EIN ALTER KOSENAME
LANSBERG AN DER WUPPER, 18. JUNI
ABIBALL DES KONRAD-ADENAUER-GYMNASIUMS
»Du hast aber doch gesagt, dass du das Auto bekommst!« In meinem Schminkspiegel sehe ich, wie ich mir entnervt an die Stirn greife. Fuck. Mein ganzer Abend war darauf ausgerichtet, dass Anouk mich einsammelt. Vom Timing bis zur Auswahl des Kleides. Hätte ich gewusst, dass sie mich eine halbe Stunde vor Abfahrt hängen lässt, wäre dieser Fummel sicherlich nicht in meinem digitalen Einkaufswagen gelandet. Der Stretchanteil meines wadenlangen Bodycon-Kleides ist zwar hoch – aber nicht hoch genug, um eine zwanzigminütige Fahrt auf dem Rad zu überstehen.
»Ich konnte schlecht vorhersehen, dass unser Kombi einen Motorschaden haben würde und meine Eltern deswegen mit dem Transporter zum Sängerheim fahren müssen.« Den Transporter nutzt Anouks Familie für gewöhnlich nur, um Auslieferungen für ihren Bauernhof zu übernehmen. Anouk hasst diese Karre, weil sie fast zwanzig Jahre alt ist, keine Servolenkung besitzt und mit einem riesigen Logo des Vogelhofs bedruckt ist. Was gäbe ich dafür, dass auf unserem Auto einfach nur Werbung für einen Bauernhof wäre …
»Ich kann nicht mit dem Rad fahren«, protestiere ich und versuche, mit einem Pinsel den Bronzer auf meinen Wangen zu verteilen, den ich vor Schreck ein bisschen zu großzügig draufgeklatscht habe.
»Nun hab dich mal nicht so. Ich weiß, du bist eine Diva, aber …«
»Nein. Nein, das hat nichts mit Divengehabe zu tun. Es ist mir rein physikalisch schlichtweg nicht möglich. Es gibt eine gewisse Unverhältnismäßigkeit zwischen dem benötigten Hebeleffekt meiner Beine und der Weite meines Kleidersaums.«
»Soll heißen …?«
»Dass mein Kleid platzt, wenn ich es versuche. Es ist eng. Sehr eng.«
Anouk stöhnt genervt. Klar, sie kann das auch nicht nachfühlen. Anouk trägt niemals eng anliegende Kleider. Oder überhaupt etwas Enganliegendes. »Warum genau hast du dich für ein Kleid entschieden, in dem du dich kaum bewegen kannst?«
»Weil ich verdammt gut darin aussehe. Und weil ich allen den Mittelfinger zeigen will, die bisher dachten, dass man ab Kleidergröße vierzig nur in den Wallegewändern eines römischen Senators auf Tanzveranstaltungen gehen darf.«
»Oh, cool. Ich wusste nicht, dass du auf unserem Abiball so eine Art politisches Statement abgeben willst. Jetzt fühle ich mich noch schlechter, dass ich dich nicht abholen kann.«
Ich lache und klappe mit einem Schnappgeräusch das Bronzingpuder zu. Wenigstens bin ich jetzt schon mal fertig geschminkt.
»Okay, ich muss leider die unausweichliche Frage stellen …«, beginnt Anouk.
»Nein«, donnere ich sofort, weil ich genau weiß, was sie vorschlagen will.
»Aber wieso …?«
»Weil.« Einsilbige Antworten sind nicht gerade typisch für mich. Meine Freundinnen wissen, dass die Kacke am Dampfen ist, wenn ich mal nicht episch weit aushole.
Ich klemme mir das Handy zwischen Schulter und Ohr ein und suche nach meiner Handtasche.
Shit. Jetzt werde ich auch noch nervös. Ich werde nie nervös.
»Du sagst doch immer, du stehst darüber!«
»Ich stehe auch darüber. Es ist nicht wegen des Autos.« Wo ist meine verfluchte Handtasche?
»Also dann …«
»Nein, ich mein’s ernst, Anouk, ich werde sie nicht fragen.«
Ah, da ist sie! Die rechteckige schwarze Clutch in Krokolederoptik liegt auf meiner Kommode. Also genau dort, wo ich sie gestern Abend platziert habe, als ich mein Outfit noch einmal Probe getragen und mich dabei wie die kleine Schwester von Plus-Size-Supermodel Ashley Graham gefühlt habe. Alles ist gut, Polly, jetzt nur nicht die Nerven verlieren.
»Ich rufe Anna an«, schlage ich vor. »Vielleicht kann sie uns abholen.«
»Anna fährt wie vereinbart mit ihren Eltern und Brüdern hin.«
Ich stoße ein Ächzen aus. »Wie passen die eigentlich alle zusammen in eine Karre? Sind ihre Brüder nicht jeweils drei Meter breit?« Die gesamte Familie Jagoda ist ultrasportlich und besteht nur aus Erfolg und Muskeln. Sie betreibt das Fitnessimperium Lose it & Love it – ein Onlineprogramm, mit dem man in ein paar Wochen schlanker und definierter werden soll. Alle fünf, Annas Eltern, sie und ihre Brüder, sehen aus, als wären sie selbst ihre besten Kunden.
»Ach Quatsch. Jonas ist maximal zwei Meter breit, Paul dafür aber vielleicht vier.«
Gegen meinen Willen lache ich über diesen Kommentar. Annas Brüder … sie sind berühmt-berüchtigt bei jedem heterosexuellen Mädchen, das in Lansberg groß geworden ist. Bis auf Anna selbst natürlich. Und Anouk, die mit ihrem Freund Kaya gefühlt schon seit ihrer Geburt zusammen ist. Und, na ja … bei mir auch nicht. Ich bin zu clever, um mich in einen Kerl wie Paul Jagoda zu verknallen. Böse Zungen würden sagen, dass ich bei ihm sowieso keine Chance hätte, weil er der sexy Muskelprotz ist und ich die lustige Dicke bin. Aber damit habe ich kein Problem. Genauso wenig, wie ich ein Problem damit habe, mich selbst dick zu nennen. Ich bin dick. Na und? Es ist nur ein Wort und es trifft auf mich zu. Wieso sollte ich mich damit unwohl fühlen?
Jedenfalls ist das nicht der Grund, wieso ich nie auf die offensichtlich hotten Jagoda-Brüder gestanden habe. Ich habe Wichtigeres zu tun. Meine Karriere anleiern zum Beispiel. Ach ja. Und da gab es natürlich diesen einen Kerl, der mich gelehrt hat, von heißen Typen die Finger zu lassen. Diesen Kerl, dessen Name ich nicht mehr ausspreche, weil er äußerlich zum Anbeißen und innerlich zum Wiederausspucken war. So etwas kann ich beim besten Willen kein weiteres Mal gebrauchen.
»Also, wie machen wir es nun? Quälst du dich aufs Rad oder springst du über deinen Schatten und fragst deine Mutter?«
Wie auf Kommando geht die Tür meines Zimmers auf und besagte Mutter tritt polternd herein. Diese Frau kann wirklich nichts leise und diskret tun – die vielleicht einzige Gemeinsamkeit unserer sonst komplett unterschiedlichen Charaktere. Ihr wäre es in meinem Alter zum Beispiel äußerst wichtig gewesen, dass Paul Jagoda auf sie abfährt. Und auch heute macht sie sich noch von Männern abhängig und definiert sich rein darüber, was andere von ihr denken. Was ironisch ist, wenn man bedenkt, dass sich die halbe Stadt das Maul über ihren Nebenjob zerreißt.
»Oh«, macht Mama, als sie an mir hinabsieht. Ich kann in ihrem Blick lesen, dass ihr etwas auf der Zunge liegt. Doch sie spitzt nur die Lippen und sagt: »Das ist also das Kleid, um das du so ein Geheimnis gemacht hast?«
»Ist das deine Mutter? Fragst du sie?«
Ich ignoriere Anouk und zische stattdessen meiner Mum zu: »Offensichtlich.«
»Ich frag ja nur.« Verteidigend streckt sie die Hände von sich.
Und genau das ist der Grund, wieso ich – wie sie es nennt – so ein Geheimnis darum gemacht habe. Weil sie nie sagen kann, dass ich gut aussehe. Komplimente kommen bei meiner Mutter immer mit einem Disclaimer daher: Mit zehn Kilo weniger wärst du noch hübscher. In Kleidergröße achtunddreißig sähe das noch toller aus. Dieses noch in Mamas fragwürdigen Schmeicheleien trifft mich jedes Mal aufs Neue wie ein Peitschenschlag.
»Fragst du sie?«, will Anouk schon wieder wissen. »Falls nicht, muss ich nämlich jetzt sofort losradeln.«
Ich gebe mir einen Ruck und bringe die Worte »KannstduunszumAbiballfahren?« in einem einzigen Schwall heraus. Meine Mutter hat mir schon vor Wochen eröffnet, dass sie heute Abend nicht mitkommen wird. Ihr schlichtes »Oh? An einem Freitagabend? Aber, Schatz, da kann ich doch nicht!« hat mich nicht überrascht. Ich habe sie nicht einmal gefragt, ob sie wirklich dachte, die Ballnacht würde an einem Mittwochnachmittag abgehalten werden, um ihr besser in den Terminplan zu passen. Nicht, dass sie sich mittwochnachmittags Zeit genommen hätte. Da muss sie nämlich auch arbeiten. Allerdings in ihrem Hauptjob als Buchhalterin.
»Ich dachte, Anouk holt dich ab?«
Ich ringe erneut um Fassung, schalte das Mikro auf meinem Handy aus, damit Anouk die nachfolgende Unterhaltung nicht mithören kann, und erkläre: »Das Auto ist kaputt. Ihre Eltern mussten umdisponieren. Also … könntest du?«
Theatralisch schaut Mama auf die noble, mit Steinen besetzte Uhr an ihrem schmalen Handgelenk, schüttelt sich anschließend das geföhnte Haar auf und sagt: »Dann aber jetzt sofort. Ich habe um sieben die erste Party.«
Nie fand ich den Begriff Party unangemessener. Ich würde lieber auf eine Party gehen, auf der sich die Gäste gegenseitig mit stumpfen Messern den Blinddarm entfernen, als auf eine von Mamas Sexy-Hexy-Veranstaltungen.
»Noch so ein Drink und ich wäre bereit, mir von deiner Mutti eine Einführung in ihr Sortiment geben zu lassen, Polly!«
Ich nehme den Cocktail entgegen, der mir soeben über die Theke gereicht wurde, und sehe mit hochgezogenen Augenbrauen zu dem Typen neben mir. Es ist Bennet, einer meiner Klassenkameraden. Oder besser gesagt: einer meiner ehemaligen Klassenkameraden. Und zwar einer von der Sorte, die mir nach heute Abend definitiv gestohlen bleiben kann.
»Verstanden? ’ne Einführung!«
Ich blinzle ein paarmal provokativ, um ihm zu zeigen, dass der lahme Witz nicht besser wird, nur weil er ihn wiederholt. Ich hab’s kapiert: Meine Mutter verdient ihr Geld damit, Sexspielzeug auf Dildopartys zu verticken. Get over it. Ich selbst bin zwar noch lange nicht darüber hinweg, aber das ist ein anderes Thema.
»Mehr hast du nicht drauf?«, frage ich, während Bennet mich noch immer wie ein Mensch gewordener Zwinkersmiley anstarrt und auf eine Reaktion hofft.
Ich lasse ihn stehen und werfe ihm eine Fuck-off-Geste über die Schulter zu. Es soll ja Leute geben, die die Schule nach ihrem Abschluss vermissen. Das wird mir garantiert nicht passieren. Ich weiß einfach, dass ich für das Berufsleben gemacht bin. Davon trennt mich zwar noch ein mehrjähriges Jurastudium, aber diese Zeit kriege ich auch noch rum. In ein paar Jahren sitze ich schmalspurigen Proleten wie Bennet dann im Verhandlungssaal gegenüber und verknacke sie wegen Steuerhinterziehung. Oder wegen einer überstehenden Gartenhecke. Memo an mich: Nicht auf Zivilrecht spezialisieren.
Ich lasse meinen Allerwertesten auf dem Weg von der Bar zurück zu unserem Tisch noch ein wenig ausladender schwingen und setze mich schließlich wieder zwischen meine besten Freundinnen. Anna und Anouk sind in ein Gespräch über Annas anstehenden Portugalurlaub vertieft, eine Luxusreise, die ihre Eltern ihr zum Abschluss geschenkt haben. Normalerweise habe ich kein Problem damit, mich in eine Unterhaltung einzuklinken, aber in diesem Moment möchte ich einfach nur ungestört meinen Cocktail trinken und die Scham, die ich empfinde, gleich mit hinunterspülen.
Ja, ich tue immer so, als stünde ich über allem. Als kümmerte es mich nicht, dass meine Mutter lieber den Bunny 2001 an eine Schar kichernder Junggesellinnen verhökert, als an meinem Abiball teilzunehmen. Als hätte ich nicht mitbekommen, dass Annas und Anouks Eltern ihre Abwesenheit negativ aufgefallen ist. Als könnte ich ihren Nebenjob wohlwollend unter freie Auslebung weiblicher Lust abhaken.
Aber die Sache ist die: Ich kann’s nicht. Ich kann zwar nach außen hin so tun, als wäre ich stärker als all das, doch in mir drin sieht es anders aus. Und deswegen wird es Zeit, dass ich endlich hier wegkomme. Weg aus der Kleinstadt, in der jeder eine vorgefertigte Meinung über jeden hat.
»Alles okay bei dir, Pollyschmolly?«
Widerwillig hebe ich den Blick von meinem Glas mit klebrig-süßem Alkohol und entdecke Annas Bruder Jonas. Er sitzt schräg gegenüber am Kopfende des Tisches, die Krawatte mit gelöstem Knoten um seinen Hals, das weiße Hemd oben ein wenig offen. Jesus … wie kann ein Mensch nur derart viel Sport treiben, dass man die trainierte Brust selbst dann erkennen kann, wenn nur drei Knöpfe geöffnet sind?
»So hast du mich nicht mehr genannt, seit …?«
»Seit du auf Annas dreizehntem Geburtstag schmollend in der Ecke gesessen hast, weil dich irgendein Kerl geärgert hat.«
»Er hat mich nicht geärgert. Er hat behauptet, sein Vater wäre Richter am Bundesverfassungsgericht. Dabei arbeitete er im Amtsgericht Lansberg.«
»Und das hat dich verdammt geärgert.«
»Nun ja …« Ich strecke beide Hände mit den Handflächen nach oben aus und wäge an ihnen mein Argument ab. »Diese beiden Gerichte agieren nicht mal nach derselben Gerichtsbarkeit. Das eine ist die Verfassungsgerichtsbarkeit und das andere … Ach, egal.« Jonas zwinkert mir zu. Sag mal … hat der Typ selbst trainiertere Augenlider als ein normaler Mensch oder wieso sieht das bei ihm so … elegant aus? Wenn ich versuche, jemandem zuzuzwinkern, macht er garantiert sofort den FAST-Test, um zu überprüfen, ob ich gerade einen Schlaganfall erleide.
»Also erzähl, was ist der Grund für den mürrischsten Blick seit dem großen Amtsgericht-Zwischenfall vor fünf Jahren?«
»Nichts«, sage ich. »Ich habe bloß darüber nachgedacht, dass ich das hier nicht vermissen werde. Die Schule, meine ich. Die Stadt …«
Jonas nickt langsam. »Ja, so ging es mir auch. Es ist besser rauszukommen.« Kurz wirkt er ein wenig verloren und schwenkt, wie zur Ablenkung, ein halb volles Glas mit Cola in der Hand. »Anna meinte, du ziehst auch nach Köln?« Am Ende des Satzes geht seine Stimme ein kleines bisschen hoch. Gerade genug, um seiner Frage den Small-Talk-Charakter zu nehmen.
»Jap«, mache ich und lasse den Buchstaben »p« bestimmt und genüsslich von meinen Lippen prallen.
»Lass mal was von dir hören, wenn es so weit ist.« Er schaut mich aus halb geöffneten Lidern an, was seine Augen dunkler und ihn noch attraktiver aussehen lässt. Was hat es mit Jonas’ omnipräsenter Nettigkeit auf sich? Kann er einfach nicht anders, als überall seinen Charme zu versprühen? »Ich zeig dir meinen liebsten Libanesen und bewahre dich mit meinem hart erworbenen Insiderwissen davor, auf die peinlichen Ersti-Partys zu gehen.«
»Wird gemacht.« Ich tippe mir zum Salut an den Pony. Mit einem Typen wie Jonas auf einer Uniparty aufzutauchen, ist ganz bestimmt so, als würde man in Lady Gagas Fleischkleid in einem Tigerkäfig spazieren gehen. Er sieht heiß aus und ist scheißnett. Diese Jagodas haben wirklich einen unfairen Genpool.
»In welchem Viertel willst du wohnen?«
Ich ziehe eine Schnute, die Pollyschmolly würdig ist, und winke ab. »Ist mir egal. Hauptsache, ich kann es bezahlen und muss dort keine Anrufe von Leuten entgegennehmen, die sich über die Akkulaufzeit des Bunny 2001 beschweren.«
Jonas zieht eine Augenbraue hoch.
»Das erkläre ich dir bei unserem Date beim Libanesen.« Das sage ich mehr im Scherz, aber Jonas lächelt so breit, dass ich jeden einzelnen seiner perfekten Zähne sehen kann. Bestimmt machen selbst seine Backenzähne zum Start in den Tag erst mal zehn Liegestütze. »Geht klar.«
Zu meiner Überraschung reicht Jonas mir die Hand, um den Deal zu besiegeln, und ich schüttle sie. Für den Moment fühlt es sich gut an, so zu tun, als würde er dieses Angebot ernst meinen. Dabei wissen wir beide, dass er und ich niemals gemeinsam essen gehen werden.