Kapitel

EINE VIKTORIANISCHE DAME MIT MUFFIN TOP

KÖLN, 11. OKTOBER
EINFÜHRUNGS­WOCHE UNI

Kapitel

Das wird der perfekte erste Tag in meinem neuen Lebensabschnitt. Perfektion gibt es nicht, ich weiß, aber der heutige Tag wird der Sache sehr nahekommen.

Alles, was ich dafür brauche, ist bereits in meiner neuen Bibliothekstasche aus Klarsichtmaterial verstaut, aber ich gehe es zur Sicherheit noch einmal durch: Ich habe meine neue Student-ID mit einem Passfoto, auf dem ich tatsächlich gut aussehe und nicht wie auf einem Mugshot, einen Laptop mit vollem Akku plus Ladekabel – nur um sicherzugehen – und einen gefüllten Coffee-to-go-Becher mit dem hoffentlich letzten Cappuccino aus der grottigen Kapselmaschine meiner Mutter. Wenn ich die Wohnung, die ich heute Abend besichtigen werde, bekomme und meine Suche nach einer neuen Bleibe damit endlich endet, werde ich mir einen eigenen Espressokocher zulegen. Dann muss ich nur noch lernen, wie man damit umgeht, ohne die Küche in Brand zu stecken, aber auch das kriege ich hin. Es wird hoffentlich leichter sein, als den wichtigsten Punkt auf meiner ewigen Lebens-To-do-Liste endlich abzuhaken: eine Wohnung finden, und zwar keine WG.

Ich habe einen Eintrag in meiner Notizen-App, in der ich seit Jahren Buch über meine Karriereplanung führe, und dieser Punkt steht direkt unter meinem Ziel, mich für das Jurastudium in Köln einzuschreiben. Dummerweise hat der Wohnungsmarkt einen weitaus härteren Numerus clausus als mein Studienfach. Alles ist knallhart zugangsbeschränkt.

Ich bin schon seit dem mündlichen Abi auf der Suche nach einer eigenen Bleibe und so langsam verliere ich den Mut. Dabei entspricht Aufgeben überhaupt nicht meiner Natur. Ich bin ein Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Mensch und es treibt mich in den Wahnsinn, mir nicht durch bloßen Ehrgeiz den Traum von einer eigenen Wohnung erfüllen zu können. Vor ein paar Wochen dachte ich noch, die Finanzierung würde die größte Hürde zu meinem neuen Zuhause darstellen. Doch letzte Woche habe ich völlig überraschend eine Zusage für eine Position im Office Management bei einer großen Kölner Wirtschaftskanzlei erhalten, die zumindest diese Sorge ausgelöscht hat.

Natürlich könnte ich nach Köln pendeln. Lansberg, wo ich mit meiner Mutter lebe, ist nur etwa vierzig Kilometer von der Rheinmetropole entfernt und die Zuganbindung ist gut. Doch neunzehn Jahre mit dieser Frau unter einem Dach waren mehr als genug. Jeder Tag mit ihr fühlt sich an, als müsste ich rund um die Uhr einen Sack Flöhe hüten. Diätbesessene, dauernörgelnde Flöhe, die viel zu viel Zeit auf dem Crosstrainer verbringen.

Wahrscheinlich habe ich mich deswegen so darauf versteift, eine eigene Wohnung zu finden, statt in einer WG unterzukommen. Das Zusammenleben mit meiner Mum hat mir jede Hoffnung genommen, dass zwei Menschen friedvoll unter einem Dach koexistieren können.

Es ist acht Uhr, als ich meine Zimmertür zuziehe und so leise wie möglich durch unseren Hausflur tapse. Doch mein Versuch, mich unbemerkt davonzustehlen, scheitert kläglich.

Die Stimme meiner Mutter dringt gedämpft aus dem Esszimmer: »Apolonia?«

Ich könnte sie jetzt zum tausendsten Mal auf meinen bevorzugten Rufnamen hinweisen, aber ich erspare mir ihre Standardantwort darauf: Wenn ich meine Tochter Polly nennen wollen würde, hätte ich sie Polly genannt. Damit hat sie vermutlich irgendwie recht, aber ich hasse meinen vollständigen Vornamen deswegen nicht weniger.

Ich stecke meinen Kopf durch die Tür. Mama sitzt noch in ihrem verschwitzten Sportfummel am Tisch und genehmigt sich zum Frühstück eine Pampelmuse. Wie sehr muss man von der Diätkultur der Neunzigerjahre zerfressen sein, um sich freiwillig eine Pampelmuse reinzuziehen?

»Ja?«

»Lass dich mal ansehen an deinem ersten Unitag!« Puuuh, here we go again. Eine als Kompliment getarnte Beleidigung in drei, zwei, eins … »Sehr schick. Blazer stehen dir wirklich gut. Nur der Knopf vorne hat vor ein paar Monaten noch etwas weniger gespannt, nicht?«

Was gäbe ich dafür, dass besagter Knopf genau in diesem Moment mit Karacho abplatzen und meiner Mutter genau zwischen die Augen schnellen würde.

»Wenn du ihn aufmachst, ist es noch ein bisschen schmeichelnder.« Mhm … noch. »Es betont irgendwie … du weißt schon …« Sie umfasst die Hüftknochen, die aus ihren Yogapants herausschauen, und kneift sich links und rechts in den nicht vorhandenen Speck. »Früher nannte man das ein Muffin Top.«

abs

Im Zug lasse ich auf die sinnvollste Art Luft ab, die ich kenne: Ich öffne WhatsApp und erstatte meinen besten Freundinnen Bericht darüber, dass meine Mutter sich auch heute früh nicht von ihrer charmantesten Seite gezeigt hat.

Ich bin seit der fünften Klasse mit Anna und Anouk befreundet und mindestens genauso lange verschweige ich ihnen, wie sehr mich die Sprüche meiner Mum in Wahrheit verletzen. Dabei teile ich eigentlich alles mit den beiden. Nur bei dieser einen Sache tue ich so, als ginge sie mir nicht an die unter dem Muffin Top liegenden Nieren. Wieso das so ist, kann ich nicht einmal genau sagen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die beiden schlank sind und das Gefühl nicht kennen, aufgrund ihres Gewichts abgestempelt zu werden. Vielleicht ist es aber auch ein zu großer Teil meiner Identität geworden, mich nicht um meine Figur zu scheren. Vor Anna und Anouk zuzugeben, dass meine Mutter mir mit ihren Kommentaren wehtut, fühlt sich an, als würde ich diese Einstellung verraten. Denn die Sache ist die: Ich habe kein Problem mit meinem Körper. Mein Körper beherbergt ein fantastisches Gehirn, das fast jedes Problem lösen kann und bei fast jeder Person gut ankommt. Nur … es ist wirklich verdammt harte Arbeit, sich nicht zu hassen, wenn man in einem Umfeld groß wird, das einen bei jeder Gelegenheit spüren lässt, wie verbesserungswürdig man ist. Manche Teenager nehmen Drogen, um gegen ihre Eltern zu rebellieren – ich habe beschlossen, mich selbst gut zu finden, obwohl ich nicht so schlank bin wie meine Mutter. Shocking.

Polly
Unitag numero uno startet mit einem neuen Silke-Highlight: Wisst ihr, was ein Muffin Top ist? Ich weiß dank ihr, dass ich eines habe. Und bei euch so?

Anna
Das hat sie nicht gesagt??! Das geht so echt nicht, Polly. Du musst ihr das klarmachen.

Manchmal hasse ich das Texten, weil man Leuten währenddessen so schwer ins Wort fallen kann. Ich bin nämlich Expertin im Ins-Wort-Fallen und wende es besonders gerne an, wenn meine besten Freundinnen darüber diskutieren wollen, wie man meine Mutter doch noch zu einem feinfühligeren Menschen erziehen könnte.

Polly
Ach, wieso denn? Ist doch nur ein klassischer Silke. Außerdem ist das Topping doch eh der beste Teil vom Muffin.

Anna
smiley
Na gut. Akzeptiert. Bist du schon in der Uni?

Polly
Gerade im Zug. Der übrigens so vollgepackt ist, dass er jeden Augenblick ebenfalls ein Muffin Top entwickeln wird. Allerdings eines aus Fahrgästen statt aus Hüftgold.

Anouk
Könntet ihr aufhören, über Gebäck zu reden? Ich hab noch nicht gefrühstückt.

Polly
Croissants, Schwarzwälder Kirsch, Berliner, Hefeteilchen, Brioche …

Anna
Pastéis de Nata …

Anouk
Bist du wieder im Portugal-Modus?

Anna hat den Sommer an der Atlantikküste verbracht, streunende Hunde gerettet, unfairerweise unbegrenzten Zugang zu portugiesischen Cremetörtchen gehabt und ganz nebenbei die Liebe ihres Lebens getroffen. Manche Leute erhalten das Glück eben in der XXL-Packung – aber keinem Menschen gönne ich das mehr als Anna. Mir hingegen würde ein kleines Testpröbchen voll Glück schon genügen. Ein heißer Surferdude wie Annas Freund Fynn muss darin nicht einmal enthalten sein. Eine Beziehung ist in meinem eng getakteten Fünfjahresplan nämlich nicht vorgesehen.

Anna
Gedanklich, ja. Fynn und ich haben ein portugiesisches Café in Köln gefunden, in dem wir gestern ein wenig nostalgisch geworden sind.

Anouk
Aaah, to be young and in love …

Ich lese Anouks letzte Nachricht mit einer gewissen Skepsis. Denn eigentlich treffen beide dieser Faktoren auch in hohem Maße auf sie zu. Anouk ist neunzehn, genau wie ich, und seit über drei Jahren mächtig in love mit ihrem Sandkastenfreund Kaya.

Bevor ich jedoch antworten kann, fährt mein Zug in den Kölner Hauptbahnhof ein und ich muss mich ranhalten, nicht von der Masse an Muffin-Top-Passagieren zerquetscht zu werden.

abs

Tag eins meiner Universitätskarriere läuft ein wenig schleppender an als gedacht. Ich bin ein ziemlich wissbegieriger Mensch – meine Mutter bevorzugt das Wort klugscheißerisch – und so fällt es mir schwer, die beiden Studenten aus dem dritten Semester, die uns zur Einführungswoche am vereinbarten Treffpunkt einsammeln, nicht sofort mit fachspezifischen Jurafragen zu löchern.

Die beiden heißen Justus und Konrad, was ich zunächst für einen Scherz halte. Doch sie haben entsprechende Hi-my-name-is-Sticker auf der Brust kleben, also muss etwas Wahres dran sein. Justus ist klein und schlank, mit einem Gesicht wie eine clevere Maus in einem Zeichentrickfilm. Konrad ist sehr groß und kräftig gebaut, er hat eine Figur, die ihn älter wirken lässt, eher wie jemanden, der schon angekommen ist im Leben. Beide tragen Outfits, die man wohl als typisch für Rechtswissenschaftler bezeichnen würde, vor allem Konrad passt mit seinen geschnürten Bootsschuhen, einem blau gestreiften Hemd und einem dünnen Schal genau ins Bild. Anouk würde diesen Look hassen, weil er Konrad aussehen lässt, als käme er aus reichem Hause. Ich aber habe eine Schwäche für Typen, die sich mit Anfang zwanzig so anziehen, als wären sie bereits am Ziel.

Justus und Konrad pferchen unsere fünfundzwanzigköpfige Gruppe mehr oder weniger begeistert dreinblickender Jura-Erstis in einen Seminarraum, wo sie eine PowerPoint-Präsentation mit dem Wochenprogramm aufrufen. Noch bevor sie den Text des ersten Slides herunterrattern, wird mir klar, dass wir diese Woche keine Paragrafen auswendig lernen werden. Der Beginn meiner Karriere als knallhartes weibliches Gegenstück zu Harvey Specter wird sich also um wenige Tage verzögern. Zunächst scheint nämlich eine Menge Socialising auf dem Plan zu stehen, angefangen bei einer Vorstellungsrunde über eine Campus-Rallye bis hin zu Kneipentouren an so ziemlich jedem Abend.

Keine Ahnung, wie ich das schaffen soll, wenn ich gleichzeitig so viele Wohnungsbesichtigungen wie möglich wahrnehmen will. Ich möchte nicht die Kommilitonin sein, die sich direkt in der ersten Woche aus allem ausklinkt, sondern Kontakte knüpfen und die anderen kennenlernen. Zumal wir eine bunt gemischte Truppe zu sein scheinen und die meisten echt nett aussehen. Es gibt noch ein paar weitere Klischeejuristen – wobei keiner den Look so verinnerlicht hat wie Konrad –, zwei, drei junge Frauen mit verdammt teuer wirkenden Handtaschen, etliche Normalos, deren Style sich unauffällig in das Gesamtbild einfügt, einige alternativ wirkende Jutetaschenträgerinnen und einen Typen, der offensichtlich ein großes Faible für das Mittelalter hegt. Lustigerweise gab es bisher in allen Jahrgangsstufen, in denen ich war, diese eine Person, die sich in ihrer Freizeit als Burgfräulein oder Elb verkleidet hat. Wobei dieser hier eher einen guten Zwerg abgäbe. Ein langer rotstichiger Bart umrahmt ein sympathisches Lächeln, das mich instinktiv zurücklächeln lässt.

Was die anderen wohl über mich denken? Denn dass wir einander alle auf den ersten Blick in Schubladen stecken, ist ja wohl klar – ob wir es wollen oder nicht. So ist unsere Gesellschaft nun mal gestrickt. Bin ich für sie eine der Normalos oder sortieren sie mich in die Kategorie Klischeejuristin ein? Oder denken sie einfach nur: Die Dicke dahinten trägt einen viel zu engen Blazer?

Arrrg. Nein. Stopp. Am liebsten würde ich mir gegen die Stirn schlagen, um diese Hirngrütze zu vertreiben. Genau aus diesem Grund muss ich zu Hause raus! Ich denke nie auf diese Weise über meinen Körper – es sei denn, meine Mutter hat ihn mal wieder kommentiert. Das muss aufhören. Dringend.

Wie aufs Stichwort klopft Konrad mit den flachen Händen auf seine Oberschenkel und sagt: »Dann wollen wir die Vorstellungsrunde mal beginnen.«

»Na, hoffentlich kommt jetzt kein komisches Spiel.« Ich drehe den Kopf zu meiner Rechten, wo diese Worte eben geflüstert wurden. Neben mir sitzt eine kurvig gebaute junge Frau, deren Kleidungsstil sich nicht drastischer von dem der Gruppenleiter – und streng genommen auch von meinem – unterscheiden könnte. Sie trägt ein offen stehendes Männerhemd mit einem Tanktop sowie sehr kurz abgeschnittene Shorts über Netzstrümpfen. Ihr Outfit gewährt einen tadellosen Blick auf die vielen in Erdtönen gehaltenen Tattoos, die ihre Arme, Beine und das Dekolleté zieren. Sie sticht so sehr aus der Gruppe heraus, dass ich mich frage, wieso mein Blick eben an Gimli, dem Zwerg, statt an ihr hängen geblieben ist. Was würde meine Mutter wohl sagen, wenn ich einen solchen Stil hätte? Ich meine: Sie hat einen rasierten Schädel, auf dem seitlich hinter dem Ohr die handtellergroße Tätowierung eines Eichhörnchens prangt. Kommt das auf der Ich-habe-als-Mutter-versagt-Skala vor oder nach Übergewicht?

Ich jedenfalls finde sie auf den ersten Blick atemberaubend. Vor allem, weil sie – genau wie ich – kein Problem damit zu haben scheint, mit einer Wildfremden ein Gespräch zu beginnen.

»Oh, ein Spiel wäre schlimm«, stimme ich ihr zu.

»Jeder sagt ein Wort, das ihn beschreibt, und der Sitznachbar muss etwas finden, das mit dem letzten Buchstaben dieses Wortes beginnt.« Sie schüttelt sich, als wäre ihr gerade ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Ich grinse sie breit an. »Oh! Oder: Ich packe meinen Koffer und nehme mit: Sebastians Ehrgeiz, Steffis Offenheit und meinen tollen Humor!«

»Puh, wenn das passiert, gehe ich.«

Wir kichern beide und damit ist das Eis gebrochen. Ich halte ihr meine Hand hin und sage schlicht: »Polly.«

»Mel. Hey! Wow! Das nenne ich mal einen Händedruck.« Sie schüttelt ihre Hand aus, als hätte ich ihr gerade mehrere Finger zerquetscht.

Zum Glück belassen es Justus und Konrad bei einer klassischen Vorstellungsrunde, bei der jeder ganz zwanglos ein paar Sätze über sich verlieren soll. Sie gehen nach dem Alphabet, weswegen gerade ein Aaron von seinem liebsten Hobby, dem Wakeboarding, berichtet. Ich habe keine Ahnung, was Wakeboarding ist – braucht man dazu Wasserski? –, und setze daher lieber meine geflüsterte Unterhaltung mit Mel fort.

»Meinst du, man muss sich ein paar rahmengenähter Schnürschuhe zulegen, wenn man das erste Jahr bestehen will?« Sie nickt zu Justus und Konrad.

»Mhm, nein, ich glaube, man hat bis zum ersten Staatsexamen Zeit dafür. Fürs zweite braucht man dann aber so einen Schal.«

»Vielleicht mag ich dich«, sagt sie geradeheraus, deutet mit dem Zeigefinger auf mich und untermalt jede Silbe mit einem verschwörerischen Nicken.

»Sehr gut«, erwidere ich. »Ich dich vielleicht auch.«

»Apolonia?«

Ich brauche einen Moment, bis ich checke, dass wohl kaum eine zweite Apolonia in diesem Seminarraum sitzt und demnach ich gemeint sein muss. Vierundzwanzig Augenpaare bohren sich in mich und mir wird klar, dass es sehr scheinheilig von mir war, Justus und Konrad aufgrund ihrer Vornamen eine gewisse Spießigkeit anzudichten. Ich heiße schließlich wie eine viktorianische Dame.

»Hi! Apolonia nennt mich nur meine Mutter. Ich heiße Polly. Ich bin neunzehn, ziehe demnächst in die Stadt und will Wirtschaftsanwältin werden.«