Kapitel 23 

Signe hat Charlotte nicht gesagt, weshalb sie angerufen hat. Dass ihre Nummer im Magen einer geköpften Leiche gefunden wurde. Aber sie hat mit ihr vereinbart, dass sie sich später am Tag treffen.

»Ist etwas passiert?«, wollte Charlotte wissen.

»Ja«, antwortete Signe, beendete das Gespräch und ging zurück in den Obduktionssaal.

Die Obduktion der kopflosen Leiche braucht etwas weniger Zeit als gewöhnlich. Es gibt bekanntermaßen keinen Schädel, der geöffnet, und kein Gehirn, das untersucht werden müsste; die Zeit sparen sie also.

»Prima«, bemerkt Markman munter. »Mehr Leichen ohne Kopf, bitte. Jetzt habe ich einen ganzen Samstagnachmittag zur freien Verfügung.«

»Wo ist dein Liebster?«, erkundigt sich Signe. Markman wohnt mit einem etwas jüngeren Mann zusammen, ein ziemlich gut aussehender Architekt. Signe hat ihn ein einziges Mal auf einem Empfang vor einigen Jahren getroffen und ganz weiche Knie bekommen.

»London. Arbeit.«

»Fahren Sie jetzt nach Ejby zum Kriminaltechnischen Center?«, fragt Signe den Kriminaltechniker.

»Nein, ich hatte eigentlich vor, ins Wochenende zu gehen.«

»Kann ich gut verstehen. Aber wissen Sie was, dann geben Sie mir die Plastikhülse und den Zettel, ich muss eh wegen eines anderen Falles nach Ejby, da kann ich das gleich mit abgeben.«

»Meinetwegen gern. Sie müssen nur quittieren, dass Sie es erhalten haben.«

Signe fährt nicht zum Kriminaltechnischen Center in Ejby. Jedenfalls nicht direkt. Sie fährt heim nach Vanløse.

Das Haus ist leer, wie sie bereits weiß. Niels ist mit Lasse und einem seiner Kumpel an den Strand gefahren, Anne ist bei einer Freundin. Sie setzt sich an den Esstisch in der Küche.

Ihre Kollegen dürfen einfach nicht herausfinden, dass die Nummer, die im Magen des Geköpften lag, zu Charlotte gehört. Sollte nämlich herauskommen, dass der Tote eine Verbindung zu Charlotte hatte, wird die Polizei natürlich wissen wollen, ob sie sich auch getroffen haben und wieso sie überhaupt in Kontakt standen. Und als Ermittlungsleiterin wird Signe nicht darum herumkommen, eine Durchsuchung von Charlottes Zuhause anzuordnen und ihr Handy und ihren Computer beschlagnahmen zu lassen. Charlotte hat ihr nicht erzählt, welche Art von Material sie von ihrer Quelle erhalten hat, aber irgendetwas hat er ihr ganz sicher gegeben, und wer weiß, ob sie es nicht bei sich zu Hause aufbewahrt. Falls ja, werden die Ermittler es höchstwahrscheinlich finden.

Signe könnte sie natürlich rechtzeitig warnen, damit sie das Material an einem anderen Ort verstecken kann. Auf jeden Fall aber wird die Polizei entdecken, dass sie und Charlotte miteinander gesprochen haben, wenn man die ein- und ausgegangenen Anrufe ihres Handys checkt. Worüber?, wird man natürlich fragen, und was soll sie darauf antworten?

Davon abgesehen ist es so sicher wie das Amen in der Kirche, dass irgendjemand an der Spitze der Polizei und der Geheimdienste zwei und zwei zusammenzählen wird, wenn er Wind davon kriegt, dass Junckers Frau in den Fall verwickelt ist. Und dann kann Signe sich gleich schon mal in einer der Glaskabinen bei der Passkontrolle am Flughafen einrichten. Oder, was der wahrscheinlichere Ausgang wäre, anfangen, sich nach einem völlig neuen Job umzusehen – falls sie nicht direkt wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit angeklagt wird.

Ihr bleibt also keine Wahl. Es gibt nur eine Möglichkeit.

Auch wenn alle, die bei der Obduktion anwesend waren, von der Existenz der Plastikhülse wissen, ist sie ziemlich sicher, dass nur sie und der Kriminaltechniker, der die Fotos gemacht hat, die Nummer auf dem Zettel gesehen haben. Und sie setzt darauf, dass er sich nicht an die Nummer erinnern kann; sie jedenfalls könnte es nicht. Die anderen wissen nur, dass es acht Ziffern sind. Als sie nach dem Gespräch mit Charlotte in den Obduktionssaal zurückkam, war sie geistesgegenwärtig genug, den anderen zu sagen, dass keiner rangegangen sei, als sie versucht habe, die Nummer anzurufen, und dass sie es später noch mal versuchen werde.

Signe steht auf und holt einen kleinen Block und ein Paar Latexhandschuhe aus ihrer Tasche. Die Techniker dürfen auf keinen Fall ihre Fingerabdrücke finden. Wie bei allen Ermittlern in der Mordkommission sind auch Signes Fingerabdrücke registriert, was notwendig ist, falls einer von ihnen bei der Untersuchung eines Tatorts versehentlich einen Abdruck hinterlässt.

Sie zieht die Handschuhe an, fischt den kleinen Papierzettel aus dem Tütchen und rollt ihn auf. Charlottes Nummer scheint mit einem ganz gewöhnlichen blauen Kugelschreiber daraufgeschrieben worden zu sein. Signe nimmt einen Kuli derselben Farbe aus einer Tasse mit Schreibutensilien, die auf dem Esstisch steht.

Sie überlegt, welche Telefonnummer sie nehmen soll. Da wäre natürlich die Möglichkeit, eine x-beliebige aufzuschreiben und zu hoffen, dass der Betreffende eine reine Weste hat. Denn es werden erhebliche Ressourcen darauf verwandt werden, das Leben dieses Menschen bis ins kleinste Detail unter die Lupe zu nehmen. Aber sie könnte auch eine Nummer wählen, die die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung lenkt. Die dazu beiträgt, die Verbindung zwischen dem geköpften Mann und dem, was im FE abgelaufen ist, zu verschleiern. Vielleicht eine Telefonnummer zu einer Instanz im Asylsystem. Einem Büroleiter in der Ausländerbehörde, der mit Asylanträgen zu tun hat zum Beispiel. Das würde die Aufmerksamkeit in Richtung Menschenhandel lenken. Nicht vollkommen abwegig, denkt Signe, und falls niemand sonst im Team diese Möglichkeit nennt, na ja, dann kann sie selbst es tun.

Sie googelt ›Ausländerbehörde‹ und ›Asylbüro‹ auf ihrem Handy. Wie sich zeigt, hat die Behörde sieben Büros. Nachdem sie fünf Minuten weiter im Netz gesucht hat, findet sie die Direktdurchwahl zu einer Frau, die eines der sieben Büros leitet. Sie nimmt den Block und reißt eine Seite heraus. Dann schreibt sie die Nummer der Büroleiterin mit dem Kugelschreiber, nimmt eine Schere und schneidet um die Nummer herum, sodass der Zettel in etwa dieselbe Größe bekommt wie das Original. Anschließend wirft sie das überschüssige Papier in den Mülleimer unter der Spüle und achtet darauf, es tief hineinzustopfen, sodass es vom übrigen Müll bedeckt ist. Sie nimmt ein Feuerzeug und zündet den ursprünglichen Zettel über dem Spülbecken an. Dann steckt sie Hülse und Zettel in je ein Plastiktütchen.

Eine Weile sitzt sie da und starrt in die Luft. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so etwas tut. Sie hat hin und wieder ihren Polizeiausweis gezückt, wenn Kollegen von der Verkehrspolizei sie wegen zu schnellen Fahrens angehalten haben, aber das ist ein Verstoß, dessentwegen niemand auch nur eine Braue heben und der im schlimmsten Fall eine Verwarnung nach sich ziehen wird.

Was sie jetzt getan hat – und was sie vorhat, morgen beim Briefing auf Teglholmen zu tun –, ist eine ganz andere Liga. Es ist Fälschung von Beweismaterial. Es bedeutet den hochkantigen Rauswurf aus der Polizei, wenn es auffliegt. Es bedeutet eine Anklage gemäß einiger recht unangenehmer Paragrafen im Strafgesetzbuch.

Es bedeutet wahrscheinlich Gefängnis.

Aber sie hat keine Wahl.