Es ist kurz vor acht, als Signe die Tür zu ihrem Büro öffnet. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten ist sie nicht um vier Uhr aufgewacht, sondern erst um kurz vor sechs, und sie fühlt sich erstaunlich ausgeruht.
Als sie gestern Abend nach dem Besuch bei Victor nach Hause kam, hatte Niels ihr etwas vom Abendessen aufgehoben. Keines der Kinder war zu Hause. Sie setzte sich an den kleinen Esstisch in der Küche und bemühte sich, ihr schlechtes Gewissen auszublenden, während er die Reste eines vegetarischen Nudelgerichts für sie aufwärmte. Sie versuchte, seine Laune zu sondieren, und kam zu dem Ergebnis, dass sie wohl einigermaßen normal war, sprich latent passiv-aggressiv. Nachdem er ihr eine Portion auf den Teller geschöpft und hingestellt hatte, setzte er sich ebenfalls an den Tisch. Mit dem Rücken zur Wand, sein Gesicht von ihr abgewandt.
»Mhm, schmeckt lecker«, sagte sie mit dem Mund voller Pasta.
Er brummte etwas, das wie »Gut« klang.
Nach einer Minute Schweigen wandte er sich ihr zu, legte die Unterarme auf den Tisch, die Hände übereinander, und beugte sich vor. Was kommt jetzt?, dachte sie.
»Signe, es gibt da etwas, was ich mich frage. Schon eine ganze Weile.«
»Und zwar?«
»Was ist das mit dir und diesem Troels Mikkelsen?«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie schaufelte sich schnell einen Löffel Spirelli in den Mund, um Zeit zu gewinnen, beugte den Kopf tief über den Teller und kaute.
»Was meinst du?«, nuschelte sie.
»Ich finde nur … also, kurz nach Neujahr, als wir uns mit ihm in der Cocktailbar getroffen haben, weil ich ihm dafür danken wollte, dein Leben gerettet zu haben … weißt du noch?«
Ob sie es noch wusste? Sie nickte.
»Da hatte ich so ein Gefühl, als ob da irgendetwas zwischen euch wäre, was ich nicht richtig einordnen kann. Du warst so wahnsinnig steif und reserviert ihm gegenüber. Und seitdem habe ich mich gefragt, ob da vielleicht etwas zwischen euch läuft?«
»Wie, zwischen uns läuft?«
»Na ja, ob ihr eine Affäre habt?«
Sie spürte Erleichterung durch ihren Körper strömen. Für eine Handvoll schreckstarrer Sekunden hatte sie geglaubt, er sei dahintergekommen, worum es in Wahrheit geht. Dass der Moment, den sie seit bald drei Jahren voller Angst erwartet – der Moment, in dem Niels durchschaut, was ihr an jenem Abend nach der Weihnachtsfeier widerfahren ist –, nun gekommen wäre. Aber so war es glücklicherweise nicht. Vielmehr hatte er sogar ein hübsches Stück danebengetroffen.
Sie lächelte.
»Niels, im Ernst jetzt. Ich? Eine Affäre mit Troels Mikkelsen? Weißt du, die Sache ist, dass ich ihn nicht besonders gut leiden kann. Um es freundlich auszudrücken. Genauer gesagt kann ich ihn nicht ausstehen. Er ist ein verdammt guter Ermittler, aber dermaßen selbstgefällig und aufgeblasen, dass ich kotzen möchte. Ich habe ja die letzten Wochen mit ihm zusammengearbeitet – das habe ich dir erzählt, oder?«
Niels nickte.
»Wenn du also irgendetwas gemerkt hast, dann dass ich genervt war, weil ich mit einem Kollegen zusammenarbeiten musste, den ich nicht abkann. Auch wenn er mir das Leben gerettet hat. Also, Niels, ich habe und hatte keine Affäre mit Troels Mikkelsen«, sagte sie und dachte, dass es ja schließlich stimmte. Allerdings kam sie nicht umhin zu denken, dass es, wenn es halbe Wahrheiten gibt, auch halbe Lügen geben muss.
»Okay, dann bin ich beruhigt.« Er griff ihre Hand. »Aber da ist noch etwas … wir haben nie richtig darüber gesprochen, aber, wir zwei hatten doch früher ziemlich guten Sex, oder?«
Sie nickte, erwiderte jedoch nichts. Spürte erneute Unruhe in sich aufsteigen. Worauf wollte er jetzt hinaus?
»Das haben wir nicht mehr, Signe. Um es mal freiheraus zu sagen. Was zur Hölle ist mit uns passiert?«
Jetzt kommt er doch, dachte sie verzweifelt. Der Moment. Und sie wusste nicht, was sie sagen sollte, um ihn zu stoppen.
»Ich habe versucht zurückzudenken, um zu sehen, ob ich den Punkt finden kann, an dem es anfing schiefzulaufen. Und so wie ich es erinnere, muss um Neujahr vor zweieinhalb Jahren irgendetwas passiert sein. Stimmt das?«
Stopp, Niels! Stopp! Aber er fuhr fort.
»Es tut mir leid, dass ich es nicht schon früher angesprochen habe. Das war feige von mir. Aber ich glaube, ich hatte Angst, mit dir darüber zu sprechen, dass du keine große Lust mehr auf mich hast. Ich hatte ganz einfach Schiss, du würdest sagen, dass du mich nicht mehr liebst.«
Ihr erster Impuls war, es herunterzuspielen. Zu sagen, dass er sich irrte. Dass seine Sorge aus der Luft gegriffen war. Nichts sich verändert hatte. Aber das wäre praktisch dasselbe gewesen wie zuzugeben, dass etwas geschehen war und sie bloß nicht vorhatte, ihn einzuweihen. Denn es war so himmelschreiend offensichtlich, dass etwas passiert war. Dass sich ihre Beziehung dramatisch verändert hatte.
»Ich habe auch darüber nachgedacht. Und du hast recht, irgendetwas hat sich verändert. Aber ich glaube nicht, dass es mit einem konkreten Ereignis zu tun hat«, log sie. »Ich denke, es sind mehrere Dinge. Wir zwei sind schon so viele Jahre zusammen, und wir wären schließlich nicht das erste Paar, das erlebt, wie die Beziehung mit der Zeit etwas abflacht, oder? Ich gebe auch gern zu, dass ich zu viel arbeite. Das werde ich versuchen zu ändern. Außerdem …«
»Ja?«
»Außerdem glaube ich, dass ich in die Wechseljahre komme.«
»In die Wechseljahre? Ganz ehrlich, Signe, du bist erst zweiundvierzig.«
»Bald dreiundvierzig. Aber bei manchen Frauen passiert es früher als bei anderen. So ungewöhnlich ist das nicht. Ich habe im Internet recherchiert. Vielleicht sollte ich Hormontabletten nehmen.«
»Hm. Ich erinnere es bloß so, als ob es sich von einer Woche auf die andere verändert hätte. Als ob du irgendetwas erlebt hättest, was dich traurig gemacht hat.«
Sie stand auf und ging zu ihm hinüber, nahm sein Gesicht in beide Hände und schaute ihm in die Augen. »Niels. Ich habe keine Affäre. Und mir ist nichts passiert, was mich traurig gemacht oder deprimiert hat oder so. Ich muss mich einfach zusammenreißen und wieder mehr in die Beziehung investieren. Wir müssen beide mehr investieren.«
Eine Lüge, die in weißer Weste daherkommt, kann so dreckig werden, dass man sie nicht länger guten Gewissens als weiß bezeichnen kann.
Der restliche Abend verlief in friedlicher Eintracht, die Kinder kamen nach Hause und verzogen sich schnurstracks mit ihren jeweiligen iPads auf ihre Zimmer, während Niels und sie einen todlangweiligen norwegischen Spielfilm schauten. Anschließend gingen sie ins Bett, und sie war heilfroh, zuvor nicht mit Victor geschlafen zu haben, denn das hätte ihre Lügen und ihren Verrat in gewisser Weise noch schmutziger gemacht als ohnehin schon der Fall.
Acht Stunden später setzt sie sich an ihren Schreibtisch auf Teglholmen, schaltet den Computer ein und checkt ihr Postfach: Wieder einmal erinnert der Vertrauensmann seine Kollegen in einer E-Mail daran, sich zeitnah Hilfe zu suchen, falls man Anzeichen psychischer Belastung spürt, beispielsweise in Folge gewaltsamer Erlebnisse.
Die Morgenbesprechung in einer halben Stunde wird vermutlich der gestrigen gleichen – die ungewöhnlich kurz war, da sie sich bezüglich des Mannes aus Kongelunden nicht vom Fleck gerührt hatten und auch keiner wusste, wie sie weiterkommen sollten. Sie ist ziemlich sicher, dass nun jemand vorschlagen wird, die Öffentlichkeit bei der Identifizierung des Mannes um Hilfe zu bitten. Auch wenn das bedeutet, dass man dann nicht umhinkommen wird, den fehlenden Kopf zu erwähnen, und man nur eine verhältnismäßig kurzgefasste Personenbeschreibung herausgeben kann. Es lässt sich nicht ausschließen, dass jemand auf die Suchmeldung reagiert, so viele Rothaarige von fast zwei Metern Körpergröße gibt es schließlich nicht in Dänemark. Sollte der Mann anschließend als Alexander Hansen, Angestellter beim FE, identifiziert werden, muss sie sich etwas einfallen lassen. Zumindest ist es unwahrscheinlich, dass es vor Ablauf der nächsten zwei Tage geschieht, darum wird sie sich also kümmern, wenn es so weit ist. Bis dahin kann viel passieren.
Sie könnte das Süppchen auch am Köcheln halten, indem sie ein paar Ermittler nach Amager schickt, um ein weiteres Mal bei den Häusern und Höfen in der Nähe von Kongelunden nachzuhören, ob jemand letzte Woche in der Nacht zwischen Donnerstag und Freitag etwas Verdächtiges bemerkt hat. Das haben sie zwar bereits getan, allerdings wäre es nicht ungewöhnlich, wenn sie es erneut versuchen würden, zumal angesichts der Tatsache, dass es an anderweitigen Vorschlägen mangelt.
Sie lehnt sich zurück und legt die Beine auf den Tisch. Noch nie hat sie dieses Gefühl gehabt: nicht zu wissen, wen sie jagt. Und ob sie selbst gejagt wird.
Wissen diese Leute, dass sie Kontakt mit Charlotte hat?
Falls sie Junckers Frau tatsächlich beobachtet haben, ist ihnen sicher nicht entgangen, dass Signe sich mit Charlotte getroffen hat, sowohl bei ihr zu Hause als auch im Café in Nørrebro. Andererseits, falls sie es wissen, hätten sie dann nicht längst versucht, sie aufzuhalten? Denn wenn es so weit hinaufreicht, wie es den Anschein macht, können sie vermutlich jeden stoppen, wenn sie nur wollen. Und dann wäre sie sicher längst ins Büro des Polizeidirektors bestellt worden, um Rede und Antwort zu stehen, und anschließend zunächst suspendiert und dann wahrscheinlich gefeuert und hinter Schloss und Riegel gesteckt worden. Das ist nicht passiert. Noch nicht.
Aber warum haben sie nichts gegen Charlotte unternommen? Vielleicht haben sie Angst, wie viel sie ihren Kollegen von der Zeitung erzählt hat. Eine einzelne Journalistin zum Schweigen zu bringen ist nicht dasselbe, wie eine ganze Redaktion mundtot zu machen.
Wie auch immer, Charlotte und sie haben alle Hände voll zu tun. So viel steht fest. Und Teufel noch mal, was würde sie geben, um herauszukriegen, wer diese grauhaarige Frau und ihre Entourage ist. Ein Trupp Müllmänner, der aufräumen soll, wenn das System so richtig Scheiße baut? Unter der Kontrolle von jemandem, der anscheinend meint, dass alles erlaubt ist, solange es um die ›nationale Sicherheit‹ geht, und der offenkundig der Überzeugung ist, der Zweck heilige alle Mittel? Sogar Killerkommandos?
Sie schüttelt den Kopf. Was geschieht nur mit diesem Land?
Es ist kurz vor halb. Draußen auf dem Gang hört sie Merlins eilige Schritte, also schwingt sie die Beine vom Tisch und steht auf.