Esther weinte. Sie versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken.

Als sie sich sieben Jahre später, Ende November 1951, endlich stark genug fühlte, hinzureisen, eilte sie durch die Kirchen von Melle, durch Saint-Hilaire mit dem schönen Reiter, durch Saint-Pierre mit den zwei Chorkapellen und durch die bescheidene Saint-Savinien, betete reihum in jeder der drei, betete zu Christus, betete zur Jungfrau, betete zu den Heiligen, um ein Mittel gegen ihre Traurigkeit zu finden; sie war keine Christin, aber dass es dort diese Heiligen, diese Bilder, diese Berichte von Wundern gab, war ein kleiner Trost. Esther nahm die Straße Richtung Süden nach Tillou, wo die drei Kinder versteckt worden waren oder wo sie drei Kriegsjahre verbracht hatten. Die Namen der Dörfer waren seltsam und klangen bedrohlich: Paizay-le-Tort, Sompt, Gournay-Loizé. Die Landschaft schien plötzlich winterlich zu werden; auf kahle Felder folgten die entlaubten Kronen hoher Bäume. Der Bauernhof war eine ehemalige Mühle am Ufer eines Flusses, der Sompteuse hieß; ein Schuppen, ein eingezäuntes Stück Land, Enten; ein Mann empfing sie, ein Bärtiger mit blauen Augen; seine Frau war im Hof, saß da mit einer Ente auf den Knien – sie stopfte das Tier mithilfe eines Trichters, der im Hals des Geflügels steckte und mit einer endlos langen Schraube ausgestattet war; sie massierte den Hals der Ente, damit das Futter in den Magen rutschte, Esther wandte den Blick ab.

Der Mann sagte, sie hätten alles gelassen, wie es war. Er zeigte ihr einen Dachboden mit drei kleinen Betten, ihre Knie wurden weich, ihre Atmung stockte. Der Mann fing sie auf, als wäre sie ein zerbrechlicher Gegenstand, distanziert und mit Respekt; es kam ihr vor, als zitterten seine blauen Augen ein wenig, als würde eine Träne in seinen schwarzen Bart laufen. Esther bekam keine Luft mehr, ein ungeheurer Schmerz unterbrach den Atemkreislauf in ihren Lungen, sie wollte, dass der Tod sie davontrage, hier, dass der Ewige kein Mitleid mehr mit ihr habe und sie sofort zerstöre, wie ein Haus, das von einer Bombe getroffen einstürzt, wie drei Kinder, die aus nächster Nähe umgebracht wurden.

Der Mann führte sie wieder in den Hof, wo die Frau eine andere Ente fing und ihr den Stopftrichter in den Hals steckte.

Das machen wir nur im Winter, meinte der Mann beiläufig. Im Sommer ist es zu heiß, wenn man Enten im Sommer stopft, sterben sie daran.

Esther spürte eine große Leere in sich, sie schaute auf ihre Lackschuhe, die mit Spritzern vom weißen Dreck auf dem Hof übersät waren, es kam ihr vor wie weißes Blut, sie scharrte dumm mit den Füßen, um es abzuschütteln.

Ist nichts Schlimmes. Nur Feinsplitt.

Der Mann versuchte, nett zu sein. Auch er blickte auf den Boden.

Biete der Dame doch einen Zichorienkaffee an, sagte die Frau mit der Ente.

Möchten Sie … Möchten Sie einen frisch gebrühten Zichorienkaffee? Mit Milch vielleicht?

Esther blickte sich um; der kleine Fluss teilte sich und schloss den Hof zwischen den beiden Armen ein. Eine Trauerweide beugte ihr Haupt zum Wasser. Sie stellte sich vor, wie die Kinder am Ufer des Wasserlaufs gespielt hatten, und begann zu zittern.

Oder vielleicht Eisenkrauttee? Der beruhigt.

Sie brauchte nicht antworten.

Sie spürte die Hände und die Wangen der Kinder an ihrem Bauch. Sieben Jahre, und dieses Gefühl war immer noch da. Sie schaffte es nicht, sie in die Vergangenheit zu verbannen. Sie loszulassen. Während sie die Frau mit den Enten beobachtete, fragte sie sich, warum sie hierher zurückgekommen war, nach Tillou im tiefsten Poitou. 1941 verlief die Demarkationslinie ein paar Kilometer weiter durch die Charente. 1944 marschierten die Nazitruppen zurück in den Norden und plünderten und verübten Massaker auf ihrem Weg. Sieben Jahre war das her. Esther fragte sich einen Augenblick, warum diese Leute das Zimmer auf dem Dachboden belassen hatten, wie es war. Sie hatten ihr den Koffer geschickt. Darin hatte sie eine Fotografie von sich gefunden, und dieses Bild hatte ihr das Herz gebrochen. Was die Kinder auf die Rückseite des Gesichts ihrer Mutter geschrieben hatten. Als sie nicht da war, damit sie ihnen nahe blieb. Und jetzt war niemand mehr bei ihr, außer ihrem eigenen Bild. Esther begann wieder zu weinen. Die Frau ließ die Ente los und schwankte davon, als ob sie betrunken wäre, und schnappte sich eine andere.

Der Mann sah Esther an und wusste nicht, was er sagen konnte.

Wollen Sie … Wollen Sie sehen, wo …?

Ja, sie wollte es sehen. Schließlich war sie deshalb hergekommen. Sie wollte sehen, wo, sie wollte dem Tod ins Auge blicken. Der Mann konnte nicht Auto fahren.

Sie fahren wirklich selbst?

Esther ließ den Motor des Peugeot 203 an. Der Bauer zögerte, stieg aber dann doch ein und setzte sich neben Esther. Sie fuhren aus dem Tal heraus in Richtung des Dorfs; Esther fiel eine rechteckige Kapelle auf, die isoliert in der Landschaft stand und wie ein antiker Tempel aussah. Die Häuser zogen sich am Fluss entlang. Der Bauer sagte zu Esther, sie solle die Straße nach Brioux nehmen – er konnte sich nicht vorstellen, dass sie gar keine Ahnung hatte, in welcher Richtung es lag. Er deutete mit dem Finger in die Richtung, da, da lang. Sie fuhren zwischen Hecken eine kleine geschotterte Straße entlang, wie die, auf der sie hergekommen waren. Esther versuchte, aufmerksam zu beobachten – hatte sich die Landschaft in den sieben Jahren verändert? Die Felder waren gepflügt; der leicht orangebraune Boden war, wie ihr schien, von Furchen durchzogen, von Erdschollen zerklüftet; sie fragte ihren Beifahrer, ob es jetzt Zeit für die Saat sei; der Bauer schaute sie an wie eine Amerikanerin, wie jemanden, der aus einer anderen Welt kam. Nein, rote Erde muss früh im Jahr bestellt werden. Feldarbeit für den Winter. Wenn es aber zu viel regnet oder kalt ist, geht das nicht, dann braucht man einen Traktor. Vor Februar wird nicht gesät.

Rote Erde. Esther wurde plötzlich übel, und wieder liefen ihr Tränen über die Wangen. Wenn man weint, kann man nicht fahren. Die Straße ist schmal. Esther bekommt plötzlich Panik, sie macht einen Schlenker, fast hätte ein großer Kastanienbaum das Auto erwischt, der Bauer schreit, er schreit, Esther hat einen Blackout, einen Aussetzer, doch sie richtet sich auf, sitzt wieder kerzengerade; der Peugeot 203 kommt trotzdem an sein Ziel.

Hier ist es. Da, rechts. Plötzlich klingt der Bauer heiser.

Esther blinkt nach rechts und bleibt stehen. Sie stehen auf einem geschotterten Hof, im Hintergrund ein Ziegelhaus. Der Bauer ist offenbar erleichtert, er kann nun aussteigen. Er ist sehr blass.

Das alte Schlachthaus, sagt er.

Der Ort ist so düster, wie sie ihn sich vorgestellt hat. Eidechsen zwischen den Ziegelsteinen, Lüftungsrohre aus rostigem Metall; im Hof liegen alte Holzkisten und ein vergessener Bottich herum. Sie fragt sich, ob sie den Mut haben wird.

Wie durch ein Wunder kommt aus einem Haus links vom Eingang ein junger Mann in Soutane und Umhang. Sein weißer Kollar hebt sich scharf ab vom Schwarz seiner Amtstracht, dem Grau des Himmels und dem roten Ziegelstein des Gebäudes. Esther grüßt ihn mit einer Kopfbewegung. Er schüttelt die Hand des Bauern. Nicolas, sagt er. Ich bin der Priester im Dorf. Ich war es, der Ihnen geschrieben hat.

Esther wischt sich die Tränen mit dem Ärmel ihres Mantels aus dem Gesicht. Sie möchte nicht in das Gebäude hineingehen. Mehr will sie nicht mehr wissen. Es war ein schrecklicher Irrtum, hierherzukommen. Ihr ist kalt, sie fröstelt. Nicolas wärmt sie ein wenig, indem er einfach lächelt. Er hat eine kraftvolle und beruhigende Stimme, eine Priesterstimme, denkt sie. Kommen Sie. Treten Sie ein.

Unwillkürlich folgt Esther dem jungen Mann bis ins Schlachthaus. Alte, schmutzige Keramikkacheln, ein abschüssiger Betonboden, es gibt Abflussrinnen und ein kleines Gitter. Stahlträger, Absperrgitter wie im Zirkus oder Stadion. Sie hat genug gesehen. Sie will wieder hinaus. Sie erstickt. Es gibt keine Luft. Kein Licht. Nur die Schreie der Kinder. Keine Schmerzensschreie. Freudenschreie. Freudenjubel, Mama, Mama, und plötzlich wird sie von sechs Händen bestürmt, sechs Arme, drei Gesichter pressen sich an sie, die erstickende Wärme des Glücks, die schiere Freude über das Unmögliche, das durch ein Wunder wirklich geworden ist, der Erste sagt, Mama, ich habe gut geschlafen, und der Zweite, ich auch, Mama, ich habe auch gut geschlafen, ich dachte, ich wäre im Paradies, flüstert der Dritte, sie sind so schön, und Esther weint, sie weint vor Freude, alles in und an ihr weint vor Freude in diesem Schlachthaus, das verklärt wird durch Nicolas, durch das gewaltige Licht des Gegenwärtigen. Natürlich hört sie nichts anderes mehr, hört nicht mehr, was draußen vor sich geht, nichts mehr aus der Außenwelt, sie hört nicht den Gendarmen, nicht den Arzt, ihr Kopf ist mit einer solchen Wucht gegen den Kastanienbaum geprallt, dass sie auf der Stelle tot war, sie hört nicht den Gendarmen, Sie hatten Glück, dass Sie im Gras gelandet sind, sie hört nicht das Gestammel des Bauern, der überall zerschnitten ist von der Frontscheibe, ja, Glück, sie hört nicht, sie spricht nicht; in der Tasche ihrer Bluse fand man eine kleine Porträtaufnahme von ihr, fünf Zentimeter lang, gezackte Ränder, auf der Rückseite von Kindern bekritzelt. Man stirbt nie sofort.