Kapitel 7 

Juncker hat den Code für die Alarmanlage vergessen und flucht leise. Es ist, als ob der Kleber in seinem Elefantengedächtnis allmählich eintrocknet, sodass sich immer häufiger kleinere Stückchen von Informationen lösen und verschwinden. Er dreht sich um und blickt über den Marktplatz. Versucht, sein Gehirn durchzulüften. Mehr braucht es manchmal gar nicht, und tatsächlich, nach einer Minute taucht der Code im Dämmerlicht seiner Erinnerung auf. Er gibt die vier Ziffern ein und öffnet die Tür. Sie stößt gegen das Glöckchen, das damals, als hier noch eine Buchhandlung war, mit seinem Bimmeln neue Kundschaft ankündigte. Juncker hat sich nie dazu aufraffen können, es abzuhängen. Auch die deckenhohen weißen Bücherregale stehen noch immer gähnend leer an den Wänden.

Dreieinhalb Monate ist es her, seit die Polizeistation geschlossen wurde. Er schaut sich um und spürt, wie der Umstand, erneut in diesem Raum zu sein, einen Wurm nährt, der schon seit Monaten in ihm wächst und gedeiht.

Die Polizeistation war, neben Nabiha und Juncker, mit einem jungen Polizeischüler namens Kristoffer Kirch besetzt. An Neujahr wurde er von zwei Terroristen als Geisel genommen, die sich nach dem Bombenanschlag in einem alten Forsthaus wenige Kilometer außerhalb der Stadt versteckt hatten. Aus Gründen, die vermutlich für immer ungeklärt bleiben werden, töteten die Terroristen Kristoffer nicht, sondern ließen ihn durchgeprügelt und dem Erfrieren nahe in einer Scheune zurück. Er überlebte, war aber natürlich stark mitgenommen – nicht zuletzt psychisch. Zusätzlich zu dem Trauma infolge der Geiselnahme stellten die Psychologen fest, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, hervorgerufen durch die gewaltsamen Erlebnisse während seines Einsatzes als Soldat in Afghanistan.

Juncker hatte etwas in dieser Richtung vermutet, sich jedoch nicht überwinden können, den jungen Polizeischüler darauf anzusprechen. Stattdessen hatte er ihn auf dieselbe brüske und sarkastische Weise behandelt, mit der er so viele behandelt, und sein damaliges Verhalten quält ihn seither. Kristoffer ist noch immer auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben und wohnt wechselweise bei seinen Eltern, die einen großen Hof in der Nähe von Herning haben, und bei seiner Freundin in einer Wohnung im Kopenhagener Stadtteil Østerbro.

Juncker hat sich zweimal mit ihm getroffen. Es ist bald Zeit für einen neuen Besuch, wie er am Umfang seines schlechten Gewissens merkt.

Das Glöckchen über der Tür klingelt. Jørgen Skakke grüßt ihn mit einem reservierten Nicken. Juncker nickt zurück. Sie setzen sich an den runden Besprechungstisch.

»Hören Sie, Juncker, ich dachte, Sie und ich sollten uns kurz unterhalten, ehe wir mit den Ermittlungen weitermachen.«

»Worüber?«

»Tja, über uns beide. Haben Sie ein Problem damit, dass ich Ihr Vorgesetzter bin, solange Sie bei uns sind?«

Du meinst, davon abgesehen, dass du ein Idiot bist und obendrein kein sonderlich guter Ermittler?, denkt Juncker.

»Nein, nein, überhaupt nicht. Wie kommen Sie darauf?«

Skakke zuckt mit den Schultern. »Ach, nur so ein Gefühl. Aber dann ist es ja gut zu hören, dass ich mich irre.« Er wendet den Blick ab und schaut aus dem Fenster. »Ich habe beschlossen, dass Anders Jensen die Ermittlungsleitung in diesem Fall übernimmt«, sagt er dann.

»Völlig in Ordnung. Anders ist sehr fähig.«

»Das ist er.« Skakke schaut wieder zu Juncker. »Da wäre auch noch etwas, das mir gestern Abend bei dem Briefing aufgefallen ist. Oder besser gesagt, etwas, das mich ein wenig verunsichert.«

»Und zwar?«

»Sie haben ein bisschen so gewirkt, als …«

Komm endlich zum Punkt, Mann. Juncker starrt Skakke ungeduldig an. »Ja? Was?«

»Na ja, als ob Sie nicht richtig an die Möglichkeit glauben, dass es sich bei dem Täter um eine dem Opfer nahestehende Person handeln könnte. Oder genauer gesagt, als ob Sie nicht glauben, dass es die Ehefrau oder der Sohn gewesen sein könnte. Ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, dass ein Viertel aller Tötungsdelikte in Dänemark …«

»Partnertötungen sind, ja. Und nein, daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern. Genauso wie ich Sie nicht daran zu erinnern brauche, dass in nur sehr wenigen Fällen die Frau die Mörderin ist. Und selbstverständlich habe ich diese Option nicht ausgeschlossen. Ich finde nur, dass es zunächst vernünftig ist, die Ressourcen auf die Kanzlei und die Mitarbeiter zu verwenden.«

»Das heißt, Sie werden die Frau, Vera Stephansen hieß sie doch, heute noch befragen?«

»Ja, das hatte ich vor. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind. Sie entscheiden schließlich.«

Skakke lächelt Juncker an, der das Lächeln nicht erwidert. »So ist es. Und den Sohn?«

»Mads heißt er. Ja, ihn auch. Und falls ich es heute nicht mehr schaffe, mache ich es gleich morgen als Allererstes. Heute werde ich wohl einige Zeit brauchen, um die Fälle der Kanzlei durchzugehen.«

»Na, dann ist doch alles gut.«

Soso, denkt Juncker, findest du also. »Es gibt ja auch noch eine Tochter«, bemerkt er.

»Richtig.« Skakke studiert das Display seines Handys. »Mit ihr müssen wir natürlich auch sprechen. Kümmern Sie sich darum?«

Juncker nickt. »Mache ich. Aber wenn ich mich recht erinnere, wohnt sie in Klampenborg, kann also gut sein, dass ich erst morgen dazu komme.«

»Das ist in Ordnung.« Skakke will mit irgendetwas heraus, das kann Juncker sehen.

»Ich habe Sie gestern gefragt, ob Sie das Opfer kannten, was Sie bejaht haben, allerdings, wie Sie sagten, nur sehr oberflächlich. Gilt das auch für seine Frau?«

Juncker überlegt einen Moment. Er will nicht von diesem Fall abgezogen werden. Seit den Mordfällen im Dezember war er lediglich an den Ermittlungen zu einer Reihe banaler Gewaltdelikte beteiligt, aber er ist Ermittler in Mordfällen. Mit Leib und Seele.

»Ja«, sagt er dann. »Das gilt auch für sie.«

»Und was ist mit dem Sohn?«

»Ihn kenne ich noch weniger als die Eltern. Ich hatte nur ein paar wenige Wortwechsel mit ihm.«

»Tja, ich frage ja nur, weil ich nicht möchte, dass wir irgendwelche Probleme wegen Befangenheit bekommen. Ich meine, bei Ihrer Vergangenheit …«

Touché, denkt Juncker.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Das wird nicht passieren.«