwein und sah sehr furchterregend aus) wurde Graf von Jaffa und Ascalon zur großen Freude der Fee Melusine, die nach ihrer Heirat mit Raymond von Poitou, dem Sohn des Grafen von Forez, in noch weiter zurückliegender Zeit diese Linie beschützte, als wären alle diese Ritter ihre eigenen Kinder. Melusine ist eine Fee von seltener Schönheit – eine Baumeisterin und mächtige Fee. Doch ach, das Schicksal wollte, dass ihre Gatte Raymond sie verriet, trotz des Pakts, der sie vereinte: Sie hatte ihm verboten, sie samstags zu sehen, wenn sie badete, und Raymond hatte sich viele Jahre daran gehalten, bis ihn sein Bruder hinterging, der Misstrauen und Eifersucht in sein Herz pflanzte. Melusine versteckt sich samstags, um dich zu betrügen, sagte er zu Raymond; sie nimmt stets einen fremden Ritter mit ins Bad und gibt sich jede Woche, ohne dein Wissen, aber mit deiner Erlaubnis, allen möglichen Ausschweifungen hin. Ἦθος, ἀνθρώπῳ δαίμων.«

Zum Zeichen ihrer Zustimmung schnalzten die Totengräber unisono mit der Zunge, was bedeutete, dass keiner mehr etwas im Mund und Poiraudeaus Erzählung folglich ihr Interesse geweckt hatte – die meisten nutzten dennoch die kurze Unterbrechung, um sich die Kehle durchzuspülen, und die Gefräßigsten sogar, um mit einem Stück Käsewindbeutel den Rest an Weißwein, Bratensaft und geschmolzenem Käse der gratinierten Austern aufzusaugen. Ein wenig ratlos, weil seit den panierten Krebszangen kein neuer Gang aufgetragen worden war, stürzten sie sich mit Bedauern auf die Reste der vorausgegangenen Vorspeisen, was natürlich (mit Fug und Recht) die Taktik der Organisatoren war, um sicherzustellen, dass alle Gefäße sauber und glänzend wie Kiesel bei Ebbe in die Küche zurückkehrten.

Poiraudeau war ein wenig durstig und leerte einen Kelch Rotwein, denn er hielt nichts vom Weißen, dem es, wie er fand, an Männlichkeit fehle. Wein, der seiner fleischlichsten Aspekte entbehre, der keine Moschusnote, keine Eier habe, sei eine Art Eunuch, behauptete er, lebensfremd, glatt, durchsichtig. Er berge kein Mysterium, da man durch ihn hindurchsehen könne. Der stolze Mann aus der Vendée genehmigte sich daher einen Becher Mareuil, nach dem er aus Patriotismus extra verlangt hatte; er hatte ein glattes Kinn und musste sich daher nicht den Bart abwischen. Obwohl er noch jung war und nicht auf viele Berufsjahre zurückblicken konnte, war Poiraudeau einer der angesehensten Friedhofswärter der Kongregation – die Hirten der Reglosen, die Hüter der Leblosen lieben Sterne und Märchen, Feen und Irrlichter; Poiraudeau wusste das alles, und er kannte zahlreiche seltsame Erscheinungen, die nur auf den letzten Ruhestätten auftreten, das Fiepen der gemarterten Seelen, das nächtliche Zischen, das unterirdische Knarren, die flackernden Irrlichter, alle diese Eigentümlichkeiten, die aus dem Totenacker drangen.

»Raymond brach also den Pakt mit Melusine, und um der Sache auf den Grund zu gehen, versuchte er eines Samstags, sie beim Bad zu beobachten. Doch was er entdeckte, entsetzte ihn. Melusine saß zwar allein im Badezuber; sie kämmte ihr goldenes Haar, das immer so schön war; ihre Brüste waren wie Milch, und die kleinen braunen Scheiben, auf denen jeweils eine rote Frucht saß, konnten nichts anderes als das Begehren wecken – doch ihr Becken und ihre Beine, gütiger Gott, waren ein übergroßer Schlangenschwanz, der Unterleib, schwarz und glänzend, der eines Ungeheuers oder eines Salamanders! Angst ergriff Raymond, sie fuhr ihm so sehr in die Glieder, dass er laut aufschrie, Ὕπαγε, σατανᾶ!, und sein Schrei alarmierte Melusine, sie wusste nun, dass jemand sie gesehen hatte und hinter ihr Geheimnis gekommen war, und sogleich flog sie in Gestalt eines Drachen davon, den Kopf nicht mehr umkränzt von ihrem gekämmten Goldhaar, sondern von Himmelsfeuer, und Raymond, der sich inzwischen wieder gefasst hatte, begriff, dass er die Frau, die sein ganzes Glück gewesen war, niemals wiedersehen würde, und er begann, bittere Tränen zu weinen, sosehr er auch Ritter war.«

Im selben Augenblick, als Poiraudeau seine Beschreibung des Schlangenkörpers von Melusine beendete, erschienen wie durch ein Wunder, als wäre es mit den Organisatoren abgesprochen, auf schmalen, endlos langen Servierplatten aus unberührter Fayence, von denen sich die rosenfingrige Sauce kaum abhob, lange silberfarbene Schlangen, die so fein tranchiert und wieder zusammengesetzt worden waren, dass man sie für ganz halten konnte, und so gut mit Butter ummantelt, dass sie schimmerten, als würden sie sich, kaum der Hölle entstiegen, augenblicklich und noch dampfend davonschlängeln: Aale! Diese fast einen Meter langen Ungeheuer versteckten ihre Zähne hinter ihren langen und schmalen Reptiliengesichtern – die Totengräber erschauderten, vor allem jene aus dem Osten und aus den Bergen, denen dieser edle Fisch zur Gänze unbekannt war. Poiraudeau musste eine Pause einlegen: Auf den Servierplatten lag Melusine. Der Vorstand hatte sich selbst übertroffen – ein Wunder! Die Aale waren entgrätet, mit Kräutern, vor allem Kerbel und Estragon, und Krebsfleisch gefüllt, und vollständig durchgegart, angerichtet mit einer zartrosa eingefärbten Sauce hollandaise aus Pamplie-Butter und valencianischer Zitrone, um das Auge zu erfreuen. Das Fleisch der Aale war herrlich fest und herrlich fett, es forderte den Wein wie ein Neugeborenes die Mutterbrust mit lauten Schreien, und selbst die erdschwersten Grabschaufler, wie Sèchepine aus den Vogesen, waren fassungslos, anfangs vor Schreck, dann vor Freude.

Martial Pouvreau, der Gastgeber des Banketts, freute sich: Ausnahmsweise hatte er gut daran getan, nicht selbst hinter allem her zu sein und dem Küchenchef, dessen Gasthof im Marais Poitevin er gut kannte, freie Hand zu lassen. Was für ein Festschmaus!

Poiraudeau brauchte nicht um Ruhe zu bitten, um seine Geschichte weiterzuerzählen: Man hörte nichts mehr außer mahlenden Kiefern und genüsslichem Stöhnen.

»Μοι ἔννεπε, Μοῦσα: Raymond weinte also, weil er Melusine verraten und diese sich in einen geflügelten Drachen verwandelt hatte, der auf Nimmerwiedersehen in den Himmel geflogen war. Erst Jahre später, als Raymond, Herr von Lusignan, seine Seele aushauchte, sollte er sie wiedersehen. In jener Nacht schien es, als flöge Melusine über dem höchsten Turm des Schlosses, und einen Augenblick lang regnete es Tropfen schwer wie Tränen.

Laut Meister Rabelais höchstselbst zählt man Gottfried mit dem großen Zahn, Melusines Sohn, zu den Vorfahren Pantagruels. Gottfried mit dem großen Zahn, wegen seines übergroßen Reißzahns, der dem Vergleich mit den Hauern einer Wildsau standhielt, war grausam, gewalttätig und böse, er kämpfte mit seiner Landesdefension erbittert gegen die Abtei von Maillezais, in der wir uns befinden, bis ihm seine Mutter, die Fee, eines Tages so den Marsch blies, dass er sich von Grund auf änderte und im Gegenteil zum Beschützer der Mönche dieses edlen Ortes wurde. Um Abbitte zu leisten, beschloss die Fee eines Nachts, in der Priorei von Maillezais eine herrliche Kirche zu errichten – die Kathedrale Saint-Pierre. Es waren gerade die Nordwand und die Hälfte des Querschiffs errichtet, als ein Mönch namens Jean sie bei der Arbeit überraschte, der meinte, eine Fledermaus flattere durch die Neumondnacht, deshalb vollendete sie das Bauwerk nicht: Sie ließ es so zurück, wie ihr es beim Betreten gesehen habt. Melusine ließ auch die Kirche Notre-Dame-la-Grande in Niort erbauen und half Richard Löwenherz, den sie von allen am meisten liebte, beim Bau des berühmten Schlosses mit dem Zwillings-Donjon in derselben Stadt am Ufer der Sèvre, wo Richard gerne weilte und sich mit Jongleuren und Troubadouren umgab, denn dort trafen Akrobaten aus dem Norden auf Dichter aus dem Süden, und man sang nicht nur Richards eigene Gedichte, sondern auch die Liebesgedichte Jaufré Rudels und Kreuzfahrerlieder. Man erzählt sich sogar, die Fee Melusine habe an gewissen, besonders milden Abenden, wenn der Windhauch den Duft des Engelwurz am Wasser bis ins Schloss trug, bei Anbruch der Nacht regelmäßig ihren Wald verlassen, sei mit einem Flügelschlag das Tal der Sèvre herabgekommen und habe, hinter einem Weinspalier oder dem Schatten eines Wasserspeiers versteckt, auf einem Fensterbrett gesessen und den Liebesliedern, der Klage der Drehleier, dem Seufzen der Rebec gelauscht, in Erinnerungen an Raymond geschwelgt und geweint; wenn ihre goldenen Tränen in den Fluss tropften, verwandelten sie sich in goldgelbe Sumpfdotterblumen, die man seitdem Melusines Tränen nennt.«

Poiraudeau beglückwünschte sich zu dieser wunderbaren Erwähnung der Fee, die sich von den Liedern der Troubadoure zu Tränen rühren ließ, und nahm einen ordentlichen Schluck Mareuil, Γίγνωσκε καιρόν, wie Pittakos von Mytilene sagte. Er trank ein wenig zu schnell, denn der Wein lief ihm aus dem Mund übers Kinn, dann stürzte er sich voller Entzücken auf seine Aalstücke, womit er zu verstehen gab, dass er seine Rede beendet hatte – die Zuhörerschaft war aufgepeitscht, ergriffen und etwas ratlos: Die Totengräber erwarteten mehr. Mythologische Vorträge waren gewiss spannend, aber es fehlte das gewisse Etwas.

Schatzmeister Grosmollard kam aus Lyon; er leitete eine große Gruppe von Bestattungsunternehmen und trug seit Jahren bescheiden und fromm die Tracht der Bruderschaft. »Jeder schnabuliert auf seine Art«, war seine Devise; mehr als alles liebte er gratinierte Artischocken mit Rindermark, den Chiroubles, einen Beaujolais Grand Cru, und die Rue Mercière in Lyon. Er sah, wie sich um ihn herum die Totengräber ebenso betranken wie die Schmalzschmelzer und Spießbeträufler, die unermüdlich das Wild weiterdrehten und begossen, obwohl sie völlig verschwitzt und rot angelaufen waren, weil sie direkt neben der Glut standen, die sie hingebungsvoll mit knotigen Rebknorzen fütterten. Die Hasen würden bald gar sein, ihre Kruste bekam trotz des Specks Risse; Grosmollard war natürlich froh, dass man bei den Fischen angelangt war, denn das bedeutete, dass bald die Fleischgerichte kämen! Mons Gaudii! Auf das Wildbret! Der Schatzmeister kannte die Speisenfolge genau, denn nach einer unabänderlichen, seit den Anfängen der Bruderschaft im Heiligen Land belegten Tradition war er es, der als Schatzmeister dem Gastgeber den Anteil an der Zeche vorgestreckt hatte, den ein jeder bezahlen musste und den man ihm »pro Bart«, wie man im Totengräber-Jargon sagte, zurückerstatten würde. Er hatte also die Speisekarte gelesen. Wie der Brauch es wollte, saß Grosmollard links von Bittebière. Es war ein guter Platz, es fehlte ihm dort an nichts; die Mundschenke gaben ihm so regelmäßig zu trinken wie einem Säugling am Strand, er schluckte unzählige Gläschen von jenem Roten aus Saint-Aquilin, der einen mit seinen Klauen packte wie der Adler das Lamm, wenn alle Weine nach mehr verlangen, denn der Durst ist ebenso unauslöschlich wie das Leben, und Grossmollard wusste, wovon er sprach, schließlich war er doch seit nahezu vierzig Jahren im Bestattungsgewerbe. Er hatte der Erzählung Poiraudeaus nur mit halbem Ohr zugehört, während er seine Aale verschlang, und wie jedes Jahr beim Bankett bedauerte er, dass kein wahrer Denker das Wort ergriff, um über Gevatterin Tod zu sprechen, sondern nur Betrunkene, die sich über die Liebe oder alles und nichts ausließen. Aber er wusste, dass das Bankett auf seinen Schluss zusteuern musste wie die Nacht auf ihr Ende und das neue Morgengrauen – die Große Verschnaufpause, die Gevatterin Tod gewährte, währte nur kurz.

Grosmollard hielt sich für einen typischen Lyoner und Philosophen.

Er war diese Vergnügungen so sehr gewohnt, dass er sogar seines eigenen Leids überdrüssig wurde: So war eben das Bankett, manchmal klug, manchmal schelmisch, dachte er, als ihm erneut nachgeschenkt wurde und er den Kelch einmal mehr an den Mund führte und seufzte. Dabei gingen Grosmollard diese Verse von Boethius durch den Kopf:

 

Niemals suche mit gieriger Hand,

Ob im Frühling die Rebe schon

Ihre Trauben zu reifen liebt;

Seinem Herbste erst spendet gern

Bacchus labende Gaben aus.

Alle Zeiten zu eignem Amt

Ordnet Gott und bestimmt den Lauf.

Nie lässt er, wo er selber band,

Jemals den Tausch der Rollen zu.

Wer den Weg in den Abgrund wählt,

Wer die sichere Ordnung lässt,

Früh wird nimmer sein Ausgang sein.

 

Schöne Verse, wenn dem so ist, dachte er und betrachtete ein wenig von oben herab (Alle Zeiten zu eignem Amt, ordnet Gott und bestimmt den Lauf) die Kellner, die mit den Fischplatten herumsausten. Unauffällig stieß er seinen Nachbarn mit dem Ellbogen an und machte ihn darauf aufmerksam, dass niemand das Wort ergriff, was einem bei den klassischen Gastmahlen, denen der Alten, nie begegnete. Selbst wenn man ihnen Aale vorsetzte, quasselten die Philosophen. Grosmollard war weniger anmaßend, kühl und hochnäsig als vielmehr Stoiker. Sein Beruf erinnerte ihn täglich daran, dass es einzig darauf ankam, gut zu sterben. Mit Würde, vor allem mit Würde. Mit Mut. Er war Zeuge von vielen Zusammenbrüchen gewesen, und von vielen Pflichtversäumnissen. Sein Beruf bestätigte ihn jeden Tag ein wenig mehr in seinem Stoizismus. Er verehrte Seneca so sehr, dass er im Offizin seines Bestattungsunternehmens, den Pompes Funèbres Grosmollard mit Sitz in der Rue du Repos im 7. Arrondissement von Lyon, als kleine Textsammlung, wie man sie den trauernden Familien als Handreichung zur lauten Lektüre bei nicht kirchlichen Begräbnisfeiern, Bestattungen oder Einäscherungen überreichte, statt den einschlägigen Threnoi und Victor-Hugo-Paraphrasen Auszüge aus den Briefen des Lucilius kopiert hatte: Was täuschst Du Dich selbst und erkennst das erst jetzt, was Du seit jeher erduldet hast? So sage ich (hier den Namen des Verstorbenen einfügen): Seit Deiner Geburt wirst Du zum Tode hingeführt, eine Ansprache, die leider nie jemand wählte, wie Grosmollard immer beklagte. So sage ich dir, Papi: Seit Deiner Geburt wirst du zum Tode hingeführt – das hatte Grosmollard noch nie in der Säulenhalle eines städtischen Krematoriums gehört. So wenig wie den von ihm geliebten Bericht über den Selbstmord Catos: Warum sollte ich nicht erzählen, wie er in jener letzten Nacht Platons Buch las, das Schwert neben seinem Haupt? Diese zwei Werkzeuge hatte er sich in der äußersten Not besorgt, das eine, um sterben zu wollen, das andere, um es zu können. Nachdem er nun seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, so gut dies bei dem völligen Zusammenbruch eben möglich war, glaubte er, alles daransetzen zu müssen, dass es weder jemandem vergönnt sei, Cato zu töten, noch es jemandem gelänge, ihn am Leben zu erhalten. Er zog das Schwert, das er bis zu jenem Tage rein von jeglicher Mordtat bewahrt hatte, und sprach: »Nichts hast Du erreicht, Fortuna, mit deinem Widerstand gegen alle meine Bemühungen. Nicht kämpfte ich bisher für meine, sondern für meines Vaterlands Freiheit, und das Ziel meiner so beharrlichen Tätigkeit war nicht, frei, sondern unter Freien zu leben. Nun aber, da ja die Lage des Menschengeschlechts aussichtslos geworden ist, soll Cato in Sicherheit gebracht werden!« Hierauf fügte er sich die todbringende Wunde zu. Als die Ärzte diese verbunden hatten und ihm infolge des starken Blutverlustes die Kräfte schwanden; sein Geist aber immer noch der gleiche blieb, stieß er, nicht so sehr auf Caesar als auf sich selbst zornig, die bloßen Hände in die Wunde und gab seinen edelmütigen Geist, den Verächter jeder Gewalt, nicht auf, nein, er stieß ihn hinaus.

Cato zieht mit den Händen seinen Geist aus der Wunde! Er setzt ihn frei, holt ihn sich aus seinem Leib! Exit, generosum illum spiritum non emisit sed eiecit, adieu! Welche Tapferkeit. Oh, Cato!, dachte Grosmollard, während er ein Stück gefüllten Aal kaute, oh, Seneca! Zeigt uns den Weg und gebt uns Mut! Dann leerte er sein Glas Rotwein im Gedenken an diese großen Männer, damit die Speise besser rutschte.

Mit dem ganzen Schwung, den ihm die Erinnerung an seine Idole ebenso wie der Périgord Rouge verliehen hatte, wappnete sich Grosmollard mit seiner Intelligenz, gürtete sich mit seinem Wissen, erhob sich feierlich, warf Bittebière zu seiner Rechten einen abschätzigen Blick zu, reckte das Kinn in die Höhe und machte diese tief empfundene Kampfansage:

»Und jetzt genug von diesen Geschichten, diesen Legenden, Poiraudeau. Wir leben nicht mehr in einer Welt der Märchen. Das Zeitalter der Legenden ist vorbei. Zum Teufel mit Gargantua, Melusine, Pantagruel! Schluss mit den Kindereien, Poiraudeau! Es ist an der Zeit! Es ist an der Zeit, über Gevatterin Tod zu sprechen.«

Bei der Erwähnung der Dame in Schwarz erschauderten alle Totengräber. Über Gevatterin Tod sprechen! Poiraudeau sprang vom Stuhl auf, als hätte ihn ein gefülltes Ei mitten auf die Stirn getroffen. Diese Kränkung musste erwidert werden! Märchen, Legenden sollen Kindereien sein? Wie bitte? Was schwafelte Grosmollard da? Auf zum Angriff! Auf die Knie mit diesem Toren!

»Schatzmeister Grosmollard, bei allem Respekt, den ich dir schulde, du bist auf dem Holzweg. Gargantua ist keineswegs ein Märchen. Du solltest dich schämen. Für Weisheit und Wissen steht Gargantua! Nicht für Knödel in Sauce Nantua.«

Diese geographische Anspielung traf Grosmollard fürchterlich, da sie ein Gericht aus dem Lyoner Umland herabsetzte. Sicher, Knödel in Nantua-Sauce sind etwas teigig. Etwas fad. Doch sie zergehen auf der Zunge. Dieser Poiraudeau war ein ungehobelter Bauer.

»Freund Poiraudeau! Über Gevatterin Tod zu sprechen adelt uns alle Zeit! Kein Gedanke kann gedeihen ohne Verweis auf die Schwarze Hoheit!

 

Wer nur nach Ruhm mit stürmischen Sinnen strebt,

In ihm der Güter höchstes sieht,

Der schau, wenn er zum weiten Himmelszelt geblickt,

Hin auf der Erde schmalen Raum.

Füllt euer Namen schon den engen Umkreis nicht,

So bringt euch, ihn zu mehren, Scham.

Was strebt ihr Stolzen unterm Joch der Sterblichkeit

Den Nacken bäumend, doch umsonst!

Mag zu entlegnen Völkern dringen euer Ruf,

Mag nennen ihn auch fremder Mund,

Von Ehrentiteln glänzen euer hohes Haus,

Der Tod verspottet großen Ruhm.

Das niedre Haupt, wie das erhabne hüllt er gleich,

Das Höchste, Tiefste gilt ihm eins.

Wo blieb des redlichen Fabricius Gebein?

Wo Brutus? Catos Strenge? Wo?

Mit wen’gen dürren Lettern schrieb ein magrer Ruhm

Den Rest, den leeren Namen auf.

 

Bedenke, was Boethius sagt, Poiraudeau. Weder Cato noch Gargantua. Alles ist vergänglich, alles wird verschwinden.«

Poiraudeau verlor den Überblick – er glaubte, Grosmollard wolle der Bruderschaft wieder den Tod anheimstellen, deshalb dichtete er aus dem Stegreif:

 

Ja, aber was für ein Geschlecht, vor allem, was für Lettern!

Eine gut gestochne Inschrift ist für euch bestimmt,

Wenn kalt wie Eis die Ewigkeit euch zu sich nimmt,

Und die Lebenden ohrenbetäubende Gebete schmettern.

 

Grosmollard fuhr mit seiner Rezitation fort:

 

Doch was an Ruhmesworten uns bekannt

Was weiß der Tote noch davon?

So liegt ihr also völlig in Vergessenheit

Kein Ruhm noch Name bleibt von euch.

 

Grosmollard war stolz auf sich, diese Runde ging an ihn, das sagte ihm sein Gefühl, auch wenn er sie mit fremden Versen und Gedanken gewonnen hatte, sein Beitrag würde ihm eine gewisse Anerkennung bei seinen Kollegen einbringen, die, das soll nicht verschwiegen werden, weit weniger dachten als futterten. Doch er hatte die Rechnung ohne den stolzen Vendéer gemacht:

»Aber ist des Menschen wahrer Leib nicht das Denken? Ihr zitiert Sallust, Boethius, Cato, sind sie nicht für uns lebendig und stehen neben Plato? Sind sie nicht ganz gegenwärtig, wenn man sie liest?«, warf Poiraudeau ein. Grosmollard antwortete:

 

Doch glaubt ihr länger euer Leben hinzuziehen

Mit eures Namens irdschem Hauch,

So wartet, wenn ein später Tag auch ihn entrafft,

Doch eurer nur ein zweiter Tod.

 

Grosmollard warf sich in die Brust und zog die Toga der Selbstgefälligkeit über die Schultern. Poiraudeau wollte den Stachel des Widerspruchs setzen. Die wahre Frage war: Existiert Gevatterin Tod? Muss man sie nicht vergessen, wie wir es zwei Tage lang während des Banketts tun? Kann man nicht einfach an die Unzerstörbarkeit des Seins glauben?

Die Totengräber waren in großer Verlegenheit. Über Gevatterin Tod zu sprechen war immer riskant. Ja, sie verdankten ihr das Wunder des Banketts. Ja, die Bruderschaft lebte von der großen Sense, der Schere der Parze. Und dennoch kam jedes Jahr, seit Anbeginn der Zeit, der Tod aufs Tapet oder vielmehr aufs Tischtuch, während die Platten herumgereicht, die Gläser geleert, die Mägen gefüllt, die Stimmen lauter und die Messer gewetzt wurden.

So richtig verstand niemand Poiraudeaus Position, aber keinem entging, wie er unter der Konfrontation mit dem stoischen Grosmollard litt, als durch einen kleinen Tumult unter den Teilnehmern plötzlich der Eindruck entstand, es habe sich ein neues Argument gefunden: Einige erhoben sich, andere gingen beim Aufstehen zu Boden, weil sie auf weiß Gott welchen Abfällen, herabgefallenen und fettigen Speiseresten ausgerutscht waren, und einen Moment lang erfasste Panik die Feiernden. Gevatterin Tod! Sie ist da! An einem Ende der riesigen hufeisenförmigen Tafel hob sich der Tisch, einige prächtig betrunkene Totengräber versuchten, die Türen zu erreichen, Käsewindbeutel, Becher, Weinflaschen in den Taschen und Bierpullen in den Händen, rette sich, wer kann! rette sich, wer kann!, und stießen auf ihrem Weg mit den Kellnern zusammen, die Tabletts mit dem nachfolgenden Fischgericht hereintrugen, Lampreten-Ragout à la Nantaise, auch als Lampreten-Ragout à la Rochelaise oder à la Bordelaise bekannt, in Rotwein geschmortes Neunauge, dessen furchteinflößender Kopf mit kleinen, gelben Augen und einem Maul wie ein Schröpfkopf voller Zähne unheilverkündend vom Küchenchef zur Dekoration verwendet worden war. Diese Horrorgestalten schienen sich bedrohlich vor den armen, fliehenden Totengräbern aufzubauen. Der Schock war fürchterlich; die sämige und siedend heiße, schwarze Sauce ließ die Fliehenden vor Angst und Schmerz aufheulen; mehr als ein Kellner strauchelte und landete mit dem Arm, dem Bauch oder dem Kopf im Ragout auf dem Boden; der Knall war so heftig, dass der Schröpfkopf eines Neunauges samt Zähnen und Augen zehn Meter weit flog bis in oder knapp vor den Teller eines Bestattungskonnetabels, wo er in einer Schneckenpyramide stecken blieb, von der sich noch keiner bedient hatte; die vor Butter triefenden Schneckenhäuser spritzten auseinander, rollten wie Murmeln aufs Geratewohl weiter, begleitet von erschrockenen Aufschreien, was zur allgemeinen Verwunderung und Verwirrung noch beitrug.

Da haben wir es, alle sind blau, brummte Bittebière. Schöne Bescherung, sie sind bereits ausnahmslos besoffen, bedauerte Pouvreau mit einem Seufzen wegen all der Gerichte, die es noch zu kosten gab. Endlich kommt Leben ins Bankett, freute sich Sèchepine. Der Tumult bewirkte, dass jeder trank und schwatzte, was das Zeug hielt, ein beträchtliches Stimmengewirr entstand, und der Gang mit den Neunaugen fiel etwas kürzer aus. Man ging möglichst schnell zum Jeddefesch über, Karpfen nach jüdischer Art, schöne Karpfen aus Damvix, die Pouvreau und seine Assistenten in der Nacht selbst geangelt hatten: Sie waren dabei so blau wie heute, doch anders als bei Jägern birgt ein Rausch nur Gefahren für den Angler selbst oder in Fällen schwerster Trunkenheit für seine unmittelbaren Angelnachbarn. Und außerdem, beteuerte Pouvreau lauthals jedem, der es hören wollte, sei es nicht seine Schuld, wenn die Fische Pastis liebten! Man müsse den Allmächtigen Baumeister aller Welten befragen, warum er es so eingerichtet habe. Ein paar Schraubverschlüsse Pastis, um die Köder einzutauchen, und hopp, beißen die Karpfen wie wild!!!

Aus diesem wohlfeilen Grund nahm er stets seine (aus Andorra geschmuggelte) Magnum-Flasche Pastis mit zum Fluss oder zum See, jawohl!, »weil der Allmächtige Baumeister der Welten den Karpfen als Besonderheit eine ziemlich menschliche Eigenschaft gegeben hat, nämlich die Leidenschaft für Anis«. Allmählich stellte sich wieder so etwas wie Ordnung ein. Poiraudeau und Grosmollard (der eine verdrückte Aale und Lampreten, als hätte sein letztes Stündchen geschlagen, der andere schlürfte nachdenklich seinen Gamay und fuchtelte mit einem auf der Gabel aufgespießten Happen Fisch herum) schienen eine Pause in ihre philosophische Debatte einzuschieben. Poiraudeau lauerte wie im Hinterhalt auf den zweiten Akt – unmittelbar bevor die Panik ausgebrochen und die Servierplatte gekippt war, hatte er noch gegen seinen reichen Widerpart gestichelt: »Und ihr seht doch, sofern ihr nicht alle vollkommen besoffen seid, dass man sehr wohl mit Gevatterin Tod leben kann!«, eine Spitze, die im Tumult untergegangen war. Als würde man in den Nebel ballern, wenn das Schießpulver knapp wird, bedauerte Poiraudeau, dessen hübsche Sentenz verpufft war. Falls die Anfeindungen wieder aufflammen würden …

 

PAUSE & TRINKLIED

(auf die Lampreten-Melodie)

 

Pouvreau gab Großmeister Sèchepine ein Zeichen, der sofort verstand, dass es einer Pause bedurfte, einer Abwechslung zwischen den Gängen, damit wieder Ordnung und Hunger einkehrten. Man war in der Mitte der Mahlzeit angelangt, nach dem Fisch und vor den Fleischgerichten. Es war Zeit für einen Schnaps. Das war der Moment für den Wunder wirkenden »Trou«, um wieder Kraft zu schöpfen und Appetit zu wecken. Rings um ihn herum spürten die Totengräber, dass der Augenblick gekommen war, Stimmen erhoben sich: »Ein Lied! Ein Lied! Den Trou, den Trou!«

Das gemeine Volk denkt bei diesem Ruf an das »normannische Loch«, dabei existiert der »Trou« in allen Provinzen je nach ihren Möglichkeiten: Das gefährlichste ist das »Lothringer Loch« mit Mirabellenschnaps; das exotischste das »Antillen-Loch« mit brennendem Rum; das christlichste das »Mönchsloch« mit dem Chartreuse; das östlichste das »Elsässer Loch« mit Kirsch, das erdigste das »nordische Loch« mit dem Rübenschnaps und so weiter, Cognac, Armagnac, Tresterbranntweine, alle Arten stärkender Trünke unterschiedlichster Provenienz, die im Trou versenkt werden können, das heißt in reichlicher Menge durch einen tüchtigen Schluck und zur Mitte des Mahls (der Trou des Säufers, der vor der Rückkehr zu seiner Gattin ein Fläschchen Ricqlès® Pfefferminzgeist gurgelt, kann nicht ernsthaft dazugezählt werden, da ein »Loch« voraussetzt, dass es davor und danach etwas Handfestes – etwas Irdisches – zu essen gibt), um die Produktion der Magensäfte anzukurbeln und sowohl Appetit auf die folgenden Gänge zu bekommen als auch die Stimme zu klären, bevor es ans Singen geht. Die Besonderheit der Trous für diejenigen, die ständig welche gruben, bestand nämlich darin, dass sie immer mit einem Gassenhauer einhergingen, der zum Trinken und zu anderen Freuden animierte und bisweilen das sogenannte »schwache« Geschlecht in Szene setzte, anders gesagt, mit einem schlüpfrigen Lied – denn Leib und »Loch« sind, was die Totengräber betrifft, das Salz ihres Berufs. Das Privileg, das Trinklied auszuwählen, fiel jedes Jahr einer anderen Delegation zu – dieses Mal waren die okzitanischen Totengräber an der Reihe; der Trou würde also aus der Gegend von Béziers oder Narbonne kommen; die Spirituosen aus dem Westen: ein Engelwurz aus dem Marais, grün wie ein Chartreuse, berauschend wie eine Fee im Nebel oder ein dreifach gebrannter Zwetschgenschnaps, sicher ein wenig rau, ein wenig kratzig, aber mit duftenden Kanten wie die Toten, die er zum Leben erweckte. Die okzitanische Mannschaft stimmte sofort lauthals eine allseits bekannte Melodie an, damit die übrigen Totengräber in den Refrain einstimmen konnten:

 

Gegen Kummer, gegen Schmerzen

Tauche ich von ganzem Herzen

Meine Nase, mein’n Moustache

In den Roten aus Saint-Chinian

   Es lebe der Grenache,

      Es lebe der Grenache,

         Es lebe der Grenache und der Carignan

 

Es war also ein Winzerlied, charakteristisch für Trinklieder aus den Regionen Okzitaniens, die man einst Languedoc nannte – die Melodie war eingängig, und die harmlosen Verse machten Durst auf Fünf-Sterne-Weine, dreizehnprozentige Qualitätsweine! Auf alten Wein! Und während sie sich den Rebensaft für das Fleisch aufsparten, dessen Duft – aromatisch brennende Holzscheite, brutzelndes Fett, Lorbeer, Thymiansud (die Männer am Drehspieß hatten ihre Schmalztiegel zur Seite gelegt, um das Fleisch von den Spießen zu ziehen) – in ihre genüsslich geweiteten Nasenlöcher stieg, zwitscherten diejenigen, die nicht sangen, kleine Gläschen Zwetschgenwasser oder Engelwurz (Angelica archangelica), um wieder munter zu werden.

 

Er ist nicht rot, er ist purpur

Der harte Weinstein hat Struktur

Aus dem Fass schlag ihn rasch

Dass ich darin baden kann

Es lebe der Grenache,

   Es lebe der Grenache,

      Es lebe der Grenache und der Carignan

 

Ein Bestatter säuft wie’n Leck

Sechs, acht Flaschen macht er weg

An freien Tagen aber nascht

Er Roten von der Côte de Lézignan

Es lebe der Grenache,

   Es lebe der Grenache,

      Es lebe der Grenache und der Carignan

 

Komm, Kleine, lass dich von mir verwöhnen

Lass drücken, pressen mich all die schönen

Prallen Trauben, in deiner Korsage, die

Ich befummeln und besiegeln kann,

Es lebe der Grenache,

   Es lebe der Grenache,

      Es lebe der Grenache und der Carignan

 

Ah, jetzt wurde es schlüpfrig: [Erlauben Sie, dass die Zensur ihr Werk tut und dass wir, um das schöne Geschlecht nicht zu erschrecken, wie Sèchepine sagen würde, von den besonders obszönen Versen dieser Pastorelle nur den Reim wiedergeben]

 

   weise

      Greise

   klebt

      mit Elan

Es lebe der Grenache,

   Es lebe der Grenache,

      Es lebe der Grenache und der Carignan

 

Die vorletzte Strophe war für die Totengräber aus dem Languedoc ein besonderer Gaumenkitzel, denn sie war die bei Weitem gesalzenste:

 

         Schänder

      Ständer

   rasch

Grobian

Es lebe der Grenache,

   Es lebe der Grenache,

      Es lebe der Grenache und der Carignan

 

Und alle reckten im Chor das Glas in die Höhe! Und alle leerten es in einem Zug! Und die Küchenjungen trugen mit der gebotenen Vorsicht die Aufhebung des Trous herein, denn nach den Schnäpsen sollte man doch eine Kleinigkeit schnabulieren, während die okzitanische Liedertafel unter Applaus den Schlussvers des Trinklieds grölte:

 

Deine Wangen rosig wie ein Fitou

Locken mich nicht zum Rendezvous

So wenig wie dein hübscher Arsch

Von Rivesaltes nach Sérignan

   Es lebe der Grenache,

      Es lebe der Grenache,

         Es lebe der Grenache und der Carignan!

 

Aufgehoben wurde der Trou durch einen kleinen Auflauf aus Coquillettes, überbacken mit einer Creme aus sehr altem Comté und Trüffeln, die einen Duft verströmten wie ein einbalsamierter Leichnam, ein unzeitgemäßer Zwischengang wie ein Film mit Louis de Funès, nur ein Happen, der nach Tod schmeckte, um den Gaumen wieder an Deftiges zu gewöhnen, vor dem Höhepunkt, dem Fleisch, das man früher Braten nannte. Die Totengräber hatten wieder Appetit bekommen und ihre Trunkenheit dank ihres musikalischen Trankopfers gesteigert; die Sangesbrüder aus Béziers beglückwünschten sich wie eine Rugbymannschaft nach dem Sieg; die Spießdreher und Schmalzschmelzer hatten die Hasen und Ferkel vom Spieß genommen und legten sie für den nächsten Arbeitsschritt auf riesige Platten. Nun ging es darum, das Fleisch zu tranchieren und diese Herrlichkeiten mit Sauce zu bedecken, Sauerampfer und Butter für die Hasen, dunkle Schokolade für das Schweinefleisch; auch das Frühlingsgemüse wurde aufgetragen, nach Gärtnerinnen Art Erbsen, grüner Spargel, junge Möhrchen, Artischocken, die auf der Zunge zergingen, Hörnchenkartoffeln der Sorte »La Ratte«, eine Spezialität von der Île de Ré, Schnittlauch und grüner Knoblauch, Kürbisgratin, Mogettes gefolgt von tranchiertem Lamm, Keulen, Koteletts, dann Kalbfleisch, im Kamin gegrillte Koteletts, in den Flammen gegarte Filets in Salzkruste, mit Kräutern verfeinerte Keule nach Kebab-Art in feine Scheibchen geschnitten, und allen, so betrunken sie auch waren, die das »Loch« und seine Aufhebung zurück ins Lot gebracht hatte, lief wieder das Wasser im Mund zusammen. Bittebière setzte im Kopf seine Liste der Speisen fort, die er bisher hatte vertilgen können,

ein Scheibchen Weißbrot mit Rillettes au Vouvray,

ein lächerlich kleines Stück Entenpastete,

ein Fächer Cornichons, um die vorgenannten aufzupeppen,

ein gefülltes Ei, also zwei halbe Eier, nur wegen der Petersilie,

zwei mit Käse gefüllte Windbeutel,

sieben Froschschenkel, also vier Frösche, darunter ein Einbeiniger,

acht schöne Weinbergschnecken in Knoblauchbutter,

ein Häppchen Königinpastete mit Kalbsbries,

eine Tasse Bouillon mit Gänseleberklößchen,

ein pochiertes Ei in Rotweinsauce und darin eingetunkt ein Grissini,

eine Blätterteigpastete mit Flusskrebsen,

sechs gratinierte Austern à la Dumas (wie lange schien das her!),

neun Langustenschwänze in Zitronenmayonnaise,

drei panierte Krebsscheren,

vier Scheiben gefüllter Aal,

zwei Portionen Lampreten-Ragout à la Rochelaise,

ein halbes Karpfenfilet in Gelee,

ein Zwetschgenwasser zum Trou,

ein Löffel Coquillettes mit Comté und Trüffeln überbacken,

einen Angelika-Likör zum Trou,

noch einen Löffel Coquillettes,

eine Scheibe Spanferkel mit Schokolade glasiert,

ein Kürbisauflauf mit Tomme aus Maillezais überbacken,

eine Hasenkeule in Sauerampfersauce,

der Anschnitt einer Lammkeule mit einigen Mogettes,

ein zu kleines Stück Kalbsfilet, im Kamin gegrillt, zum Dahinschmelzen,

ein paar hauchdünne Schnitzelchen Kalbskeule in Kräutersauce,

Sauce béarnaise, für die reine Freude an der Butter, dazu Estragon,

Gemüse, einzeln und nach Gärtnerinnen Art.

 

Er hatte den Überblick über die konsumierten Getränke verloren, aber ihm war, als hätte er Chenin und Gamay getrunken, und jetzt entspannte er sich bei einem zehn Jahre gereiften Chinon, der tief, sehr tief, so abgründig tief war, dass sich die Seele ganz und gar in ihm spiegelte – die Seele und die Erschöpfung, denn er war ein wenig eingedöst, wie viel Zeit war vergangen, das Bankett war von ihm weggerückt, erreichte ihn nur gedämpft; er schaffte es noch, zerstreut eine Erbse oder ein junges Möhrchen mit der Gabel aufzuspießen, doch vom Meschoui, dem Lamm vom Spieß, oder von der zarten Scheibe der im Kamin gerösteten Kalbskeule brachte er keinen Bissen mehr hinunter – auf der hufeisenförmigen Tafel häuften sich die Abfälle; Hunde und Katzen, Gefährten der Friedhofswärter, lagerten auf dem Boden, die einen nagten am Knochen einer Lammkeule, die anderen schleckten die Aalsauce auf; zahlreiche Gäste waren mit ihrem Stuhl vom Tisch weggerückt zum Zeichen, dass sie aufgaben, sie hatten die Füße zu beiden Seiten ihres Tellers auf den Tisch gelegt und balancierten gefährlich auf zwei Stuhlbeinen, während sie mit einem Ballonglas Chinon in der linken und einem Zahnstocher in der rechten Hand zugange waren; andere waren zusammengesunken und schliefen, den Kopf auf die Arme gelehnt, einen Ellbogen in der Sauce, während ihre Tischnachbarn das Schnarchen nutzten, um kleine Schiffchen aus Brotkrumen in den Resten der Suppenteller segeln zu lassen, eine Regatta von Amateuren mit Wetten auf den Sieger. In einer Ecke würfelten vier sturzbesoffene Bestatter mit den Halswirbelknochen eines Lamms, und ihre Trunkenheit war ihnen keine Hilfe. Beim Versuch, ein wenig Ordnung zu schaffen, geisterten Kellner zwischen Pfützen und verstreuten Essensresten herum – zwischen dem Hauptgang und dem Käse stellte sich immer eine gewisse Melancholie ein: Die leeren Kamine begnügten sich damit, zu glühen, doch die Helligkeit nahm ebenso ab wie das Stimmengetöse; außer den Weisesten und den Jüngsten schwelgten die Totengräber in einem sanften Rausch, der dank der großen Menge an verschlungenen Speisen wohltemperiert war. Hier und da hörte man aber noch Schmatzen und Glucksen; mit dem Teller in der Hand erkundigte sich ein junger Totengräber, ob noch Sauce béarnaise übrig sei, mit der er den Rest seines Kalbsbratens aufessen könne; ein besonders hartnäckiger Totengräber spießte ein schönes Stück Lammkeule mit seiner Gabel und eine Scheibe Spanferkel mit der Spitze seines Messers auf, um sie im Kamin zu wärmen: Kaltes Fleisch schmeckte ihm nicht. Martial Pouvreau schenkte sich wieder ein Glas Chinon ein, sein siebtes, um die in Bratensaft gebadeten Kartöffelchen hinunterzuspülen, auf die er versessen war; seine Strategie bestand wie immer darin, das Glas randvoll zu machen, bis sich die Oberfläche leicht wölbte, was er prüfte, indem er sich nach alter Indianertaktik, das Kinn über dem Tischtuch, an das Ballonglas heranpirschte, als ob sich die Flüssigkeit davonmachen könnte und man sie überrumpeln müsse: Einmal mehr gelang es Martial Pouvreau, die Oberflächenspannung des edlen Tropfens auszutricksen, er schlürfte in einem Zug gut zwei Zentimeter Chinon, bevor er das Glas mit einer unendlich schwerelosen Geste am Fuß anhob. Martial Pouvreau spürte, dass das Bankett nun auf sein Ende zusteuerte, und je unausweichlicher das Ende näher rückte, umso mehr versuchte er, sich in Schwung zu bringen: In den verbleibenden Stunden bis zur großen Zeremonie, mit der dieses Festmahl zu Ende gehen würde, galt es, so viel wie möglich an Speise und Trank zu vertilgen. Er rief daher die Kellner herbei, auf jetzt! Schafft ein wenig Ordnung, zum Donnerwetter! Bringt diese Saufbrüder auf Trab! Schürt das Feuer! Tragt den Käse auf! Unterhaltet euch gepflegt! Zecht wüst! Haltet euch aufrecht! Benutzt euer Köpfchen! Jagt die Hunde davon! Poiraudeau, eine Rede!

Als Poiraudeau hörte, wie am anderen Ende der Tafel sein Name gebrüllt wurde, hob er den Kopf von seinem Teller, der noch randvoll beladen war mit Lammkeule und Mogettes, bestimmt eine der besten meines Lebens, dachte er, während er die Pfeffermühle über der duftenden, zarten und saftigen Keule kreisen ließ, denn wie viele der Anwesenden aß er normalerweise kein Fleisch und trank nicht außer während des Banketts; den Rest des Jahres war er von vorbildlicher Nüchternheit: abstinent, Vegetarier und verheiratet. Zwar praktizierte Poiraudeau in der Vendée, doch nicht weit entfernt von La Pierre-Saint-Christophe, dem Stammgebiet von Pouvreau, was ohne weitere Erklärung deutlich macht, dass die beiden sich zwar kannten, aber nicht gerade schätzten. Poiraudeau hörte Pouvreau nach einer Rede rufen und suchte unweigerlich den Blickkontakt zu Grosmollard, um das Wortgefecht fortzusetzen, das durch den Trou beschnitten worden war.

Schatzmeister Grosmollard war in Gedanken versunken.

Er saß mit geschlossenen Augen kerzengerade da, und man sah seiner überlegenen Miene an, dass er nicht schlief. Es bestürzte ihn, dass sich neben ihm so viele Männer im Exzess aalten. Selbstverständlich hatte er die verschiedenen Fleischgerichte und Beilagen gekostet. Aber mit Distanz. Mit Maß. Er hatte getrunken, wie es sich beim Bankett gehört, doch fast nichts. Trunkenheit? Eine Seltenheit bei ihm! Er hätte vielleicht etwas mehr getrunken, wenn es einen Rotwein aus dem Lyonnais gegeben hätte, vielleicht gar einen Beaujolais oder auch einen Saint-Joseph oder einen Crozes-Hermitage, denn die Loire-Weine, die man ihnen kredenzt hatte, waren ungewohnt, sehr befremdlich, exotisch. Wässrig, um es kurz zu sagen. Genau. Sie scheinen weit weniger konzentriert zu sein als unsere, sinnierte Grosmollard, mehr Wasser, weniger Traube. Ein Crozes ist geopfertes Stierblut, wuchtig, stärkend, römisch, dachte Grosmollard. Und ein Côte-Rôtie erst! Allmächtiger! Das weckt die Toten schon auf, wenn sie hören, wie der Korken gezogen wird! Für diesen Wein stehen die Verstorbenen mit ihren Taufmuscheln Schlange! Ein kleiner Tropfen, Herr, bitte, und sie halten ihr Schälchen hin! Reinstes Weihwasser, der Côte-Rôtie! Aber hier im Westen ist alles nasser, dachte Grosmollard. Sie können nicht die Qualität beanspruchen, die unser perfektes Klima hervorbringt. Sicher regnet es hier die ganze Zeit, es ist schon ein Wunder, dass sie überhaupt Wein anbauen können. Seien wir also großzügig mit diesen Benachteiligten, aber halten wir an unserem Urteil fest.

Die Aufforderung, die Poiraudeau an ihn richtete, traf Grosmollard unvorbereitet. Wie? Ich bin gefragt? Soll es wieder um den Tod gehen? Junger Mann, wären Sie so lieb und würden sich bitte erklären? Muss man den Tod fürchten? Ist das die Frage? Muss man Angst vor ihm haben?

Poiraudeau schob seine Lammkeule von sich und rieb sich die Hände. Er würde Gelegenheit haben, seine Theorien dazu darzulegen – als gutes Kind der Vendée glaubte Poiraudeau an Christus, der Tod sei für ihn nur ein Engel, eine von Gott gesandte Macht, die einen vor Gottes Angesicht oder in ewige Verdammnis bringe, je nachdem, was man sich auf der Erde durch seine Taten eingehandelt habe. Christus habe dem Tod eine Hoffnung mitgegeben, Hoffnung auf Erlösung, auf das Paradies und sogar auf Wiederauferstehung, die am Ende der Zeit stehe. Der Tod selbst sei nichts weiter als ein Beweis der Existenz Gottes; wenn wir stürben, täten wir das auch zum Lobe des Herrn. Jeder Tag, an dem er Tote begrub, bestärkte Poiraudeau in seiner christlichen Überzeugung: Nur Christus gibt dem allen einen Sinn. Ist es nicht ebenso natürlich, den Tod zu fürchten wie das Jüngste Gericht? Ich würde vielleicht nicht ins Paradies kommen, nicht dem Allmächtigen vor die Augen treten, sondern in die Hölle geschleudert werden. Wird mir das Leiden, das ich im Leben so gut kannte, in der anderen Welt erspart bleiben?

Grosmollard erhob sich. Er streckte sich kurz. Er nahm einen Schluck von diesem merkwürdigen Chinon, der nach Flusskiesel schmeckte und aus den Tiefen des Acheron stammte.

Er rüstet sich für seinen Auftritt, höhnte Poiraudeau.

Die Totengräber stießen einander mit den Ellbogen an, um sich gegenseitig aus ihrer Lethargie zu wecken. Später würden die Chronisten sagen, dass die Bruderschaft in dieser Nacht dank des Vortrags von Grosmollard wieder rege wurde; einige behielten sogar den Namen Poiraudeau im Gedächtnis, denn der junge Mann war zwar Christ, aber er verkörperte die Zukunft des Berufszweigs; in einigen Jahren würde er ein weithin bekanntes Geschäft leiten, und es würde ihn wenig scheren, wenn der Neid sein Nachbar wäre.

Grosmollard heftete seinen Blick auf Poiraudeau.

»Poiraudeau, höre dazu Lukrez:

 

Darum: Triffst du auf einen, der mit seinem Schicksal hadert, der klagt, dass er mit seinem nach dem Tod in die Erde gelegten Leib verrotten wird, dass ihn vielleicht auch Flammen verzehren, dass wilder Tiere Kiefer ihn zerreißen – seine Worte, da sei sicher, klingen nicht ganz rein: So laut er auch bestreiten mag, dass er nach seinem Tod noch irgendetwas empfinden werde, tief in seiner Brust steckt dennoch ein heimlicher Stachel. Denn er, wie ich meine, glaubt nicht, was er beteuert, ebenso wenig die Gründe dessen, was er sagt. Er will nicht sehen, dass er nach dem Tod aus dem Leben vollständig herausgerissen ist, mit allen Wurzeln; etwas, so glaubt er unbewusst, werde schon von ihm bleiben. Wer noch im Leben fürchtet, dass zukünftig, nach dem Tod, Vögel kämen oder wilde Tiere, seinen Körper zerfleischen, der bedauert sich selbst. Und kann dies nur, weil er nicht lässt von diesem Ding, sich nicht wirklich von ihm trennt: Dieser leblos verlassene Leib, so scheint ihm, sei doch noch immer er, und also tritt er neben diesen und meint sich zuzuschauen, wenn jener zerfleischt wird, schreibt dem Toten auch das eigene Fühlen zu. Darum hadert er damit, sterblich geboren zu sein; darum sieht er nicht, dass, wenn er einmal tot ist, kein gleichsam anderes Ich da sein wird, das, weiterlebend, seinen Tod beklagt; kein anderes Ich, das beim zerfleischten Körper steht und ihn dort hingeworfen liegen sieht oder brennen. Bitter, gewiss, wenn nach dem Tod der Leib zermalmt wird von zahnbewehrten Kiefern wilder Bestien. Doch warum, frage ich, soll das bitterer sein, als in Flammenglut zu verbrennen oder in Honig balsamiert und eng gewickelt zu erstarren, auf kaltem Marmor vor Kälte steif zu werden oder unter der Erde Last erdrückt und zerrieben. … ›Ja, du, so wie du nun liegst, ungestört im Schlaf des Todes, so für alle kommenden Zeiten begleitet dich nichts mehr, was dich schmerzt und drückt.‹«

 

Ich kann deinen Zweifel ausräumen, Poiraudeau«, behauptete Grosmollard. »Du brauchst diese Seite des Todes nicht zu fürchten – den Schmerz, den der Leichnam hat, die Kälte des Grabes: Das wirst du auf keine Weise spüren, Poiraudeau. Der Tod ist also nicht zu fürchten. Warum fürchten wir uns dann vor ihm? Fürchten wir uns vor dem Leid, das unsere Abwesenheit bei einem anderen hervorrufen wird? Sind wir so selbstlos, dass wir den Tod aus tiefem Altruismus fürchten? Das wäre auf den ersten Blick eher überheblich als edelmütig – aber vor allem wäre es absurd, denn wir werden alle für immer fehlen, verschwinden. Was gewiss ist, können wir nicht fürchten. Können wir bedauern, dass wir nicht wissen, was nach unserem Ende auf der Welt geschieht? Sicher. Können wir es fürchten? Nein. Ich überlasse dir den Katzenjammer, aber das Bedauern ist den Lebenden vorbehalten, die Toten können nicht bedauern, dass sie das Ende des Films nicht kennen, und das, Poiraudeau, aus zwei Gründen: Entweder hört mit dem Dahinscheiden alles auf, und es gibt folglich niemanden zu bedauern, oder Gott nimmt die Verstorbenen bei sich auf, und dann hat alles für sie (endlich, wenn man so will) ein Happy End. Bedauern ist also nicht möglich. Es gibt kein Bedauern, keine Freude, keine Empfindung, der Tod liegt jenseits aller Erfahrung, Poiraudeau. Er entgeht dem Erfahrungswissen vollständig. Der große Schopenhauer stellt dir die folgende Frage, Poiraudeau: Du bist beunruhigt, dich erschreckt die künftige Zeit, in der du nicht mehr da sein wirst, doch was ist mit den Abertausenden von Jahren, in denen du noch nicht existiert hast? Sie beunruhigen dich nicht? Gehen nicht die Abwesenheit von Leiden, das Fehlen jeder Erfahrung deiner Geburt lange voraus? Dein erster Schrei oder das Knirschen der Teilung deiner ersten Zelle, stellen sie keinen Anfang deiner Existenz dar – konntest du vor deiner Geburt irgendetwas empfinden? Verteilt deine Ankunft auf dieser Welt, Poiraudeau, die Karten derart neu, dass sich mit deinem Erscheinen alle Regeln ändern? Nein? Folglich wird der Zustand nach deinem Tod für dich derselbe sein wie vor deiner Geburt: schmerzfrei und nicht existent.

 

›Wir aber, wir standen dabei, als auf diesem grausen Holzstoß du zu Asche verbranntest, klagten in Tränen untröstlich um dich. Unser Gram erlischt nicht, nie wird kommen der Tag, der ihn uns von der Brust nimmt.‹ Wer aber so spricht, den sollten wir fragen, was, wenn denn zuletzt alles zu Schlaf wird und Ruhe, was daran so unendlich bitter ist, dass sich irgendwer in unerschöpflichem Gram verzehren müsste?

Häufig erleben wir Männer, die zum Mahl auf die Liegen gestreckt und die Stirn von Lorbeer beschattet ihre Becher heben und aus tiefer Brust sagen: ›Kurz ist die Freude, die uns armen Menschlein gegeben, bald schon wird sie vergangen sein, und nichts haben wir zur Hand, sie zurückzurufen.‹ Als wäre nach dem Tod die größte Sorge, dass brennender Durst sie plagte und dörrte, dass sie niemals loswürden das Verlangen nach immer anderem! Sind Geist und Körper beide in ruhigen Schlaf gesunken, schon dann sehnt sich kein Mensch nach sich selbst noch nach Lebensfreude. Eigentlich sollte der Schlaf dann niemals enden, denn schlafend stören uns keinerlei Sorgen auf um uns selbst. Im Schlaf haben die in unserem Leib verteilten Urelemente sich nicht so weit aus jenen Bewegungen entfernt, die all unser Empfinden wirken; aus dem Schlaf gerissen, können sich Menschen durchaus wieder sammeln. Dann aber, davon müssen wir ausgehen, bedeutet der Tod für uns noch weniger als der Schlaf – so uns überhaupt etwas weniger bedeuten kann als das, was wir eh für nichtig erachten. Mit dem Tod aber zerstreut sich die beunruhigte Materie sehr viel weiter, und niemand, den das kalte Ende des Lebens überwältig hat, erwacht wieder und erhebt sich.«

 

Die Totengräber, die noch munter waren und beide Hände frei hatten, spendeten Beifall, die anderen, die mit einem Glas oder einer Gabel hantierten, klopften mehrmals mit der Faust auf den Tisch, eine etwas teutonische Geste, ein wenig barbarisch, und diejenigen, die unglücklicherweise keine Hand frei hatten, einen Kelch in der einen, irgendeine Speise in der anderen, begnügten sich mit lauten Zurufen, und wer sowohl die Hände als auch den Mund voll hatte, prustete, und wer schlief, tat nichts. Allen gefiel es, wenn die Rede gelungen war.

Grosmollard hob sein Glas Chinon, betrachtete es argwöhnisch und leerte es. Er hatte Durst. Er war glücklich.

Poiraudeau bot dem an die Beweiskraft der Philosophie Glaubenden mit seinem selbstgewissen Lächeln die Stirn. Auch er stand auf, leerte, um gleichzuziehen, seinen Kelch, räumte ein oder zwei Axiome ein, wie die Unsterblichkeit der Seele, die den saccus merdae in Gang setzt, den Funken, der einem bei der Geburt mitgegeben wird, und die Kraft der Taufe; er zitierte die Heilige Schrift, die Kommentare und vor allem Thomas von Aquin, den er verehrte, insbesondere dessen Kommentar zu Aristoteles’ De anima, in dem dieser bewies, dass die Seele nicht nur vom Körper zu unterscheiden ist, sondern dass sie als Substanz auch nicht zu seinen Akzidentien gehört und im Gegensatz zur Auffassung von Aristoteles unsterblich ist. Poiraudeau stützte sich in seiner Redekunst auf die des göttlichen Bossuet:

O Seele voll von Sünden, aus gutem Grund fürchtest du die Unsterblichkeit, die deinen Tod ewig macht! Aber siehe in der Person Jesu Christi die Auferstehung und das Leben: Wer an ihn glaubt, stirbt nicht; wer an ihn glaubt, lebt schon ein geistliches und innerliches Leben; er lebt durch die Gnade, die hernach zum Ewigen verhilft: Der Leib ist indessen dem Tod allzeit unterworfen. Getrost, o Seele! Wenn dieser göttliche Baumeister, der dich wiederherstellen will, das alte Gebäude deines Leibes stückweise verfallen lässt, so will er es dir in einen besseren Stand setzen, deinen Leib in einen besseren Zustand versetzen: Der Leib wird für kurze Zeit ins Totenreich eintreten, aber er wird nichts in seinen Händen lassen als die Sterblichkeit. Denkt aber nicht, dass wir die Verwesung nach den Gründen der Arzneikunst als eine natürliche Folge seiner Zusammensetzung und Mischung betrachten müssen. Wir müssen unseren Geist höher erheben und vermöge der christlichen Grundsätze glauben, dass, was das Fleisch der Notwendigkeit der Verwesung unterwirft, eine Neigung zum Übel, eine Quelle böser Begierden, kurz, ein Fleisch der Sünde ist, wie der Apostel spricht. So ein Fleisch muss getilgt werden, und ich sage, sogar in den Auserwählten; weil es das Fleisch der Sünde in diesem Zustand weder verdient, mit einer seligen Seele vereint zu werden, noch in das Reich Gottes einzugehen.

Trotz der Schönheit und der Weisheit dieser Rede zeitigte die Addition von Bossuet plus Thomas von Aquin plus Aristoteles bei den Totengräbern sofortige Wirkung: die Revolte. Poiraudeau sah sich erneut den Beleidigungen jener Rabauken ausgesetzt, die von der Tiefe der Debatte aus ihrer Trunkenheit gerissen wurden; sie bewarfen ihn mit kleinen Knochen, pfiffen, sangen schlüpfrige Lieder und hatten null Interesse an der laufenden Debatte; Gevatterin Tod konnte ihnen den Buckel runterrutschen, sie würden schnell genug in ihr Leben zurückkehren. Natürlich war es wichtig, dem Tod ein gedankliches Fundament zu geben, aber die Totengräber waren freie Männer und erlaubten sich daher, gemäß ihrem Wissen über die letzten Gründe oder wenn ein Glas Rotwein sie stärker lockte als eine Predigt, ihre Haltung zu ändern. Beim Bankett war ihnen die Leichtigkeit eines Lukrez, Schopenhauer oder Grosmollard lieber als die feinsinnigen Auslegungen der Tradition des christlichen Denkens eines Thomas von Aquin und Poiraudeau.

Ermattet waren die Gäste mehr Atomisten als Thomisten.

Poiraudeau fand sofort das Gegenargument. Er klopfte mit der Hand sein Revers aus und brüllte wie Faust in Auerbachs Keller: Den Käse! Den Käse! Und Wein!, und alle wussten, Käse bedeutete Fett, Brot und guten Wein, und mit einem Schlag waren alle wieder hellwach und riefen im Chor: Den Käse, den Käse! Und Wein, Wein!

Es gab Käse aus ganz Frankreich, Käse aus Frankreich einschließlich der Schweiz und Italien, Käse aus Frankreich einschließlich England und Holland, La Grande France, und dazu Käse, die so französisch waren wie der Handkäse mit Kümmel aus Frankfurt am Main, der ehrwürdige alte Gouda, der geräucherte Schafskäse Idiazabal, der kräftige Cheddar aus Somerset. Kaum ertönte Poiraudeaus Ruf, brachten die Lehrlinge auf riesigen, mit frischem Weinlaub und Frühlingsblumen dekorierten Basttabletts Dutzende von Käsen in allen Formen: Spaten, Würfel, Herzen, Kegel, Kegelabschnitte, kleine Pyramiden, Scheiben, halbierte Scheiben, geviertelte Scheiben, Zylinder, Zylinderabschnitte; Käse in allen Farben, weiße, cremefarbene, grünliche, gelbe, goldfarbene, blaue, die innen grau waren, in Asche gewendete, braune, orangerote und sogar einen rauchschwarzen und einen unnachahmlich ziegelroten; Käse jedweder Beschaffenheit waren vertreten: solche, die hart waren wie das Herz einer Eiche, Comtés, deren reife Laibe aus dem Jura hergerollt worden waren, feste Têtes de Moines, mit denen man die Ungläubigen hätte erschlagen können; die weichsten Käse dehnten sich aus wie die Bäuche von Paschas auf den Kissen im Serail und schmolzen mit der Zeit auch ohne Wärmezufuhr: die überreifen, aus Rohmilch hergestellten Camemberts, die träge zerfließenden Vacherins; die furchterregend stinkenden Époisses kamen in Wellen aus ihren gewaschenen Krusten gekrochen wie Reblochons; die Fourmes d’Ambert und Fourmes de Montbrison schwitzten wie riesige Dynamitstangen; die Roqueforts dufteten nach Schaf und Schimmel, mit einem Wort, nach dem Aveyron; um in die Nasen zu gelangen, kämpften die Münster gegen die Maroilles, die kleinen Ziegenkäse wurden vor Bescheidenheit blass und blässer – dennoch waren sie die Könige der Käseplatten, wie die in ihr Maronenblatt gewickelten Mothais, die cremigen Chabichous, die Sainte-Maures auf ihrem Haferstroh, die Selles-sur-Cher mit dem Haselnussgeschmack und all die namenlosen, durchgereiften, frischen, weißen, cremigen, in Asche gewendeten Chèvres.

Das Brot war sorgfältig ausgesucht worden – es musste ein etwas dunkleres Hefebrot von einer alten, leicht säuerlichen Weizensorte sein, mit fester, aber nicht allzu harter Krume, elastisch und zart schmelzend, mit kreuzweise eingeschnittener, harter, gut gebräunter und stellenweise fast schwarzer Kruste, die nach Feuer duftete, nach Kohle, nach starker Oberhitze. Das Brot wurde in runden Laiben zu vier oder fünf Pfund herumgereicht, man klemmte es an die linke Schulter, um sich mit der rechten Hand eine Scheibe abzuschneiden – niemand schlief noch, die Melancholie hatte keinen Platz mehr, der Käse war da!

Die Totengräber hatten wieder zu singen begonnen, diesmal verlegten sie sich auf geistliche Lieder und Antiphone, das Magnifikat zu Ehren der Fermentation, des Sauermilchquarks, des Labs, das man aus Kuhmägen gewann, Ehre den Wiederkäuern, hoch sollen sie leben! Ehre der Ziege, Ehre dem Schaf! Ehre den Bakterien, hoch lebe Gevatterin Tod! Und die Flaschen kreisten! Weißwein, Unglückseliger! Weißwein für den Käse! Weißweine jedweder Provenienz! Verschiedene Pouillys, Sancerres, Chablis, rund und weich wie das Jesuskind, oh! Haltet euch fest! Farbe zu Farbe! Einen Crozes Blanc zum Comté! Marsanne und Roussanne zum Beaufort Chalet d’Alpage! Ehre der Kuh, Ehre dem Schaf!

Weißwein, aber nicht nur! Probier mal, was dieser herrliche Portwein beim Roquefort und dem alten Schafskäse aus den Pyrenäen bewirkt …, sagte einer. Gütiger Gott! Das haut mich glatt um! Das Salz im Zucker, das Geistige im Stofflichen, engelsgleich!

Bittebière drehte den Käsehobel wie verrückt über einem Tête de Moine, er schnitt damit lange, sich kräuselnde Blumen der Vergebung, ausgefranste Bänder, um die Huris im Paradies zu bekleiden, er sperrte den Mund weit auf und kaute vorsichtig diese Blüten, denen er einen guten Schluck Meursault hinterherschickte, ohne mit der rechten Hand den Käsehobel loszulassen, weil er befürchtete, dieser könnte ihm gewaltsam oder mit List entrissen werden, und er hörte nicht auf, ihn zu drehen, bis die Flasche Meursault leer und sein Brotstück gegessen war. Er zögerte, ob er eine weitere Flasche öffnen und sich noch eine Brotscheibe abschneiden sollte, aber man soll es ja nicht übertreiben. Besser, man kostete die Vielfalt der Gaumenfreuden aus und probierte noch einen anderen Käse wie Grosmollard, der sich selbst für seine gute Rede mit einer Ecke Arôme de Lyon (seiner Meinung nach der beste Käse der Welt, aus Kuhmilch und bei der Reifung mit Tresterschnaps bedeckt) und einem Schluck Saint-Joseph-Weißwein belohnte. Bittebière machte es ihm nach, und die Kombination war tatsächlich imstande, die heilige Blandina, die Lyoner Stadtpatronin, zum Teufel zu jagen. Ein wahrer Funkenregen der Glückseligkeit. Selbst der Lothringer Sèchepine hätte für diesen Ârome und diesen Saint-Joseph fast auf den Tome Welsche aus der Abbaye de Vergaville und einen weißen Moselwein verzichtet, Gott möge ihm verzeihen.

Auf dem Bankett der Totengräber gab es neunundneunzig verschiedene Käsesorten, und diese Käse taugten mehr als sämtliche Reden: Was bedeutete, dass während dieses Käse-Ganges nicht gesprochen wurde, dass Redner und Erzähler (beschwingt, gestärkt von dieser obligatorischen Pause) an ihren Waffen feilten, denn um zu glänzen, gab es nur noch den Nachtisch – das Dessert war traditionellerweise der Zeitpunkt, um über die Liebe zu sprechen, und das im Allgemeinen auf recht scherzhafte Weise, was sich aus der Natur des Desserts selbst ergab, das hohl und mit weicher Masse gefüllt war wie jedermanns Kopf.

Die Zeit der Käseplatten lief ab; die Käsebegeisterung ließ nach. Inzwischen waren die dunkelsten Stunden der Nacht angebrochen. Nur die Abstinenzler unter den Totengräbern waren noch nicht betrunken. Die goldgeschmückten Würdenträger, Großmeister Séchepine, Kammerherr Bittebière und Schatzmeister Grosmollard, die bei diesem Bankett zum letzten Mal in dieser Funktion tätig waren, weil ihre Vorstandstätigkeit im kommenden Jahr zu Ende ging, zeigten sich ihrer Ämter würdig – keiner sollte aufrecht vom Bankett weggehen. Sogar der Lyoneser war ein wenig angegriffen, nachdem er beim Käse wieder auf Rhone-Weine gestoßen war. Er hatte einen sitzen – einen kleinen. Zum Glück kam noch der Nachtisch, um sich zu erholen.

Es war am Gastgeber, noch einmal das Wort an die Tischgesellschaft zu richten, bevor die »Farandole, Barkarole und sogar Girandole der Törtchen, Plätzchen und sonstiger Leckereien« einsetzte.

Doch Martial Pouvreau fragte sich, ob er nicht lieber explodieren statt parlieren, wegnicken statt anecken sollte.

Er war pappsatt, brachte nichts mehr hinunter.

Erschlafft lag er mit dem Bauch auf dem Tisch, die Wange auf dem Tischtuch, und um seinen weit offenen Mund breitete sich eine gallige Speichelaureole aus; er schlief nicht, dachte er, er atmete. Ab und an muss man atmen. Er betrachtete aus nächster Nähe sein randvoll mit einem etwas hellen Rotwein gefülltes Glas, in das die Glut ihr Licht streute, so dass die rote Färbung orangefarben schillerte, eine Erdbeere in der Augustsonne, und dieser von Flammen durchbohrte Granat, der fast keine Tiefe hatte und dessen Leichtigkeit man von Weitem ahnte, erinnerte an einen Pinot Noir, an einen dieser Rotburgunder, die in den atlantischen Breiten so selten sind und die man sofort erkennt. Dreißig Zentimeter vom Weinkelch entfernt begann Pouvreau, mit weit aufgerissenem Mund die Wirkung dieses Grals zu spüren, ohne dass er dazu die Lippen ansetzen musste. Welcher gute Samariter hatte ihm dieses Wunder eingeschenkt, dessen schöne Robe das samtige Bukett einer Rosenblüte verhieß, ein Gefühl wie neugeboren, einen Zaubertrank, in dem das Geißblatt gegen die Brombeere ankämpfte oder sich die Walderdbeere mit der Johannisbeere verbündete? Die kurzen, sehr geschmeidigen Tannine würden den Geschmack abrunden, dachte Pouvreau, und je länger er das Glas betrachtete, umso mehr verlor sich sein Blick in dem farbigen Trunk wie in einem Kaleidoskop mit Perlmuttsplittern in sämtlichen Rottönen und umso mehr kam er zu sich; obwohl es Kraft kostete, schaffte er es, den Mund zu schließen und seinen Geist auf die Wahrnehmung dessen auszurichten, was um ihn herum geschah; mühselig raffte sich sein Verstand auf, erwachte aus der Betäubung. Noch immer mit der Wange auf dem Tischtuch gelang es ihm, seine Hand verzweifelt tastend dem Glas zu nähern, es zu sich zu ziehen, ohne von dem Nektar zu verschütten; als das Ballonglas, dessen Stiel er direkt vor seinem hochroten Zinken fest in der Hand hielt, sein Gesicht berührte, das noch immer halb eingedrückt auf dem Tisch lag, neigte er es ein wenig zu sich – etwas Wein floss am Glas hinab, und Pouvreau streckte die Zunge heraus, um das Bächlein aufzufangen, oh, welch himmlische Wonne, als hätte Bacchus es sich ausgedacht, er neigte das Ballonglas ein wenig mehr, der Wein floss in sein Auge, strömte am Nasenflügel entlang und wurde vom Schnauzbart gebremst, bevor er in den Mund rann, den Pouvreau furchtbar verzog, um die dem Kelch entkommene Flüssigkeit mit einem schrecklich lauten Schlürfen einzufangen. Der Fleck auf dem Damasttischtuch war nun kein Speichel mehr, oh, Wein von seltner Kraft! Fast hast du Martial Pouvreau zu neuem Leben erweckt.

Zuerst schaffte er es, den Kopf zu heben, dann sich zu schütteln, indem er den Kopf sehr schnell von rechts nach links warf, wobei er seine Tischnachbarn mit den Tropfen bespritzte, die vom Nuit-Saint-George in seinem Bart hängen geblieben waren, und sie quasi mit dem Weihwasserwedel ebenfalls zu neuem Leben erweckte. Dann leerte er sein Glas in einem Zug, dem ein langes Gurgeln folgte, und als er sich wieder besser fühlte, die Sinne wieder beieinanderhatte, ergriff er das Wort, ohne sich daran zu stören, dass er betrunken lallte, stotterte und seine Stimme wie aus dem Jenseits klang:

»Verehrte Freunde! Meine lieben Totenpfleger! Erlaubt mir, euch für euer Kommen zu danken. Bald lassen wir die Nachspeisen bringen. Doch zuvor wollen wir anstoßen! Lasst uns anstoßen! Heben wir das Glas auf Gevatterin Tod, die heilige Hure, die Herzensdame eines jeden von uns!«

»Auf Gevatterin Tod, unsre einzige Geliebte!«

Die Totenpfleger erhoben das Glas, zumindest diejenigen, die noch dazu imstande waren, die der Käse nicht erledigt hatte: Noch stieg kein gewaltiges, einstimmiges und zufriedenes Schnarchen vom Bankett auf. Einige warteten auf die Nachspeisen und das Ritual, erst danach würden sie die Besinnung verlieren. Andere schliefen seit den Fleischspießen und erwachten langsam aus dem Schlaf, gesund und munter wie ein Fisch im Wasser, fast jedenfalls.

Nachdem er bei seinem Toast festgestellt hatte, dass die Bruderschaft wach war, schaute sich Pouvreau nach einem Redner um, dem er vor den Desserts das Wort erteilen konnte, und bemerkte, dass Couilleroy noch gut beieinander war. Couilleroy war ein Totengräber aus Talmont-sur-Gironde, eine schaurige Visage, pockennarbig, mit plattgedrücktem Zinken, von roten Äderchen durchzogene Bäckchen; er kompensierte seine außergewöhnliche Hässlichkeit mit einer unerhörten Herzensgüte: Alle mochten Couilleroy. Alle hatten eine Vorahnung, dass Couilleroy im nächsten Jahr, wenn die Vorstandswahlen anstanden, zum Kammerherrn gewählt werden könnte; oder Sèchepine würde Kammerherr und Couilleroy Großmeister in einem Arrangement, das zugegeben eines Putins würdig, aber mit den Statuten der Bruderschaft noch vereinbar war, die Sèchepine und Couilleroy genau kannten. Im Augenblick machte es Couilleroy wie Martial Pouvreau, er kippte sich einen hinter die Binde, während er auf die Nachspeisen wartete. Ihn also wählte Pouvreau aus.

 

REDE VON COUILLEROY:

DIE REISE DES JAUFRÉ RUDEL

UND DIE GESCHICHTE VON DER GRÜNDUNG

DER TOTENGRÄBER-BRUDERSCHAFT

 

»Kammerherr, Großmeister, Schatzmeister, Totenpfleger, Bestatter, ich möchte noch eine Geschichte vortragen, bevor wir uns wieder unseren traurigen Obliegenheiten zuwenden, bevor Gevatterin Tod wieder in ihre Rechte tritt. Ihr alle kennt die Festung von Blaye am großartigen Ästuar der Gironde, Blaye mit seinen edlen Rebstöcken, Blaye, die Stadt des in der Schlacht von Roncevaux getöteten Roland und seines Schwerts Durandal, das zerbrochen an seiner Seite lag – Blaye war auch das Lehen von Jaufré Rudel, wie ihr wisst, dem schönsten aller Troubadoure und dem edelsten Fürsten Aquitaniens; Jaufré liebte, liebte aus der Ferne, liebte die Liebe, den Frühling und den Gesang der Nachtigall:

 

Quan lo rius de la fontana

S’esclarzis, si cum far sol,

E par la flors aiglentina,

E’l rossinholetz el ram

Volf e refranh ez aplana

Son dous chantar e l’afina,

Be’ys dregz q’ieu lo mieu refranha.

 

Wenn wieder rinnt und rieselt die Quelle

So klar ans Licht, wie stets sie tut,

Wenn dann die Heckenrose glüht,

Im Laube singt die Nachtigall,

Es schwimmt ihr Lied auf Windes Welle,

Der süße Sang, den sie versprüht,

Er ruft mir zu, ihm nachzuweinen.

 

Natürlich kannten die Totengräber alle Jaufré Rudel, und der Einladung, die lieblichen Lieder des Fürsten von Blaye zu singen, konnte keiner widerstehen: Während die Kellner mit Blick auf die Nachspeise den Tisch von den Essensresten leer räumten, die noch auf ihm herumlagen, und dabei die Kerzen und die Kandelaber zum letzten Ritual anzündeten, begannen die Totengräber Quan lo rius de la fontana zu trällern, dieses verlockende Lied über den Frühling und die Liebe.

»Jaufré Rudel war verliebt – ihm hatte es eine Dame angetan, die er noch nie gesehen hatte, doch diese Dame war so schön, von so edlem Geblüt und so treu, dass ihr Name über die Meere hallte und Jaufré zu Ohren kam – die Dame lebte im Heiligen Land und war eine Gräfin, die Gräfin von Tripolis. Jaufré Rudel hatte die Pilger, die aus Jerusalem zurückgekehrt waren und in seinem Schloss beherbergt wurden, von ihr sprechen hören; sie hatten ihm von Antiochia erzählt, ihm die Grafschaft Tripolis und ihre Gräfin, ihr Gesicht und ihre Seele beschrieben – und beide, ihr Gesicht und ihre Seele, waren so schön, und die Lieder, die die Pilger gesungen hatten, so bewegend, dass Rudel, der Dichter und Herr von Blaye, sich hoffnungslos in sie verliebte und von seiner Liebe sang:

 

Amors de terra lonhdana,

Per vos totz lo cors mi dol;

E non puosc trobar meizina,

Si non au vostre reclam

Ab atraich d’amor doussana

Dinz vergier o sotz cortina

Ab desirada companha.

 

Die Liebe winkt aus ferner Zelle,

Mir trinkt der Schmerz vom warmen Blut,

Kein Heilkraut kann ich finden,

Nur ihres Namens Widerhall,

Für süßer Liebe wunde Stelle,

Im Garten oder in den Spinden,

Für meine Sehnsucht nach der Einen.

 

Er sang von seiner Liebe, bis er es nicht mehr aushielt und den Entschluss fasste, ins Heilige Land aufzubrechen, er musste seine Gräfin finden – in Gesellschaft von edlen Herren, Hug de Lusignan und Taillefer Graf von Angoulême, reiste er über Land bis nach Sizilien und überquerte von dort das Meer, um nach Tripolis zu gelangen.«

Die Totengräber lauschten aufmerksam der Geschichte von Couilleroy, während sie auf den Nachtisch warteten, es konnte nicht mehr lange dauern. Der riesige Tisch leerte sich nach und nach; man hatte die Gläser ausgetauscht (Gelegenheit, die letzten Tropfen auszulecken, wie ein Husar ein Mädchen küsst) und durch kleine, durchsichtige Phiolen ersetzt, die bei der Bruderschaft als Likör- oder Schnapsgläser dienten, sieben Zentimeter hoch mit einem schmalen, fünf Zentimeter langen Hals, der in eine daumengroße Öffnung mündete. In die prallen Bäuche der Phiolen passte einiges hinein.

Die Gehilfen begannen, das traditionelle Dessert aufzutragen, seit der Gründung der Totengräber-Bruderschaft waren das Jahr für Jahr die Sahnewindbeutel, dieses Wunder der Pâtisserie, bei dem sich in der Masse aus Mehl, Butter, Wasser und Eiern im Ofen ein für den Bäcker unsichtbarer, magischer Hohlraum bildete, der dann mit leicht gezuckerter Schlagsahne gefüllt werden konnte, geschlagen aus dem Rahm des Frühlings, aus der unvergleichlichen Milch der schwarz-weißen Kühe von den Weiden des Marais, und natürlich lief den Totengräbern das Wasser im Mund zusammen, während sie weiter der altbekannten Geschichte von Couilleroy lauschten und vor ihnen regelmäßige Pyramiden aus perfekten Windbeuteln auf den Tischen errichtet wurden, die weder zu groß noch zu klein waren, Sahnewindbeutel in allen Variationen, frittierte Nonnenfürzchen, mit Zucker bestäubt und mit ein wenig Anis leicht aromatisiert, Éclairs mit Schoko- oder Kaffeefüllung, dann die sogenannten Religieuses, bei denen zwei Windbeutel wie bei einem Schneemann aufeinandergesetzt werden, und sogar die teuflischen Profiteroles, die nichts anderes sind als kleine, mit Vanillecreme gefüllte Windbeutel unter einem Klecks geschmolzener Bitterschokolade. Die Totengräber hatten ihren eigenen Ehrenkodex, die Bruderschaft war auch eine Bruderschaft der Redlichkeit, man hatte die Dinge beim Namen zu nennen – und sie waren einander treu, sie hatten ein ausgesprochenes Pflichtgefühl; daher lauschten sie Couilleroy mit einer Mischung aus Ungeduld und Interesse.

»Nach dieser sehr langen Reise, dem Kampf mit der tosenden See und Aufenthalten an gefährlichen Gestaden gelangte Jaufré Rudel, geschwächt von einer Krankheit, die er sich an Bord zugezogen hatte, ins Heilige Land. Der liebende Troubadour ist auch ein edler Krieger. Trotz seiner Schwäche beteiligt er sich an einer Schlacht gegen die Ungläubigen, die Tripoli bedrohen. Zusammen mit anderen mutigen Baronen belagert er die Stadt Damaskus. Dort entstehen mehrere seiner Lieder – nie zuvor war er seiner Geliebten, der schönen Gräfin von Tripoli, so nahe und doch zugleich so fern. Jaufré wird immer kränker, er spürt, dass seine Kräfte schwinden; er will endlich seine Geliebte sehen. Nachdem die Belagerung aufgehoben ist, begibt er sich nach Tripoli; die Stadt ist schön, ihre hohen Mauern umschließen ein uneinnehmbares Schloss auf einem Berg, der fast eine Meile vom Meer und vom Hafen entfernt liegt. Auf den Hügeln ringsum stehen überall Olivenbäume und die Bäume mit den goldglühenden, bitteren Äpfeln, die man Orangen nennt.

Als Jaufré Rudel, gestützt auf seine Paladine, in Tripoli ankommt, kämpft er bereits mit dem Tod. Einer der Barone meldet der Burg: Wisset, Gräfin, dass Jaufré Rudel, Fürst von Blaye, der Euch liebt, nicht sterben will, ohne Euch gesehen zu haben. Die Gräfin lässt Jaufré in ihre Gemächer bringen; sie schließt ihn in ihre Arme und beklagt ihn, er kommt zu Bewusstsein, sieht sie, hört sie, atmet ihren Duft ein, berührt sie – er dankt Gott dafür, dass er ihn lange genug am Leben erhalten hat, um seine Geliebte zu sehen, und stirbt in ihren Armen.«

Die Totengräber kannten die Geschichte in- und auswendig, und dennoch konnten sie nicht verhindern, dass ihnen im Andenken an Jaufré Rudel und seine traurige ferne Liebe, Müdigkeit und Alkohol taten das ihre dazu, Tränen in die Augen traten, während im Osten über dem Marais, hinter der großen Ruine der Kathedrale Saint-Pierre de Maillezais, das erste Grau des anbrechenden Morgens die Nacht aufzuhellen begann und die Totenpfleger spürten, dass das Bankett langsam seinem Ende zuging wie Jaufré Rudel und dass auch sie, bevor das Ende der Freuden nahte, wieder ihrer schwarzen Gräfin begegnen würden. Im Angedenken an Jaufré Rudel und seine traurige ferne Liebe konnten die Totengräber den ein oder anderen Schluchzer nicht unterdrücken, und um sich zu trösten, streckten sie die Arme nach den Windbeuteln aus; sie bissen hinein, der Teigmantel platzte, wie es sich bei Windbeuteln gehört, und die leichte weiße Sahnefüllung quoll hervor, floss in den Mund und füllte ihn mit Glück: Da weinten die Bestatter etwas weniger, diese Mädchen, die immer schnell eine Träne vergossen! Doch Couilleroy de l’Estuaire fuhr fort:

»Die Gräfin war so traurig über den Tod Jaufré Rudels, dass sie anordnete, er möge mit allen Ehren auf dem Mons Pereginus in St. Johannis der Täufer, dem Gotteshaus von Tripoli, beigesetzt werden, als wäre er für einen Augenblick ihr Gatte gewesen. Die schöne Gräfin aber heiratete den Herrn und trat in ein Kloster ein, um keinen anderen Gatten als ihn zu haben.«

Kaum hatte er diesen Satz zu Ende gesprochen, heulten die Totengräber wie Schlosshunde. Ach, wie gerne hätten sie Jaufré Rudel selbst zu Grabe getragen! Dabei hätte nicht viel dazu gefehlt! Die Bruderschaft der Totengräber war von Saladin nach der Einnahme von Jerusalem gegründet worden, damit Christen, Juden und Muslime gleichermaßen bestattet würden, und Richard Löwenherz hatte sie nach der Schlacht um Jaffa bestätigt, als die Bruderschaft Ritter und Sarazenen unterschiedslos begrub – der gute König Richard, Herr der Grafschaft Poitou und König von England, und Pouvreau und Poiraudeau, deren Stammväter seine Untertanen gewesen waren, gedachten wie die anwesenden normannischen Totengräber einen Moment lang des Sohnes von Eleonore von Aquitanien und Heinrichs II., des Königs und Dichters, der Saladin besiegt hatte. Und während die Bruderschaft sich die Tränen erneut mit Windbeuteln trocknete, trug Poiraudeau abschließend Verse des guten Königs Richard aus der Zeit seiner Gefangenschaft bei den Deutschen vor:

 

Or sapchon ben miey hom e miey baron,

Angles, norman, peytavin e gascon,

Qu’ieu non ay ja si paure compagnon

Qu’ieu laissasse, per aver, en preison.

Non ho dic mia per nulla retraison,

Mas anquar soi ie pres.

Car sai eu ben per ver certament

Qu’hom mort ni pres n’a amic ni parent;

E si’m laissan per aur ni per argent

Mal m’es per mi, mas pieg m’es per ma gent,

Qu’apres ma mort n’auran reprochament

Si sai mi laisson pres.

 

Nun ist es meinen Mannen doch bekannt,

In Normandie, Poitou und Engelland,

So armen Kriegsmann hab ich nicht im Land,

Den ich im Kerker ließ um solchen Tand.

Nicht hab ich dies zu ihrem Schimpf bekannt,

Doch bin ich noch in Haft.

Wohl ist es mir gewiss zu dieser Zeit:

Todt und gefangen thut man niemand leid.

Und werd ich ob des Goldes nicht befreit,

Ist mir’s um mich, mehr um mein Volk noch leid.

Dem man nach meinem Tod es nicht verzeiht

Wenn ich hier bleib in Haft.

 

Es war Couilleroy selbst, der den ersten Windbeutel warf. Der Windbeutel war klein, eher ein Windbeutelchen; geladen mit Vanillecreme, zerplatzte er an Poiraudeaus rechter Schläfe und spritzte das Gesicht des Totengräbers und die Schulter seines Tischnachbarn zur Linken voll. Poiraudeau lächelte, verschlang gierig die Überbleibsel des Gebäcks und nutzte das Ablenkungsmanöver, um hinterhältig den Kopf seines rechten Tischnachbarn in einen riesigen Sahnewindbeutel zu drücken, zu dem dieser sich unvorsichtigerweise gerade hinabbeugen wollte, um hineinzubeißen: Mit sahneweißem Weihnachtsmannbart, Sahne in Augen und Nasenlöchern richtete er sich wieder auf; Sèchepine hatte unterdessen vergnügt einen Windbeutel mitten auf Grosmollards nacktem Schädel zerdrückt, dem es nicht gelungen war, diesem rituellen Angriff auszuweichen, und der nicht wusste, ob er darüber lachen oder weinen sollte. Martial Pouvreau, der Gastgeber des Banketts, wurde zur Zielscheibe zahlreicher Angriffe mit Windbeuteln und Nonnenfürzchen, und da er nicht mehr in der Verfassung war, auszuweichen, klatschte sogar eine riesige Religieuse auf seinen roten Zinken und zerstob in tausend schokoladenschwarze Meteore, die auf den Gesichtern rings um ihn einschlugen. Alle ließen sich Zeit, leckten und schleckten sich sauber und futterten und futterten diese himmlischen Nachspeisen, als käme danach nichts mehr, und tatsächlich ging das Bankett seinem Ende zu. Ein Kellner, der eine Windbeutelpyramide hereintrug, rutschte auf einem Liebesknochen aus (wenn ihm nicht gar jemand ein Bein stellte) und schleuderte, bevor er zu Boden ging, unabsichtlich die ganze Ladung hinter sich in die Luft – und entgegen der Regel, dass man keinen angreift, der zu Boden gegangen ist, hagelte es Windbeutel auf den Ärmsten, bis er, in einer Sahne- und Teigorgie untergegangen, um Gnade bat; alle lachten und stopften sich voll und rutschten aus und lachten wieder, bekleckerten sich mit geschmolzener Schokolade, Schlagsahne, Vanillecreme. Die Kurzsichtigen sahen nichts mehr und schossen blind mit den Leckereien um sich; die Katzen jaulten und putzten sich die Bärte, wenn ein Geschoss sie traf; die Hunde verstanden die Welt nicht mehr und bellten, so viel sie konnten, bevor sie die Windbeutel schluckten, nach denen sie mit weit geöffnetem Maul schnappten; die beschwipsten Schmalzschmelzer, die neben dem Kamin geschlummert hatten, waren mit großen Sahnebomben geweckt worden und kamen wieder zu sich – wer gerade nicht stand, um zu werfen, war in Deckung gegangen, und so dauerte die Zuckerschlacht, bis die Munition ausging und alle Krämpfe in den Bauch- und Lachmuskeln hatten, Allmächtiger!, was für ein ungeheures Gelächter, erst allmählich beruhigte man sich wieder: Man putzte seine Brillen, wischte die rituellen Phiolen blank, machte sich wieder hübsch und hob die Beine, als die Lehrlinge eimerweise heißes Wasser über den Boden schütteten, um den Dreck wegzuspülen; man war Sèchepine dabei behilflich, sein Großmeistergewand zu ordnen, man half Bittebière in seinen Kammerherrnrock und Grosmollard in seine Schatzmeistertoga. Im Morgengrauen, das hinter der Kathedrale heraufzog, ließen sich allmählich die weißen von den schwarzen Fäden unterscheiden, und die Bestatter wussten, dass das Bankett im eigentlichen Sinn mit dem Ritual beendet sein würde, mochten auch einige aus Spaß den ganzen nächsten Tag weiterschlemmen, um die Reste wegzuputzen, wie es heißt, und obgleich man danach, um die Totengräber aufzupäppeln und ihre Därme durchzuspülen, eine gratinierte Zwiebelsuppe servieren würde, das Mahl der Liebe und der Morgenröte par excellence, gefolgt von einem Dutzend frisch geöffneter großer, fester Marennes-Austern gegen den Kater, trotz dieses Frühstücks, das sozusagen die Verlängerung des Banketts war, bildete den eigentlichen Schlussakt das Ritual, dessen Durchführung Großmeister Sèchepine bereits vorbereitete – nicht ohne vor seinem inneren Auge noch einmal die Liste der Speisen durchzugehen, die er bis dahin verzehrt hatte: »Schauen wir mal … ich habe eine winzige Scheibe Weißbrot mit Rillettes au Vouvray gegessen, kommt mir vor, als wäre es schon ewig her, ebenso wie das lächerlich kleine Stück Entenpastete mit ein paar Cornichons als Gegenpol zum zuvor Verspeisten; ein gefülltes Ei, kaum zwei Hälften, weil Petersilie bei der Verdauung hilft, dann zwei Käsekrapfen, nichts als Luft, ein paar Froschschenkel, da weiß man ja, dass sie winzig sind; Schnecken, die es wirklich wert waren; ein Häppchen Königinpastete mit Kalbsbries, zweifellos das feinste und überhaupt das schmackhafteste Gericht der Welt; eine Tasse Rinderbrühe, in der grobe, ziemlich harte Croûtons schwammen, die mit einem dünnen Scheibchen Gänseleber belegt waren; ein pochiertes Ei in sämiger Rotweinsauce mit roten Zwiebeln, nur um des Vergnügens willen, eins der mit frischem Thymian gebackenen Grissini ins herrlich flüssige Eigelb zu tunken; eine Blätterteigpastete mit Krebsen, bei der die Krebse das Vergnügen hatten, in einer Cremesuppe von Süßwasserfischen und Weißwein zu schwimmen, sechs heiße Austern à la Alexandre Dumas, zubereitet nach dem Rezept des großen Mannes, also aus der Schale geholt, mit Parmesan und Petersilie bestreut, in reichlich Champagner gebadet und dann auf den Grill gelegt; neun Langustenschwänze aus dem Frischwasserbecken von Croix-de-Vie, dummerweise in Meerwasser gekocht, eingelegt in einer ganz simplen Mayonnaise, die mit nur wenigen Tropfen Zitrone und einem Fingerbreit nicht zu bitterem Olivenöl abgeschmeckt war; panierte Krebsscheren, kurz vor dem Verzehr frittiert, die man in dieselbe, mit ein paar Prisen Estragon, Kerbel und Schnittlauch verfeinerte Mayonnaise tunkte; vier Scheiben Aal, gefüllt mit dem restlichen Krebsfleisch, in einer Sauce hollandaise, die grundlos, nur der Farbe wegen, mit Tomatenmark eingefärbt war; zwei Portionen Lampreten-Ragout à la Nantaise, à la Rochelaise oder à la Bordelaise, ein ekelhafter, in schwerem Rotwein, mit Speck und im eigenen Blut geschmorter Fisch; ein halbes Karpfenfilet in Aspik nach jüdischer Art, dazu Karotten und Gemüse-Allerlei im vergeblichen Versuch, den Schlammgeschmack des Karpfens zu überdecken; ein Schnapsglas fünfundfünfzigprozentiges Zwetschgenwasser zum Trou, danach ein Schälchen Coquillettes mit Comté und Trüffel, um den Trou wieder zu schließen; ein Gläschen fünfundfünfzigprozentigen Engelwurz, um den Trou wieder zu öffnen und einen großen Löffel Coquilles hinterherzuschicken, damit der scheußliche Arzneigeschmack nicht haften blieb und der Trou endgültig geschlossen werden konnte; eine Scheibe sanft im Kamin gebratenes Spanferkel, zart und saftig wie die Schokoladensauce, mit der es glasiert war; einen exquisit mit Tomme de Maillezais überbackenen Kürbisauflauf; eine würzig duftende Hasenkeule, ausschließlich über der Glut von Rebstöcken gegart, begleitet von Sauerampfersauce mit Knoblauch und Pilzen, einer säuerlichen Belanglosigkeit; einen Anschnitt von der Lammkeule mit ein paar Mogettes, den weißen Bohnen aus dem Marais, mit Bauchspeck im Kessel über der Glut gekocht; ein winziges Stück Kalbsfilet in Salzkruste, mit Wasser benetzt und direkt in die Flammen geworfen, für das manch einer seine Seele dem Teufel verkauft hat; ein paar mit dem Schinkenmesser heruntergeschnittene Scheiben von der entbeinten, mit Kräutern gefüllten und zusammengenähten Kalbskeule; grünen Spargel, Erbsen, junge Karotten, Frühlingszwiebeln, grünen Knoblauch, alles begleitet von einer nach Art der Sauce béarnaise gekochten Kräutermayonnaise ohne Essig; eine Ecke Chaource, eine Schnitte Beaufort d’été von der Sommerweide, hergestellt auf der Alm, eine echte Rarität, ein Scheibchen Fourme de Montbrison, einzigartig in seiner Zartheit, einige sich kräuselnde Blätter Tête du Moine zur Begleitung des Meursault Blanc, denn schließlich bin ich ja der Großmeister; einen Happen Arôme de Lyon, um Grosmollard einen Gefallen zu tun und diesen weißen Saint-Joseph zu probieren, der absolut sensationell ist, ein Stück Chabichou du Poitou im genau richtigen Reifegrad, kein bisschen kreidig, um den göttlichen Sancerre auszutrinken, eine Scheibe Brot, die zuletzt das Beste ist, aus selbst angesetztem Sauerteig wie früher, mit einem prächtigen Mehl ohne jede Beimischung, steingemahlen in einer Wassermühle am Fluss, mit Quellwasser geknetet und gebacken in einem Holzofen, der ausschließlich mit Eschenholz aus dem Marais geschürt wird, ein Glas Chinon, damit alles besser rutscht, was mich daran erinnert, dass ich beim Essen auch kräftig Chenin, viel Gamay aus dem Anjou und aus der Touraine getrunken habe, dazu einige Becher Mareuil gegen den Durst, und schließlich kamen die Nachspeisen, einen Sahnewindbeutel habe ich verspeist, den nächsten auf Grosmollards Glatzkopf zertrümmert, dann eine kleine Religieuse, ein paar Profiteroles, Volltreffer mitten in meinem Gesicht, köstlich, und noch ein oder zwei Éclairs mit Kaffeefüllung, das war’s, jetzt endet das alles; zum Ritual werden noch ein, zwei Gläschen Schnaps, Weinbrand, folgen, dann eine mit Comté überbackene Zwiebelsuppe mit krossen Croûtons, ein Dutzend Marennes-Austern, Speciales de Claire Kaliber zwei, sehr fleischig, dazu ein Muscadet sur lie mit deutlichem Hefegeschmack, anschließend werde ich einige Stunden schlafen können, bevor ich – endlich – wieder nach Lothringen heimkehre. Denn in diesem Poitou fehlt es an Bergen und geräucherten Haxen.

Doch jetzt, auf zum Ritual.«

 

LETZTES RITUAL:

FRÖHLICHES TRINKEN UND WARTEN AUF DEN TOD

 

Als Erster sprach also der Großmeister der Bruderschaft, der Lothringer Sèchepine, ein stolzer Schlittenfahrer, der die Tannen auf Hornschlitten von den Bergen ins Tal brachte, in der allgemeinen Stille feierlich und deutlich dieses einfache Wort, Sterben, hob seine merkwürdige, mit Weinbrand gefüllte Phiole und leerte sie, ohne zu zittern, in einem Zug; sein Tischnachbar schloss sich mit ableben an und trank ebenfalls, der Nächste murmelte vergehen und trank, der Übernächste dahinscheiden, sein Tischnachbar zur Rechten sagte entschlafen, der Nächste das Zeitliche segnen, der Bruder nach ihm das Leben aushauchen, der daneben den letzten Atemzug tun, jeder leerte der Reihe nach seine Phiole, abkratzen, umkommen, erlöschen, einer nach dem anderen fügten die Totenpfleger mit ernster Stimme ein Verb oder eine Redensart hinzu, den Tod finden, und kippten einen Schnaps hinterher, entschwinden, der Nächste, abdanken, und so ging es reihum rechtsherum weiter – kein Uneingeweihter hatte je diesem geheimen Ritual beigewohnt, dem tiefsten Geheimnis der Bruderschaft, verrecken, krepieren, es lief wie am Schnürchen, heimgehen, ohne Zögern, feierlich, den Löffel abgeben, dann hopsgehen, Poiraudeau fiel dran glauben müssen ein, Pouvreau seine Ruhe finden, einem anderen erliegen, dann kamen ad patres gehen und in die Ewigkeit abberufen werden, und jeder leerte sein Glas, wenn er an der Reihe war, einen der neunundneunzig Namen für Gevatterin Tod auszusprechen, seinen Geist aufgeben, die letzte Reise antreten oder in die Grube fahren, einfache Ausdrücke wie seine Tage beschließen, mit dem Leben bezahlen, das Leben verlieren, aus dem Leben scheiden, bildhaftere wie seine Seele aushauchen oder abgedroschene wie seinen letzten Seufzer tun, jeder Totengräber nannte einen und kippte dazu einen Schluck Weinbrand, die Augen schließen, den letzten Schlaf schlafen, von Gott abberufen werden, in Abrahams Schoß zurückkehren, aus der Umgangssprache draufgehen, über die Klinge springen, von der Bühne abtreten, über den Jordan gehen, für immer die Segel hissen, abnibbeln, den Schlussstrich ziehen oder das seltene den Schirm zuklappen, das natürliche von uns gehen, das einfache sein Lichtlein ausblasen, das optimistische die Reise in eine bessere Welt antreten, das realistische zu Staub werden, das militärische sich von der Verpflegung abmelden, das praktische seine Koffer packen, das elegante ins Grab sinken, das geläufige verstummen, das beschreibende mit den Füßen voran aus dem Haus getragen werden, und jedes Mitglied der Hochedlen Totengräber-Bruderschaft, deren Privileg bis zu den Kreuzzügen und der Einnahme Jerusalems durch Saladin zurückreichte, leerte ein Gläschen zum Zeichen seiner Betrübnis darüber, alles Elend der Welt, alle Trauer auf seinen Schultern tragen zu müssen, sie tranken und nannten reihum einen der Namen des Todes, einen Ausdruck, der Sterben bedeutet, den hölzernen Rock anziehen, in den letzten Zügen liegen, und so ging es weiter, Phiole für Phiole, Ausdruck für Ausdruck, ins Gras beißen, den Würmern zum Fraß dienen, die Radieschen von unten wachsen sehen, vom kühlen Rasen bedeckt werden, auf dem Feld der Ehre fallen, und sie nannten die Namen der Todesengel, Azrael, Samael, Thanatos, dann all die geheimen Vokabeln, die man nicht schreiben, ja nicht einmal lesen darf, ohne Gevatterin Tod herbeizurufen, ohne dass Sie leibhaftig erscheint mit dem wahren Namen des Todes, dem hundertsten, den keines Menschen Mund je ausgesprochen hat, denn seine Silben bleiben der Menschheit verborgen, bleiben uns ein Geheimnis, da wir die Einzigen sind, die sterben müssen.

Und man leerte ein letztes Glas, einfach so.

 

UNS TOTENGRÄBERN GEHT DIE ARBEIT NIEMALS AUS:

TOTE BESTATTEN IST UNSER GEBOT,

ZULETZT BEGRABEN WIR DEN TOD,

SCHLAGT SCHLOTTERMILCH AUS DEN EIERN HERAUS!