Kapitel 18 

»Das sieht ja total absurd aus«, sagt Signe zu dem Streifenpolizisten, der von den vier Beamten zuerst bei dem Pfad war, welcher mehr oder weniger in der Mitte von Kongelunden liegt, einem Waldgebiet im südlichen Teil der Insel Amager. Soweit sie sich erinnert, hat sie den jungen Mann, der etwas blass um die Nase ist, noch nie getroffen. »Das erste Mal?«

»Ich habe schon Leichen gesehen, aber so etwas noch nicht.« Er weist mit dem Kinn auf den Graben, der entlang des Weges verläuft.

»Nein, ich auch nicht«, bekennt sie. »Sie sind der Einzige, der bis ganz hierher gegangen ist, oder?«

»Ja. Meine Kollegen sind drüben beim Waldweg geblieben. Außerdem haben wir unsere Streifenwagen ein Stück entfernt geparkt, damit wir keine Reifenabdrücke zerstören, falls es welche gibt.«

Signe nickt anerkennend. »Gut mitgedacht. Aber da Sie keinen Schutzanzug anhaben, ist es trotzdem besser, wenn Sie jetzt zu den anderen zurücktraben. Die Leiche wurde von Schulkindern entdeckt, richtig?«

»Drei Kids aus einer Freizeitbetreuung. Sie haben einen Ausflug in den Wald gemacht. Es sind ja noch Sommerferien.«

»Ach ja, stimmt. Wie alt?«

»Zwölf oder dreizehn. Sie waren ein Stück den Weg runter, aber nicht ganz bei der Leiche. Sie sind wohl etwa zehn Meter davor stehen geblieben, was man ja gut verstehen kann.«

»Waren Sie selbst nah dran?«

»Nein. Es war ja gewissermaßen unnötig zu checken, ob der Betreffende tot ist.«

»Da haben Sie recht.«

»Es gibt noch einen anderen Grund, warum man besser Abstand hält.«

»Und der wäre?«

»Ich glaube, die Leiche liegt auf einem Wespennest.«

»Wie bitte?«

»Wenn Sie etwas näher rangehen, können Sie sehen, dass ein ganzer Haufen von den kleinen Biestern um die Leiche herumschwirrt. Es sieht aus, als kämen sie von irgendwo unter der Leiche her. Sie ist wohl mehrfach gestochen worden, falls Wespen tote Menschen überhaupt stechen.«

»Das dürfte ihm wohl ziemlich egal sein. Aber trotzdem ein verdammt unglücklicher Umstand.« Signe überlegt. »Wo sind sie jetzt? Die Kinder und die Betreuer?«

»Da drüben, hinter der Absperrung.« Er deutet in die Richtung. »Einer der beiden Betreuer hat den Notruf gewählt.«

»Gut. Tun Sie mir einen Gefallen, wenn Sie zurück bei den anderen sind? Finden Sie raus, wie viele Kinder und Erwachsene es sind und wer was gesehen hat. Rufen Sie dann Erik Merlin an, er ist der Chef der MK. Richten Sie ihm von mir aus, dass wir mehrere Krisenpsychologen brauchen, und fragen Sie, ob er sich darum kümmern kann. Checken Sie auch kurz zusammen mit Ihren Kollegen, dass das Gebiet in einem Radius von einhundert Metern um die Leiche herum abgesperrt ist. Wir brauchen keine Schaulustigen oder zufälligen Passanten in der Nähe. Und rufen Sie noch ein paar Streifenwagen her.«

»Das kriege ich hin.«

»Super.« Er wirkt auf Zack, denkt Signe. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche des Schutzanzugs. 09.27 Uhr. Wo bleiben die Ermittler? Und die Techniker? Und wie wollen sie das mit dem Wespennest machen? So eine Situation hatte sie tatsächlich noch nicht. Einen Ameisenhaufen ja, aber noch nie ein Wespennest. Sie geht etwas näher heran. Was der junge Beamte gesagt hat, war vollkommen richtig. Um die Leiche herum schwirrt es von verteidigungsbereiten Insekten. Der Tote trägt nichts als eine Unterhose am Leib und liegt, oder eher sitzt, mit dem Hinterteil in den matschigen Graben gepflanzt. Der Oberkörper lehnt mit dem Rücken an die eine Grabenwand, während die Beine mit den Füßen nach oben an der gegenüberliegenden Seite aufragen. Die Arme sind zu beiden Seiten ausgestreckt und ruhen auf dem Waldboden, als handele es sich um die Rückenlehne eines Sofas. Überhaupt sieht er aus wie jemand, der es sich auf einem komfortablen Möbelstück, einem Liegestuhl zum Beispiel, bequem gemacht hat.

Das heißt, wenn man außer Acht lässt, dass ihm in beide Knie geschossen wurde. Und dass ihm der Kopf fehlt.

Eine nicht besonders große und recht schmächtige Gestalt in weißem Schutzanzug nähert sich auf dem etwa anderthalb Meter breiten Waldweg.

»Markman. Das ging fix. Die Techniker sind noch nicht mal hier.«

Der Rechtsmediziner stellt seine Tasche ab und drückt Signes Arm. »Wenn dein Ruf mich ereilt, schöne Signe, dann weißt du doch, dass ich alles stehen und liegen lasse, um mich auf schnellstem Wege zu dir zu begeben.«

Signe gibt dem glatzköpfigen Schonen einen Kuss auf den Schädel. »Du bist mein Lieblingsarzt, Markman. Schade, dass du keine Privatpatienten nimmst.«

»Vielleicht sollte ich es mir überlegen.« Er betrachtet die Leiche. »Soso, da sitzt er ja. Und zwar ziemlich gemütlich, wie’s aussieht.«

»Es gibt da bloß ein Problem«, sagt Signe. »Er hockt auf einem Wespennest.«

»Wespen? Pfui Teufel.«

»Hast du etwa Angst vor so einer kleinen Wespe, Markman?« Signe grinst den Rechtsmediziner an.

»Angst? Ich habe vor gar nichts Angst. Aber ich bin allergisch gegen Wespenstiche.«

»Ups, das ist schlecht. Aber lass uns auf die Techniker warten und dann gemeinsam überlegen, wie wir die Sache anpacken.«

Eine Viertelstunde später sind sie da, es sind Jens Lund und Asger Hansen. Signe hat schon in zwei, drei Fällen mit ihnen zusammengearbeitet. Sie schildert das Problem.

»Da wäre natürlich die Möglichkeit, dass wir die Leiche abtransportieren und einen Schädlingsbekämpfer holen, der die Wespen beseitigt, damit ihr zum Zug kommen könnt«, sagt sie.

»Ja, aber das ist keine gute Variante«, meint Jens Lund. »Wenn zwei Leute, die ihn wegtragen, und ein Schädlingsbekämpfer hier herumtrampeln, werden die meisten Spuren vermutlich zerstört. Um gar nicht davon zu reden, welchen Schaden es anrichtet, wenn alles mit Wespengift eingenebelt wird.«

»Stimmt, das ist nicht optimal. Aber wir könnten auch drei Imkeranzüge organisieren, ihr wisst schon, die mit Kopfschutz und allem. Und dann, falls nötig, unsere eigenen Schutzanzüge obendrüber ziehen«, schlägt Signe vor.

Markman stöhnt. »Das wird schrecklich heiß.«

Seine Miene drückt allerhöchste Abscheu aus. Signe weiß, dass Markman extrem penibel ist, was Hygiene angeht. Nicht zuletzt in Bezug auf andere, aber auch was ihn selbst betrifft, und beim Gedanken daran, in der Mittagshitze mehrere Schichten synthetischen Materials überzustreifen, sodass der Schweiß höchstwahrscheinlich nur so an seinem schmächtigen Körper hinabströmen wird, kriegt er garantiert die Krise.

»Hast du einen besseren Vorschlag, Markman?«

»Nein, verdamm mich, habe ich nicht.«

Es braucht zwei Stunden, die Imkeranzüge herbeizuzaubern, anderthalb Stunden für die Techniker, die Leiche und das Gebiet unmittelbar herum auf mögliche Spuren zu untersuchen, und eine halbe Stunde für Markman, um konstatieren zu können, dass sich reichlich wenig darüber aussagen lässt, wie der Mann umgebracht wurde, wenn ein so wichtiger Teil wie der Kopf fehlt.

»Bei der Obduktion morgen früh werde ich hoffentlich schlauer. Was sagst du zu neun Uhr?«

»Abgemacht. Und du kannst wirklich noch überhaupt nichts sagen?«, fragt Signe.

»Doch. Ich kann sagen, dass er nicht hier getötet, sondern der Leichnam hergebracht wurde. Was die Todesursache angeht, gibt es mehrere Möglichkeiten. Logischerweise stirbt man, wenn einem der Kopf abgeschlagen wird. Aber ob das die Todesursache ist, oder ob ihm zum Beispiel vorher in den Kopf geschossen wurde, darüber kann ich bei der Obduktion hoffentlich mehr sagen. Theoretisch könnte er auch durch die beiden Schüsse in die Knie, den Blutverlust oder durch den Schock gestorben sein. Aber das ist unwahrscheinlich.«

»Und der Todeszeitpunkt?«

»Schwer zu sagen. Der Rigor hat sich gelöst, und die Verwesung hat eingesetzt. Bei der Affenhitze geht es schnell. Ich schätze mal zwischen zwanzig und dreißig Stunden. Also, seit er gestorben ist. Wie lange er schon hier sitzt, keine Ahnung.«

Wer auch immer den Mann getötet und hier im Wald deponiert hat, war nicht sonderlich darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen. Die beiden Techniker haben Schuhabdrücke von drei verschiedenen Paar Schuhen unmittelbar um die Leiche herum und einige Haare und Fasern auf ihr gefunden. Fußspuren, die vom Waldweg den Pfad hinunterführen, deuten darauf hin, dass sie beim Weg geparkt und den Mann die fünfzig Meter in den Wald hinein getragen haben. Es finden sich deutliche Reifenabdrücke an der Stelle, wo ihr Auto stand.

»Ich würde tippen, dass du nach einem SUV suchen musst. Oder einem Lieferwagen«, meint Jens Lund, bevor er sich zusammen mit seinem Kollegen daranmacht, Gipsabdrücke von den verschiedenen Spuren zu nehmen.

Signe steigt in ihr Auto. Sie hat zwei Kollegen darangesetzt, den Toten zu identifizieren. Der eine hat gerade angerufen und gesagt, dass keine der derzeit als vermisst gemeldeten Personen auf die Beschreibung der Leiche passt. Im Übrigen ist es – falls Markman recht hat, was den Zeitpunkt des Todes angeht – ohnehin zu früh, um auf die Vermisstenliste zu schauen. Bei vielen erwachsenen Menschen können locker zwei, drei Tage vergehen, bevor jemand anfängt, sie zu vermissen.

Sie überlegt, ob der Mord womöglich in Verbindung mit dem Bandenkrieg steht. Die Gangmitglieder haben ein Faible dafür, ihren Opfern in die Knie zu schießen; eine von vielen schlechten Eigenschaften, die sie sich von diversen Mafiaorganisationen abgeschaut haben. Dagegen gehört es nicht zu ihren Gewohnheiten, sich gegenseitig die Köpfe abzuschlagen.

Naheliegenderweise lässt sich nicht sagen, welche Haarfarbe er hatte, doch seine übrige, recht spärliche Körperbehaarung lässt vermuten, dass er irgendwo im rotblonden Bereich war, was gut mit seiner recht hellen Haut zusammenpassen würde. Falls er also Mitglied einer Gang ist, handelt es sich vermutlich nicht um eine der Einwandererbanden. Allerdings gehört er wohl auch kaum zu einer Rockergang. Signe hat noch nie einen Rocker gesehen, der nicht von Kopf bis Fuß tätowiert war, und der Mann hier hat nicht mal ein kleines Herz oder einen Delfin irgendwo unter die Haut gestochen.

Gerade kann sie nicht sehr viel mehr tun, als darauf zu hoffen, dass die morgige Obduktion etwas Licht ins Dunkel bringt, aber sie hat weiß Gott keine großen Erwartungen. Und ihr wird schlecht beim Gedanken daran, noch mehr von diesen Banden-Schwachmaten vernehmen zu müssen. Ganz egal, ob sie nun aus dem Migranten- oder dem Rockermilieu kommen.

Zum Teufel mit diesen Idioten.