Es ist eine Art Ritual geworden. Ein kleines Spiel. Sie fährt mit dem rechten Zeigefinger über die Klinge des unfassbar teuren und ebenso scharfen japanischen Santokumessers. Vorsichtig. Es braucht so wenig, denkt sie mit einem Schaudern. Nur minimalen Druck gegen die Schneide, bevor sich der dünne Stahl zunächst durch die Oberhaut, dann durch die Lederhaut und die Unterhaut arbeitet, bevor das Messer Muskeln und Adern und zuletzt den Knochen erreicht.
Sie legt es auf den Tisch, öffnet einen der Küchenschränke, nimmt Vorratsgläser und Packungen heraus und stellt alles dazu. Streut ein paar Handvoll Mandeln auf das Schneidebrett, greift erneut zum Messer und beginnt zu hacken – methodisch, gründlich, von links nach rechts und dann wieder zurück.
Polizeikommissarin Signe Kristiansen, Ermittlerin für Mordfälle bei der Kopenhagener Abteilung für Gewaltkriminalität, hat eigentlich noch nie verstanden, was der tiefere Sinn hinter selbst gemachtem Müsli sein soll. In der Küche zu stehen und Feigen und Rosinen und Cranberrys klein zu hacken, um das Ganze anschließend mit Haferflocken in Butter und Honig zu rösten, wo sich die Regale in den Supermärkten doch biegen vor Müsli und Granola von ausgezeichneter Qualität?
Es erschließt sich ihr ehrlich nicht. Und dennoch … Sie wacht jeden Morgen um vier Uhr auf, ganz egal, wann sie ins Bett gegangen ist. So ist es seit jenem Januartag im Wald bei Sandsted, jenem Tag, an dem ihr ein Mensch das Leben gerettet hat, den sie aus tiefster Seele hasst.
Die ersten Male blieb sie noch neben ihrem Mann Niels liegen – der immer schläft wie ein Baby –, starrte in die Dunkelheit und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch die Gedanken wuselten in ihrem Kopf herum wie Wanderameisen und ließen sich nicht zurückdrängen, daher ist sie dazu übergegangen aufzustehen, sobald sie wach wird.
Anfangs hat sie sich ins Wohnzimmer gesetzt und versucht, ein Buch zu lesen, doch es klappte nicht, sie konnte sich nicht konzentrieren. Also begann sie damit, Essen zuzubereiten. Neben Müsli auch Pesto und Salsa und Chutney und Marmelade. Sie, die sich vorher noch nie groß mit Hausarbeit beschäftigt hat. An neun von zehn Tagen macht Niels das Abendessen, und in der Regel fallen ihr die Staubflusen erst auf, wenn sie groß wie Steppenläufer in einer texanischen Prärie über den Boden rollen.
Aber es tut ihr gut, etwas mit den Händen zu tun. Es dämpft den Lärm im Kopf. Außerdem redet sie sich ein, dass ihre außergewöhnliche Betätigung als Hausfrau dazu beitragen kann, einen Teil der Minuspunkte auszugleichen, die sie in all den Jahren bei der Mordkommission auf dem Familienkonto angehäuft hat.
Sie arbeitet methodisch und konzentriert, unterbrochen von Pausen, während derer sie einfach am Esstisch sitzt und die Stille im Haus genießt –, bis sie ein Rumoren aus dem Schlafzimmer und schlurfende Schritte im Flur hört. Sie braucht nicht auf die Uhr zu schauen. Niels steht jeden Morgen um Punkt halb sieben auf, und wenn er in der Küche erscheint, hat sie den Kaffee in der Stempelkanne schon bereit.
»Guten Morgen«, sagt sie mit Honig auf den Stimmbändern.
»Guten Morgen«, antwortet er in neutralem Ton, setzt sich und greift zur Zeitung, die sie aus dem Briefkasten geholt hat.
Früher haben sie sich morgens immer mit einem Kuss begrüßt, doch diese Gewohnheit ist längst eingeschlafen und im besten Falle durch ein Lächeln, in den meisten Fällen durch gar nichts ersetzt worden.
Um Viertel vor sieben weckt sie den zwölfjährigen Lasse und anschließend Anne, die zwei Jahre älter ist und heftig pubertiert. Die Familie frühstückt immer gemeinsam – und immer weitgehend schweigend. So auch an diesem Morgen. Bis Signe sich räuspert.
»Wie wär’s, wenn wir heute Abend …«
Niels lässt die Zeitung sinken, und die Kinder blicken von ihren Handys hoch.
»Wie wär’s, wenn wir heute Abend mal essen gehen? Habt ihr Lust?«
Um den Tisch breitet sich eine Stimmung aus, die am besten mit mildem Erstaunen zu umschreiben ist. Die Kinder schauen zu ihrem Vater.
»Tja, ich weiß nicht … gibt es etwas zu feiern?«
»Nein, nein. Aber ich bin gerade dabei, den Fall abzuschließen, an dem ich schon eine Weile arbeite …«
»Die ganzen Sommerferien«, präzisiert Niels.
»Äh, ja … also, es ist ja nicht so, dass ich es lustig fand zu arbeiten, während ihr im Urlaub wart, aber ich kann schließlich nichts dafür, dass ein Vergewaltiger beschlossen hat, sein Opfer ausgerechnet Ende Juni umzubringen, oder?« Sie holt tief Luft. »Ich dachte nur, es wäre nett. Wir haben lange nichts mehr zusammen unternommen.« Wenn er jetzt mit noch so einer bissigen Bemerkung daherkommt, knalle ich ihm eine, denkt sie.
Niels faltet die Zeitung zusammen.
»Lasst uns essen gehen«, sagt er und steht auf.
Signe lächelt ihm zu.
»Und dann hoffen wir eben, dass …« Niels lässt den Satz unbeendet.
Signe öffnet den Mund, hält sich aber zurück und wendet sich ab, damit er ihren Ärger nicht sieht.
Um Viertel vor acht machen sich die Kinder auf den Weg in die Schule und Niels zur Arbeit. Signe besteht darauf, ihrem Mann einen Kuss zu geben, der diesen mit leicht abwesendem Gesichtsausdruck, allerdings beinahe freundlich erwidert.
Sie betritt ihr Büro, wirft gereizt ihre Tasche neben dem Schreibtisch auf den Boden und flucht über den Berufsverkehr. Vor fünf Jahren hat es nicht viel mehr als die Hälfte der Zeit gebraucht, um von Vanløse nach Teglholmen zu kommen. Sie schließt die Tür hinter sich, ist jetzt nicht in der Stimmung für Small Talk mit Kollegen, die den Kopf hereinstecken, nur um mal eben guten Morgen zu sagen. Signe leitet eine der drei Sektionen für Mord innerhalb der Kopenhagener »Abteilung für Gewaltkriminalität«. Seit im Zuge der Reform vor einigen Jahren die ehemalige Mordkommission mit den anderen Abteilungen für Gewaltverbrechen verschmolzen wurde, lautet so die offizielle Bezeichnung. So richtig durchgesetzt hat sie sich allerdings noch nicht, sodass gemeinhin meist »Mordkommission« oder auch einfach nur das Kürzel »MK« verwendet wird.
Signe teilt sich ihr Büro mit den Leitern der beiden anderen Mordsektionen, aber die sind noch nicht erschienen. Sie setzt sich hinter den Schreibtisch und starrt in die Luft.
Warum endet es immer auf dieselbe Weise? Jedes Mal, wenn sie versucht, die Hand auszustrecken und einen der Risse in ihrer und Niels’ Beziehung zu kitten, stößt er sie weg. Ja, sie arbeitet viel. Und ja, es kommt häufig vor, dass sie Verabredungen entweder absagen müssen oder Niels und die Kinder ohne sie gehen. Aber was erwartet er von einer Ermittlerin? Rechnet er ernsthaft damit, dass die Leute anfangen, sich montags bis freitags zwischen acht und sechzehn Uhr umzubringen und die Ermittlungen auf tagsüber beschränkt werden, damit sie geregeltere Arbeitszeiten bekommt?
Signe schaltet den Computer ein. Dann öffnet sie einen Ordner auf dem Desktop, scrollt zu einem Dokument mit dem Titel »Bericht« und klickt darauf.
Eines Nachts im Juni hatte ein vierunddreißigjähriger Mann eine achtundzwanzigjährige Frau in einem Nachtclub in der Kopenhagener Innenstadt angesprochen. Sie hatten getanzt, und in einem unbemerkten Moment hatte der Typ einen ordentlichen Schuss Ketamin in den Drink der Frau gekippt. Als sie etwas später an der Theke gegen den Schlaf kämpfte, erzählte der Mann dem Thekenpersonal, seine Freundin leide an Diabetes und benötige Insulin, woraufhin er mit ihr im Schlepptau den Club verließ. Während er mit ihr durch die Kopenhagener Straßen ging, vergewaltigte er die praktisch bewusstlose Frau mehrfach – die Übergriffe wurden verschiedentlich beobachtet, ohne dass jemand eingriff –, bis die gewaltsame Tournee am Hafenbecken vor der Königlichen Bibliothek endete, wo der Mann sie ins Wasser schmiss.
So weit zumindest Signes Theorie.
Die Leiche der Frau wurde eine Woche später von einer Gruppe Pfadfinder bei der historischen Festungsinsel Middelgrundsfort gefunden, weit von der Stelle am Hafenbecken entfernt, wo man einen der Ohrringe der Frau entdeckt hatte. Signe und ihre Kollegen nahmen daher an, dass der Täter sie dort ins Wasser geworfen hatte.
Wie die Obduktion ergab, hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch gelebt; die Frau war also ertrunken. Laut Bericht hatte sie massive Verletzungen sowohl im Vaginalbereich als auch im Anus sowie ausreichend Ketamin im Körper, um ein mittelgroßes Pferd zu betäuben – tatsächlich findet die Substanz unter anderem in der Veterinärmedizin Verwendung. Im Zuge der technischen Untersuchungen wurden darüber hinaus trotz der langen Verweildauer im Wasser DNA-Spuren am Körper der Frau gefunden, welche mit der DNA zweier älterer, unaufgeklärter Vergewaltigungsfälle übereinstimmten. Der eine lag zwei, der andere drei Jahre zurück.
Die Polizei hatte ein unscharfes Bild von einer Überwachungskamera des Nachtclubs veröffentlicht, auf dem der Mann zu sehen war, der den Aussagen von Gästen zufolge die Frau im wahrsten Sinne des Wortes abgeschleppt hatte. Mehrere Zeugen hatten sich daraufhin gemeldet und den Vierunddreißigjährigen identifiziert, der mit seiner Frau in einem Reihenhaus im Kopenhagener Vorort Rødovre lebte.
Vor dem Haftrichter gab der Mann zu, sowohl mit der ertrunkenen Frau wie auch den Frauen aus den früheren Fällen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, allerdings sei es in allen drei Fällen auf freiwilliger Basis geschehen – ungeachtet der Tatsache, dass die beiden ersten Male auf einem Friedhof in Nørrebro sowie im Ørstedsparken stattgefunden hatten. Bezüglich der dritten Frau gab der Mann an, sie sei am Leben gewesen, als er sie am Kai zurückließ.
Vergewaltigungen enden eher selten damit, dass das Opfer getötet wird, daher kommt es auch selten vor, dass bei einem Fall sowohl die Sektion für Mord als auch die für Sexualverbrechen involviert ist. Warum also musste es ausgerechnet während ihres Dienstes geschehen?, fragt sich Signe. Nicht dass der Fall an sich belastender gewesen wäre als die Mordfälle, mit denen sie sonst zu tun hat. Doch von allen möglichen Kandidaten wurde im Februar ausgerechnet Troels Mikkelsen zum Leiter der Sektion für Sexualverbrechen befördert – jener Mann, der sie vor bald drei Jahren im Anschluss an eine Weihnachtsfeier vergewaltigt hat. Den sie seither erbittert hasst und der in der Hauptsache dafür verantwortlich ist, dass ihrer Ehe mit Niels Schiffbruch droht. Wovon Niels nichts ahnt.
Als Troels Mikkelsens Beförderung öffentlich gemacht wurde, empfand sie es als himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Das Gefühl wurde durch ein anderes Problem nur noch verstärkt, nämlich den Umstand, dass sie gerade erst begonnen hatte, ihr Trauma zu verarbeiten: Ausgerechnet Troels Mikkelsen war es gewesen, der ihr Anfang Januar bei der Verfolgung von zwei Terroristen das Leben gerettet hatte.
So viel nämlich schuldet sie dem Schwein. Nicht weniger als ihr Leben.
Doch damit nicht genug. Zu ihrer großen Frustration hat sie sich nach zwei Monaten enger Zusammenarbeit eingestehen müssen, was ihr schon zuvor durchaus bewusst war: dass er ein äußerst fähiger Ermittler ist. Und dass er, wenn man ganz ehrlich ist … na ja, recht charmant sein kann. Dass er es mehrfach geschafft hat, die Mauer aus Hass, die sie zwischen ihnen errichtet hat, zum Bröckeln zu bringen, und sie in erschreckenden Momenten daran erinnert, weshalb sie sich in dieser Dezembernacht vor fast drei Jahren mit ihm in Vesterbro ein Hotelzimmer genommen hat – und Troels Mikkelsen anschließend sie mit Gewalt.
Aber nun ist es glücklicherweise bald überstanden. Morgen wird sie sich mit der Staatsanwältin und Troels Mikkelsen treffen, und wenn sie ihren Bericht abgibt, ist der Fall, was sie betrifft, abgeschlossen.
Sie hat das Dokument soeben gespeichert, als die Tür zu ihrem Büro aufgerissen wird. Bereits in dem Bruchteil einer Sekunde, den es braucht, ehe sich eine Gestalt in der Türöffnung materialisiert, weiß sie, wer es ist. Der Einzige in der Abteilung für Gewaltkriminalität, der nicht anklopft, ist deren Chef Erik Merlin.
»In Nørrebro wurden Schüsse abgefeuert«, sagt er. »Auf dem Roten Platz. Vorläufig werden ein Toter und ein Schwerverletzter gemeldet.«
»Okay. Ich fahre hin«, antwortet sie, ohne nachzudenken. Auch wenn sie Bandenkriminalität hasst. Keiner hat etwas gesehen, keiner will mit der Polizei reden, es ist vollkommen unmöglich, eine auch nur annähernd normale Ermittlung durchzuführen.
Vor allem aber hasst sie den Gedanken, dass eine Schießerei mit Sicherheit Überstunden bedeutet und sie Niels gleich eine Nachricht schicken muss, um ihre Verabredung für heute Abend abzusagen.