Juncker ist schon fast bei Stephansens Villa, als Karoline anruft.
»Wann kommst du nach Hause?«
»In einer halben Stunde, denke ich. Warum?«
»Weil ich auf etwas Interessantes in einem der Notizbücher gestoßen bin.«
»Okay, und zwar?«
»Das erzähle ich dir, wenn du heimkommst. Soll ich Abendessen machen?«
Das Angebot nimmt Juncker dankend an. Und freut sich im Stillen über die Verbesserung seiner Lebensqualität, die Karolines Anwesenheit mit sich gebracht hat: eine anständige Mahlzeit am Tag, und das obendrein in angenehmer Gesellschaft. Gleichzeitig fragt er sich, wann sie wohl abreist. In den Alltag und ihr normales Leben zurückkehrt. Na, vielleicht sollte er sich einfach freuen, dass seine Tochter es so lange mit ihm aushält.
Er parkt den Wagen auf dem gepflasterten Platz vor dem weißen Haus und klopft zum zweiten Mal heute an die dunkelblaue Tür. Vera macht ein verdutztes Gesicht, als sie die Tür öffnet und sieht, wer davorsteht. Dann lächelt sie auf eine Weise, bei der Juncker nicht sagen kann, ob es ein ironisches oder ein freundliches Lächeln ist.
»Das ging aber schnell. Hat da vielleicht jemand etwas bereut?«, fragt sie, und nun besteht kein Zweifel mehr, dass ihr Tonfall angesäuert ist. Sie hat ihm die Zurückweisung vorhin, als er ihre Hand weggenommen und gegangen ist, nicht verziehen.
»Wir haben etwas erfahren, was mit dem, was du uns gesagt hast, ein bisschen kollidiert.«
»Aha. Willst du reinkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, macht sie kehrt und geht ins Wohnzimmer. Sie setzt sich wieder auf die Couch, Juncker aber wählt diesmal einen der Stühle auf der anderen Seite des Couchtisches.
»Wir haben mit einem von Peter Johansens Freunden aus dem Schützenverein gesprochen, der Johansen schon zu Schulzeiten kannte, sowie mit seinem ehemaligen Klassenlehrer. Beide sagen, dass er und Mads als Jungen befreundet waren.«
Vera wendet den Blick ab und schaut aus dem Fenster.
»Genau genommen waren die beiden den Aussagen zufolge jahrelang beste Freunde. Was ja nicht so gut mit dem harmoniert, was du mir erzählt hast, nämlich dass du nie mit Peter Johansen geredet hättest und nicht weißt, wer er ist. Es wirkt offen gestanden nicht sehr überzeugend, dass du nie mit dem besten Freund deines Sohnes gesprochen haben willst.«
Sie blickt immer noch in den Garten. Juncker hat das Gefühl, dass sie sich, seit er sie vorhin verlassen hat, mindestens noch zwei, drei weitere Gin Tonics genehmigt hat, allerdings ohne dadurch sonderlich betrunken zu wirken.
»Ach Gott, stimmt ja«, sagt sie und wendet den Blick wieder Juncker zu. »Ich kam gar nicht auf den Gedanken, dass Peter Johansen dieser Peter sein könnte, also Mads’ Freund von damals. Aber jetzt, wo du es sagst, weiß ich wieder, dass er und Mads viel zusammen waren, auch bei uns. Damals wohnten wir ja noch nicht hier, sondern drüben am Sportstadion.« Sie winkelt ein Bein unter sich an. »Es ist wirklich schon viele Jahre her, aber soweit ich mich erinnere, ebbte der Kontakt ab, als sie etwa dreizehn, vierzehn waren. Wahrscheinlich habe ich es deshalb vergessen und Mads’ Kindheitsfreund nicht mit einem erwachsenen Mann in Verbindung gebracht.«
Juncker mustert sie skeptisch. »Fällt dir sonst noch etwas zu Peter Johansen ein, jetzt, wo wir deine Erinnerung ein wenig aufgefrischt haben?«
»Nein, Juncker, sonst fällt mir nichts ein«, erwidert sie kühl. »Und wenn du keine weiteren Fragen hast … ich bekomme in Kürze Besuch von einer Freundin.«
Wie üblich vermag er nicht zu deuten, woran er bei ihr ist. Und ob er ihr glauben kann. Aber warum sollte sie in Bezug auf Mads’ und Peters Freundschaft lügen?
Sein Handy klingelt im selben Moment, als er den Motor anlässt.
»Ja, Nabiha?«
»Ich habe mit Momondo gesprochen. Erst wollten sie nicht so recht, aber dann haben sie doch untersucht, welche Reisen Ragner Stephansen über ihr Suchportal gebucht hat. Wie erwartet waren es viele nach Málaga, aber auch nach Barcelona und verschiedene andere Ziele am Mittelmeer, Nizza zum Beispiel. Einzelne Reisen gingen auch nach New York und Los Angeles. Und dann sind da noch mehrere Reisen nach Neu-Delhi, von Málaga aus. Er war ziemlich viel unterwegs, muss man sagen.«
»Warte mal kurz. Also Reisen, wo er erst nach Málaga und von dort aus weiter nach Neu-Delhi geflogen ist?«
»Ja.«
»Keine Flüge von Kopenhagen nach Neu-Delhi?«
»Nope.«
»Interessant. Wir sehen uns morgen früh.«
Karoline sitzt im Arbeitszimmer auf ihrem Stammplatz auf der Couch und liest in einem der Notizbücher. Sie schaut auf.
»Hallo, Papa.«
»Warst du heute überhaupt vor der Tür?«, fragt Juncker und versucht, nicht allzu väterlich zu klingen.
»Nee. Wieso?«
»Ich dachte nur … das gute Wetter … der Sonnenschein«, sagt er und klingt so was von väterlich.
»Ich studiere ja wohl lieber meine merkwürdige Familie, als draußen in der Sonne zu braten. Ist das etwa ein Problem für dich?«
»Nein, nein, überhaupt nicht. Und du langweilst dich gar nicht? Du bist ja jetzt schon ein paar Tage hier.«
»Versuchst du mir durch die Blume zu sagen, dass ich verschwinden soll?«
»Nein, um Gottes willen.« Juncker rudert mit voller Kraft zurück. »Ich finde es schön, dass du hier bist. Ich dachte nur, na ja, Sandsted, hier passiert ja nicht eben viel.«
»Das passt mir gut. Ich brauche ein bisschen Zeit für mich allein. Davon abgesehen war ich immer gern in Omas und Opas Haus. Ich habe so viele gute Erinnerungen von hier.«
Du Glückliche, denkt Juncker.
»Hast du Hunger?«, fragt Karoline.
»Was steht heute auf dem Speiseplan?«
»Ratatouille. Ich muss nur noch den Reis kochen.«
»Klingt … lecker. Aber wegen mir kann es ruhig noch etwas warten, ich bin nicht am Verhungern. Du hast gesagt, du hättest etwas Spannendes gefunden?«
Sie steht auf und nimmt ein Notizbuch, das auf dem Schreibtisch liegt.
»Von wann ist es?«, fragt Juncker.
Karoline schlägt die erste Seite auf. »Der erste Eintrag ist vom, lass mich mal sehen, 15. April 1999.« Sie blättert vor bis zu einem gelben Klebezettel. »Aber das, was ich dir zeigen wollte, ist nicht datiert. Und es ist ziemlich kurz. Soll ich vorlesen?«
»Gern.«
»Also gut. Opa schreibt: ›Schrecklich. Musste heute Schockierendes erfahren. Ragner ist verdorbener, als ich gedacht hätte. Aber ich kann nichts tun, ohne dass alles zusammenstürzt. Vergib mir.‹«
Juncker streckt die Hand aus. »Darf ich mal?«
Karoline reicht ihm das Notizbuch.
»Hast du irgendeine Idee, auf was Opa sich da bezieht?«, fragt sie.
»Hm«, murmelt er.