Kapitel 34 

Der Königliche Garten ist schwarz vor Menschen. Charlotte kann sich nicht entscheiden, ob das gut oder schlecht ist. Einerseits lässt sich bei all den Leuten unmöglich feststellen, ob sie beobachtet wird. Andererseits ist so gut wie ausgeschlossen, dass jemand auf die Idee kommen könnte, ihr hier vor den Augen hunderter Zeugen etwas anzutun.

Als junge, frischgebackene Journalistin arbeitete sie bei einer seeländischen Regionalzeitung. Das war damals, als selbst die kleineren Tageszeitungen noch fachlich qualifizierte Mitarbeiter hatten, und sie war dem Kriminalreporter der Zeitung, einem alten Hasen, an die Seite gestellt worden, um eine Artikelserie über die Ausbeutung thailändischer Prostituierter in hiesigen Bordellen zu schreiben. Die Bordelle wurden von den Hells Angels kontrolliert, die es gar nicht gern sahen, dass zwei Journalisten aufdringliche Fragen zu ihren Geschäftsmethoden stellten.

Die Rocker waren klug genug, Charlotte und ihrem Kollegen nicht offen zu drohen, doch auf einmal tauchten steroidstrotzende Typen mit Rückenaufnähern auf den Lederjacken auf, wenn sie durch die örtliche Fußgängerzone schlenderte. Oder Hells-Angels-Mitglieder rollten zufällig auf ihren Harleys an dem Haus vorbei, in dem sie wohnte, wenn sie aus der Tür ging, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.

Sie kann sich noch gut daran erinnern, wie nervös und angespannt sie in den Wochen war, als sie und ihr Kollege an den Artikeln arbeiteten, sowie anschließend während der Zeit, als die Serie in der Zeitung erschien. Ihre Schultern waren dauerverspannt, und sie wachte nachts zehnmal schweißgebadet auf.

Genau so fühlt sie sich jetzt. Nur dass sie nicht weiß, nach wem sie Ausschau hält, als sie den Park betritt und versucht, das Gewimmel auf den Rasenflächen und Kieswegen nach verdächtigen Personen abzuscannen.

Sie hat mit Signe vereinbart, sich im Königlichen Garten von Schloss Rosenborg zu treffen, genauer gesagt im Rosengarten, der ganz in der Nähe des Wassergrabens liegt. Hier, in der gepflegten symmetrischen Anlage, mit Rosenbeeten, umsäumt von penibel gestutzten Buchsbaumbüschen und versteckt ein wenig abseits hinter Hecken, die den Garten vom restlichen Park trennen, ist man etwas ungestörter als auf den Grünflächen und Wegen. Signe ist noch nicht aufgetaucht, und Charlotte setzt sich auf eine Bank. Sie spürt, dass ihr Herz schneller schlägt als normal, und obwohl heute wieder eine mörderische Hitze herrscht, fühlt sich ihre Haut etwas klamm an. Ein bisschen wie am Tag, bevor eine Grippe ausbricht.

Aber sie wird nicht krank. Sie ist nur nervös und muss die ganze Zeit krampfhaft versuchen, das Bild einer geköpften Leiche mit zerschossenen Knien aus ihrem Kopf zu vertreiben.

Sie entdeckt Signe. Alle Bänke im Rosengarten sind besetzt. Signe bleibt einen Moment stehen und schaut sich um, ehe sie auf Charlotte zukommt. Sie nimmt neben ihr Platz, lehnt sich zurück und streckt die Beine aus. Ihre Windjacke ist hochgezogen. Wie kann sie bei dieser Hitze bloß eine Jacke tragen? Aber dann entdeckt Charlotte die Ausbeulung unter ihrer linken Achselhöhle.

»Ich dachte, es wäre gut, wenn wir uns treffen, um mal zusammenzufassen, wo wir stehen, und zu überlegen, wie wir weiterkommen. Im Moment stecken wir nämlich fest«, beginnt Signe.

»Klingt nach einer guten Idee.«

»Ich habe mit Svend Bech-Olesens Witwe gesprochen. Und mit dem Leiter der Intensivabteilung am Rigshospital sowie der Krankenschwester, die Simon Spangstrup überwacht hat.«

»Und, hast du was rausgefunden?«

»Teils, teils. Die Witwe hat im Grunde nur bestätigt, dass ihr Mann vollkommen unerwartet gestorben ist. Trotzdem hatte ich am Ende unseres Gesprächs das Gefühl, als ob … Ich habe gefragt, ob er begraben oder eingeäschert wurde, und als sie sagte, er sei auf eigenen Wunsch hin verbrannt worden, war es, als ob irgendwas mit ihr geschah. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, aber ich hatte den Eindruck, dass ihr irgendein Gedanke kam. Vielleicht, dass sie jetzt, wo er eingeäschert ist, niemals herausfinden wird, ob an seinem Tod nicht doch etwas faul war.« Sie blinzelt in die Sonne. »Aber wie gesagt, das kann auch nur Wunschdenken von mir sein. Wenn der Ehepartner so plötzlich stirbt, werden sich wohl die meisten darüber wundern. Vor allem wenn der Tote so verhältnismäßig jung und gut in Form war wie in Svend Bech-Olesens Fall.«

»Was haben sie auf der Intensivstation gesagt?«

»Im Gegensatz zur Witwe so einiges. Der Leiter der Abteilung war nicht dabei, als Spangstrup starb, das meiste, was er erzählt hat, stammte also aus zweiter Hand, aber er hat bestätigt, dass man sich auf der Station über seinen Tod gewundert habe. Und die Krankenschwester, die die Aufsicht über ihn hatte, sie hat etwas ziemlich Interessantes berichtet: Zwischendurch hat sie Spangstrup einmal für etwa fünf Minuten allein gelassen, um aufs Klo zu gehen. Nur wenige Minuten nach ihrer Rückkehr blieb sein Herz stehen. Sie hat auch erzählt, dass es auf der Station – oder zumindest in der Nähe des Einzelzimmers, in dem Spangstrup lag – vor Polizisten in Uniform und Zivil sowie allen möglichen anderen Typen nur so gewimmelt hätte. Drei Personen waren ihr besonders aufgefallen: eine elegante grauhaarige Frau, ›businessmäßig‹, meinte sie, und zwei Männer, die aussahen, als wären sie aus einem Agentenfilm gesprungen. Und weißt du was? Das klingt exakt wie die Beschreibung der Frau und der beiden Männer, die im Januar bei Juncker in Sandsted aufgetaucht sind und von ihm verlangt haben, ihnen Bent Larsens Computer auszuhändigen.«

»Bent wer?«, fragt Charlotte und denkt, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hat. Martin hat ihr etwas verheimlicht. Sie konnte es ihm ansehen, als sie ihm die Kopien der beiden E-Mails zeigte.

Signe klärt sie über die Verbindung zwischen Bent Larsen sowie seinem Führungsoffizier Svend Bech-Olesen auf und schildert, was an dem Abend geschah, als die grauhaarige Frau und die beiden Männer Juncker einen Besuch abstatteten. »Ich wüsste zu gern, wer diese Frau ist«, schließt sie.

»Und für wen sie arbeitet«, fügt Charlotte an.

»Ja, verdammt. Außerdem müssen wir rauskriegen, wer K beim FE ist. Der, mit dem sbo – Svend Bech-Olesen – mailt, kurz bevor die Bombe explodiert. Der mit der E-Mail-Adresse, die mit hec beginnt, könnte Henrik Christoffersen sein …«

»Der Chef des FE?«

»Jep.«

Die beiden Frauen schweigen.

»Der Chef des FE«, wiederholt Charlotte. »Ich fass es nicht.«

»Ja. Es sind große Jungs, mit denen wir uns da anlegen.«

»Irre, wenn man sich vorstellt, dass der Chef eines dänischen Geheimdienstes in Liquidierungen verwickelt sein soll.«

»Das wissen wir ja nicht. Noch nicht. Wir wissen lediglich oder sind davon überzeugt, dass drei Menschen – Svend Bech-Olesen, Simon Spangstrup und der Whistleblower – ermordet wurden, weil sie allesamt darüber Bescheid wussten, dass die Warnung vor dem Terroranschlag ignoriert wurde.« Sie kramt in ihrer Tasche, holt eine Sonnenbrille heraus und setzt sie auf. »So irre es uns auch erscheinen mag, dass Leute ermordet werden, weil sie etwas wissen, was die Grundfesten des Staates erschüttern kann. Und es ist bestimmt nicht das erste Mal in der Geschichte der Geheimdienste, dass so etwas passiert.«

»Stimmt. Aber in Dänemark?«

Signe lächelt schief. »Ja, uns gefällt natürlich der Gedanke vom kleinen, unbefleckten Paradies inmitten einer bösen, bösen Welt … Aber wir werden ja sehen. Hast du eigentlich einem deiner Kollegen von der Sache erzählt?«

»Nein. Mikkel, mein Chef, hat mitgekriegt, dass ich den Terroranschlag recherchiert habe. Aber ich habe ihm eine Lüge aufgetischt.«

»Die er dir abgekauft hat?«

Charlotte zögert. »Da bin ich nicht ganz sicher. Aber er weiß nicht, worum es in Wahrheit geht. Das weiß keiner bei der Zeitung.«

»Und so sollte es fürs Erste wohl besser bleiben. Wenn wir zwei also in dieser Sache zusammenarbeiten wollen …«

Signe verstummt. Charlotte schaut sie neugierig an. Die Polizistin macht ein Gesicht, als kaue sie auf einer Zitrone. Als würde ihr allein die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit einer Journalistin ganz und gar nicht schmecken. Sie schluckt und fährt fort: »Dann müssen wir uns vollkommen einig sein, dass ich bestimme. Weder schreibst du darüber, noch sprichst du mit deinen Kollegen, ehe ich das Okay gebe.«

»Einverstanden. Wenn du mir im Gegenzug versprichst, dass es einzig und allein meine Story ist.«

»Natürlich.« Signe steht auf.

»Was jetzt?«, fragt Charlotte.

»Ich bin ja schließlich Ermittlungsleiterin in einem Mordfall, wo dem Opfer der Kopf fehlt. Also werde ich versuchen herauszufinden, wer der Tote war. Mal sehen, vielleicht vermisst ihn ja früher oder später jemand.«

Charlotte bleibt noch eine Weile sitzen, nachdem Signe gegangen ist. Sie legt die Beine hoch und ignoriert, dass sich die Armlehne in ihren Rücken bohrt. Auf der Bank neben ihr sitzt eng umschlungen ein junges Paar. Sie schaut sich um und kann niemanden außer gänzlich unschuldig aussehende Menschen sehen, die den anscheinend endlosen Sommer genießen. Der Anblick ist derselbe, als sie aufsteht und über die weitläufigen Grünflächen auf den Ausgang des Parks am Staatlichen Museum für Kunst zusteuert. Von hier aus ist es nur ein knapper Kilometer bis nach Hause. Auf dem Weg schaut sie sich mehrfach über die Schulter, entdeckt aber niemanden, der verdächtig aussieht. Allerdings, wiederholt sie für sich selbst, während sie gleichzeitig versucht, ihre Paranoia zu dämpfen: Sie weiß ja auch nicht, nach wem sie Ausschau halten soll.

Sie beschleunigt das Tempo und joggt die letzten paar hundert Meter bis zu ihrem Haus. Dort angekommen öffnet sie das alte, knirschende Gartentor und zieht ihren Schlüsselbund aus der Tasche. Als sie den Schlüssel gerade ins Schloss gesteckt hat, hört sie ein Geräusch. Es ist nicht mehr als ein Rascheln von drüben hinter den Mülltonnen. Doch sie ist sicher, dass da etwas ist. Oder jemand.

Sie erstarrt. Und plötzlich wird ihr kalt.