Kapitel 51 

Hätte Signe es nicht schon vorher gewusst, ist es ihr nun nach dem Gespräch mit Merlin jedenfalls eindeutig klar: Der Faden, an dem sie hängt, ist spinnwebsdünn.

Sie hat einen Riesenrespekt vor Merlin. Ihr Chef war schon etliche Male sauer auf sie – und sie auf ihn. Aber sie hat nie daran gezweifelt, dass er sie schätzt, sowohl professionell wie auch menschlich. Daher schmerzt es, ihn so wütend zu wissen. Und so enttäuscht.

Allerdings ist sie ebenso enttäuscht von Merlin. Und Juncker. Und im Übrigen auch von sich selbst. Weil sie alle miteinander den Schwanz eingezogen und so lange geschwiegen haben.

Als sie nach Hause kommt, ist niemand da. Niels macht anscheinend Überstunden, und Lasse und Anne sind sicher bei Freunden. Sie geht direkt ins Wohnzimmer, wirft ihre Jacke auf den Couchtisch, nimmt das Schulterholster mit der Pistole ab, lässt sich aufs Sofa fallen und schließt die Augen. Das Adrenalin pumpt noch immer durch ihren Körper. Sie weiß von Vernehmungen von Verdächtigten, die das Gefühl hatten, unter Überwachung zu stehen, wie stressig es ist. Nicht zu wissen, ob es sich bei Menschen, die man zufällig auf der Straße trifft oder die im nachfolgenden Auto sitzen, in Wahrheit um Beschatter handelt. Ständig auf der Hut zu sein. Sich andauernd über die Schulter zu schauen.

Jetzt muss sie selbst die bittere Medizin schlucken.

Sie döst ein und schwebt eine unruhige Stunde lang im Grenzland zwischen Wachen und Schlafen. Als sie wieder zu sich kommt, schweißgebadet und mit papptrockenem Mund, hat sie das unangenehme Gefühl, dass Niels hinter ihre Affäre mit Victor gekommen ist. Sie muss geträumt haben, kann sich jedoch nicht daran erinnern. Dann geht sie ins Schlafzimmer und schlüpft in ein frisches T-Shirt. Zurück im Wohnzimmer setzt sie sich wieder auf die Couch, nimmt die Pistole aus dem Holster und vergewissert sich, dass das Magazin mit den maximal dreizehn Patronen gefüllt ist und dass sich eine Patrone in der Kammer befindet. Dann steckt sie die Pistole zurück ins Holster. Das Handy mit der Prepaidkarte, das auf dem Tisch liegt, vibriert. Eine Nachricht von Charlotte.

16.34 Uhr K könnte der Sektorleiter des FE, Kristian Stendtler, sein. Er hat Urlaub.

Signe antwortet mit einem Sehr gut!! und steht auf. Sie könnte die Nachricht natürlich einfach an Veronika weiterleiten, doch auch wenn es erst wenige Stunden her ist, seit sie die junge Frau im Schrebergartenhaus untergebracht hat, beschließt sie, erneut hinauszufahren. Ihr ist nicht ganz wohl beim Gedanken, dass Veronika ganz allein dort ist, und sie will sich gern mit eigenen Augen vergewissern, dass sie okay ist. Dass alles okay ist. Sie steht auf, zieht das Schulterholster an und schlüpft in ihre Jacke. Schaltet ihr Diensthandy aus und steckt es zusammen mit dem anderen Telefon in die Tasche.

Ihr Auto ist an der Straße geparkt. Sie schaut sich nach beiden Seiten um, alles sieht normal aus, das einzige Auto in der Straße außer ihrem eigenen ist ein schwarzer Renault Megane, dessen Besitzer sie kennt.

Unterwegs biegt sie zweimal ab und nimmt einen Umweg statt der direkten Route. Beide Male durch Wohngebiete mit praktisch null Verkehr, wo sie langsam herumfährt und außerdem fünf Minuten lang hält, bis sie absolut sicher ist, dass niemand ihr folgt.

Sie parkt den Wagen hundert Meter vom Haus entfernt. Statt geradewegs darauf zuzugehen, nimmt sie einen Pfad einige Häuserreihen weiter weg. Sie kommt an einem anderen Parkplatz vorbei, auf dem fünf Autos stehen – kein grauer Lieferwagen, allesamt Kleinwagen und Fahrzeuge der Mittelklasse älteren Datums. Sie wendet sich nach rechts, betritt eine große Grünfläche, die an Lisas Haus grenzt, und geht an der Hecke entlang, bis sie die weiße Gartenpforte erreicht. Sie ist sich sicher. In der Gegend ums Haus herum ist nichts Auffälliges zu sehen. Keine Autos, die herausstechen. Okay, doch, ein paar Plätze neben ihrem eigenen steht ein weißer Bentley im Wert von mehreren Millionen Kronen. Der gehört einem Rocker, der hier ein Schrebergartenhaus besitzt, hat Lisa erzählt. Jedes Mal, wenn sie den Schlitten sieht, kotzt es sie an, dass ein Mitglied einer kriminellen Bande unbehelligt hier herumkurven und sich auf diese Weise aufblasen kann.

Signe klopft an die Tür und drückt die Klinke herunter. Es ist abgeschlossen.

Sie klopft erneut und sagt halblaut: »Veronika, ich bin’s, Signe.« Ein Moment vergeht, dann wird die Tür geöffnet. Erleichtert atmet sie auf und folgt Veronika ins Wohnzimmer.

»Ich wollte nur schauen, wie es Ihnen geht«, sagt Signe.

»Es ist alles okay. Ich halte mich nur drinnen auf.«

»Gut. Nur für den Fall der Fälle«, sagt sie und fügt schnell hinzu: »Wobei ich nicht glaube, dass jemand Notiz davon nimmt, dass Sie hier sind.«

»Die Nachbarn schon. Einer von ihnen hat vor einer Stunde angeklopft. Er wollte nur nachsehen, wer im Haus ist. Ich habe gesagt, dass ich das Haus von Ihrer Schwester und Ihrem Schwager kurzzeitig gemietet habe. Lisa und Jakob hießen sie, richtig?«

»Genau. Das war sicher Kurt. Graues Stoppelhaar, Schnurrbart und ein ziemlicher Schrank?«

»Das kommt hin. Er war nett, und eigentlich ist es beruhigend zu wissen, dass er aufpasst.«

»Ja, das tun sie hier in der Regel. Sie brauchen keine Angst zu haben … also davor, dass jemand Sie findet.«

»Habe ich auch nicht.«

»Ich habe einen Namen für Sie. Charlotte hat herausgefunden, dass es sich bei ›K‹ möglicherweise um einen Mitarbeiter des FE namens Kristian Stendtler handelt. Ich hätte natürlich auch einfach eine Nachricht mit dem Namen schicken können, aber …«

»Nein, hätten Sie nicht.« Veronika lächelt verlegen. »Mir ist das Handy ins Klo gefallen.«

»Oh nein, Mist. Das ist mir auch schon mehrfach passiert.«

»Aber mir noch nie. Zum Glück war es nicht eingeschaltet, also sollte es überleben.«

»Als es mir das letzte Mal passiert ist, meinte einer meiner Kollegen, man solle das Handy in eine Packung Reis legen, dann würde die Feuchtigkeit herausgesaugt. Ich weiß nicht, ob es wirklich daran lag, aber es funktionierte dann jedenfalls wieder.«

»Ja, ich habe auch schon gehört, dass das helfen soll, deshalb habe ich es in eine Schale mit Reis gelegt, den ich in der Küche in einer schwarzen Dose gefunden habe, und sie in die Sonne gestellt. So ist es hoffentlich bald wieder einsatzbereit.«

»Wir werden ja sehen. Sonst müssen wir Ihnen morgen ein neues kaufen.«

»Also, Kristian Stendtler, sagen Sie?«

»Ja. Was haben Sie vor?«

»Als Erstes mal seine Handynummer oder -nummern und seine Adresse herausfinden. Und versuchen, einen Blick in die Systeme des FE zu werfen und zu schauen, was er für ein Typ ist. Seine Personalakte könnte zum Beispiel interessant sein.«

Signe macht ein skeptisches Gesicht. »Kommen Sie wirklich an solche Informationen? Vom FE?«

»Davon gehe ich stark aus.«

»Ohne dass sie es mitkriegen?«

»Klar. Falls sie irgendwann entdecken, dass jemand bei ihnen herumgeschnüffelt hat, können sie die Systeme natürlich herunterfahren. Aber es wird sie sehr viel Zeit kosten dahinterzukommen, was passiert ist. Lange genug, dass ich längst über alle Berge bin.«

»Hm. Klingt ja sehr beruhigend. Ich meine, in Bezug auf unser aller Datensicherheit.«

»Tja, darauf würde ich mich an Ihrer Stelle nicht allzu sehr verlassen.«

»Nein, scheint mir auch so.«

»Haben Sie noch weitere Namen für mich?«

»Keine anderen als die, die ich Ihnen schon genannt habe: Svend Bech-Olesen und Henrik Christoffersen.«

»Okay. Ich werde erst mal danach suchen, ob die drei miteinander kommuniziert haben. Mails und vielleicht auch Telefongespräche, falls wir Glück haben.«

»Am interessantesten für uns ist der Chef, Henrik Christoffersen. Wenn Sie herausfinden können, mit wem er in der Zeit nach dem Anschlag Kontakt hatte …«

»Mache ich.«

»Super. Dann fahre ich mal wieder.« Wie schon vor einigen Stunden, als sie Veronika hier allein gelassen hat, denkt Signe, wie verletzlich die junge Frau doch wirkt. »Wir sehen uns morgen irgendwann. Und Sie haben alles, was Sie brauchen?«

»Ich komme klar.«

Auf dem Parkplatz schaut sich Signe erneut nach allen Seiten um und stellt fest, dass alles normal und friedlich aussieht. Sie schickt eine Nachricht an Charlotte: Wir sind dran. Ich komme zu dir.