Die Sache mit den Schüssen auf dem Roten Platz verlief genau so, wie Signe befürchtet hatte.
Als sie am Tatort ankam, lag das eine Opfer unter einem weißen Tuch beim Eingang zur Cafeteria der Nørrebro-Sporthalle. Eine Blutlache war unter dem Stoff hervorgetreten, auf dem sich an mehreren Stellen große rote Flecken abzeichneten. Die Fenster und Türen der Cafeteria waren von etlichen Kugeln durchsiebt worden, geblieben war ein Muster aus Sternen und Schusslöchern, die bestätigten, was mehrere Zeugen aussagten: die Täter – zwei Personen auf einem Motorroller – hatten eine Automatikwaffe benutzt.
Das andere Opfer wurde schwer verletzt ins Traumazentrum des Rigshospitals gebracht, konnte jedoch nicht mehr gerettet werden und starb im Laufe der Nacht. Die Toten waren siebzehn und zwanzig Jahre alt, und beide hatten Verbindungen zur Brothas-Bande, die in der nahe gelegenen Wohnsiedlung Mjølnerparken ihre Basis hat.
Signe wurde von einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit ergriffen, als sie gemeinsam mit einem Kollegen aus der Mordkommission vor dem rot gefleckten Tuch stand.
»Oh Mann, die sind doch nicht mehr ganz gebacken. Ein Drive-by-Shooting am helllichten Tag auf eine Cafeteria, in der haufenweise Leute sitzen … und Dutzende Kinder. Sind noch andere verletzt worden?«
»Nein. Und das ist das reinste Wunder.«
Die beiden Täter waren mit hoher Geschwindigkeit auf dem Fahrradweg Richtung Hillerødgade und Nørrebroparken davongebraust. Mehrere Zeugen hatten gesehen, wie sie die Stefansgade kreuzten, doch danach verlief sich die Spur im Sand. Der Roller wurde später auf dem Assistenzfriedhof gefunden und war, wie sich herausstellte, einem Maurerlehrling aus Rødovre gestohlen worden, der in keinerlei Verbindung zum Bandenkrieg stand. Wie üblich hüllten sich die Gangmitglieder in Stillschweigen, als die Polizei die üblichen Verdächtigen zur Vernehmung aufs Revier lud. Keiner sagte ein Wort, die meisten nannten nicht einmal den eigenen Namen.
Nach außen hin darf Signe sich natürlich nicht anmerken lassen, wie hoffnungslos die Ermittlungsarbeiten im Bandenkrieg ihrer Ansicht nach sind, doch die Lage ist derart verfahren, dass es wirklich an der Motivation der Polizeikräfte zehrt. Und Signe ist heilfroh, dass nicht sie diejenige ist, die sich vor die Kamera stellen und den Zuschauern vor den Bildschirmen zu Hause erklären muss, was vor sich geht und weshalb die Aufklärungsrate in diesen Fällen so erschreckend gering ist – das ist Merlins Job. Daher passt es Signe auch ausgezeichnet in den Kram, dass er jemand anderen auserkoren hat, die Ermittlungen zu leiten, damit sie derweil einen Punkt hinter dem Vergewaltigungs-Schrägstrich-Mordfall setzen kann.
Sie hat ihren Bericht des Falles in dreifacher Ausfertigung ausgedruckt. Eine für die Staatsanwältin Anne Marie Olsen, eine für sich selbst – und eine für ihn. Troels Mikkelsen. Sie schaut auf ihr Handy. Kurz vor elf. Erst sammelt sie die Papiere zusammen, dann atmet sie einmal tief durch. Wie immer, wenn sie gezwungen ist, sich längere Zeit in seiner Nähe aufzuhalten, muss sie sich mental darauf vorbereiten. Auf dem Weg ins Büro der Staatsanwältin macht sie einen Abstecher in die Teeküche, öffnet den Kühlschrank und schnappt sich eine noch fast zur Hälfte gefüllte Packung Vollmilch. Sie weiß, dass auf dem Tisch in Anne Marie Olsens Büro eine Thermoskanne mit Kaffee stehen wird, nicht unbedingt aber auch Milch, und sie kriegt schwarzen Kaffee nicht herunter. Genauso wenig, wie sie es haben kann, aus Plastikbechern zu trinken. Sie öffnet den Küchenschrank und nimmt den weißen Coffeemug mit dem großen aufgedruckten schwarzen S heraus. Sie hat allen auf der Abteilung – von der philippinischen Reinigungshilfe Joy bis hin zu Erik Merlin – ein paar kräftige Ohrfeigen angedroht, sollten sie auf die Idee kommen, ihren persönlichen Becher auch nur zu berühren.
Troels Mikkelsen ist schon da. Sie gibt der Staatsanwältin die Hand und nickt ihm zu. Er nickt mit einem freundlichen Lächeln zurück. Signe rückt ihren Stuhl so weit von ihm weg, wie sie es sich ihrer Meinung nach erlauben kann, ohne dass es auffällig wirkt. Wie üblich kann sie ihn riechen. Er ist ein großer Anhänger des klassischen Duftes Aramis und glaubt offenbar, diese ikonische Erinnerung aus den Achtzigern würde seinen britischen Landadel-Look unterstreichen. Ihr wird jedes Mal speiübel, wenn der süßliche Geruch von ›Leder, Gras und Zimt‹ in ihre Nase dringt, und gerade wird sie förmlich von ihm eingehüllt.
»Schön, dass ihr beide kommen konntet«, beginnt Anne Marie Olsen. »Ich muss die Anklageschrift fertig machen und hätte daher gern euren Input. Vor allem in Bezug auf die Frage, ob neben einer Anklage wegen besonders schwerer Vergewaltigung auch die Grundlage für eine Anklage wegen Mordes gegeben ist. Oder ob wir nur auf Körperverletzung mit Todesfolge plädieren sollen.«
Anne Marie Olsen ist seit vier Jahren als Staatsanwältin bei der Anklagebehörde für Gewaltkriminalität tätig. Signe hat in mehreren Fällen mit ihr zusammengearbeitet und kann sie gut leiden. Sie ist unerschrocken und unprätentiös, und Signe schätzt ihr Urteilsvermögen sowie die Schärfe, mit der sie im Gerichtssaal agiert.
»Also, ich bin mir ja sicher, dass wir es mit einem Psychopathen zu tun haben«, fährt die Staatsanwältin fort. »Und ich bezweifle keine Sekunde, dass wir das Urteil für die Vergewaltigung bekommen. Oder die Vergewaltigungen, falls wir ihn auch für die beiden Fälle 2014 und 15 drankriegen können. Aber ich bin mir weniger sicher, ob wir genug für eine Anklage wegen Mordes haben. Was meinst du, Signe?«
Eine Stunde lang drehen und wenden sie die Argumente hin und her, bis Anne Marie zu dem Schluss kommt, dass es für die Mordanklage reicht. Troels Mikkelsen steht auf. Er legt Signe eine Hand auf die Schulter. Sie zwingt sich, ruhig zu bleiben.
»Ich wollte nur sagen, dass die Zusammenarbeit zwischen unseren Abteilungen meiner Meinung nach tadellos gelaufen ist. Ein Beispiel für die Zukunft.«
Signe lächelt steif. »Ja, es hat … toll geklappt.«
Sie bleibt sitzen, bis Troels Mikkelsen den Raum verlassen hat. Sie hat nicht vor, mit ihm gemeinsam zurück zur Abteilung zu gehen. Anne Marie mustert sie prüfend.
»Ist alles okay, Signe?«
»Ja, alles gut, außer vielleicht, dass wir schon wieder einen von diesen hoffnungslosen Bandenfällen haben.«
»Oje, die sind echt nicht lustig.«
Signe steht auf und greift sich Troels Mikkelsens Plastikbecher, steckt ihn in ihren eigenen Porzellanbecher und nimmt beide mit, als sie geht.
Zurück in ihrem Büro schließt sie die Tür hinter sich, setzt sich an den Schreibtisch, zieht die unterste Schublade auf und holt eine altmodische grüne Geldkassette aus Metall hervor. Aus der oberen Schublade nimmt sie eine weiße Pappschachtel mit alten Visitenkarten, schüttet die Kärtchen in ihre Handfläche, nimmt den kleinen Schlüssel, der auf dem Boden der Schachtel liegt, und schließt die Geldkassette auf.
Darin liegen bereits zwei benutzte Plastikbecher mit Flecken von eingetrocknetem Kaffee. Sie steckt den Becher, den sie gerade von der Besprechung mitgenommen hat, in die beiden anderen und legt sie zurück in die Kassette. Neben den Bechern befinden sich auch zwei Plastiktütchen darin, die auf den ersten Blick leer erscheinen. Bei genauerem Hinsehen jedoch entdeckt man in dem einen Tütchen ein paar Haare, vielleicht acht oder zehn, und im anderen einige weiße Fussel, die an Schuppen erinnern.
Es sind Schuppen. Troels Mikkelsens Schuppen. So wie es auch seine Haare sind.