Kapitel

EIN HINTERHAUS
IM GRÜNEN

STADTRAND VON KÖLN, 11. OKTOBER
WOHNUNGS­BESICHTIGUNG

Kapitel

Die erste Hälfte des Tagesprogramms endet gegen sechzehn Uhr. Justus und Konrad geben uns vor der Verabschiedung die Wegbeschreibung zu der Kneipe mit auf den Weg, in der wir heute Abend auf den Anfang unseres Studiums anstoßen wollen. Meine Wohnungsbesichtigung ist um sechs, der Umtrunk beginnt zwei Stunden später. Das sollte locker zu schaffen sein, auch wenn sich die beiden Locations in entgegengesetzten Richtungen befinden. Bleibt nur noch das Problem, dass der letzte Zug nach Lansberg unter der Woche um halb zehn fährt. Ich müsste gegen neun also schon wieder Richtung Hauptbahnhof aufbrechen. So eine Scheiße. Die Wohnungsbesichtigung muss einfach ein Erfolg werden. Ich will keine weiteren wertvollen Unierfahrungen verpassen, weil ich die verfluchte Bimmelbahn erwischen muss.

»Wo wohnst du?«, frage ich Mel, als wir gemeinsam aus der Rechtswissenschaftlichen Fakultät spazieren und uns dabei fasziniert nach allen Ecken umdrehen. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass die nächste Phase meines Lebens begonnen hat. Die Phase, in der nur noch meine Leistung zählt. Die Phase, in der mein Notendurchschnitt nicht mehr durch vier Punkte in Sport runtergezogen wird. Die Phase, in der ich mir den Frühstückstisch nie wieder mit einer Pampelmuse teilen muss.

»Bei meinem Dad in Porz. Er ist ziemlich cool, daher schenke ich mir das Geld für die Miete. Und du?«

»Leider hab ich das Gegenteil von einem coolen Dad erwischt. Ich suche gerade etwas Eigenes, damit ich bei meiner Mutter rauskomme.«

»Komm mir nicht mit Müttern«, kommentiert sie mit einem Augenrollen. Vielleicht mag ich sie jetzt noch ein wenig mehr.

Während wir auf die nächstgelegene Haltestelle zulaufen, erzähle ich von meiner anstehenden Wohnungsbesichtigung und dem Dilemma mit der Abfahrtszeit der Bimmelbahn.

»Ich würde dich ja fragen, ob du bei mir pennen willst. Aber wir kennen uns erst seit sechs Stunden, das wäre also irgendwie weird. Vielleicht bin ich nächste Woche so weit.«

Ich muss laut loslachen. Ich weiß Menschen, die ihr Herz auf der Zunge tragen, wirklich sehr zu schätzen. Vorausgesetzt, ihr Herz ist kein Arschloch. Doch Mels scheint ein echtes Goldstück zu sein.

»Bis nächste Woche habe ich hoffentlich schon einen Mietvertrag.«

»Wo ist denn die Wohnung heute Abend?«

Ich nenne ihr die Adresse und krame schließlich mein Handy samt Google Maps hervor, weil Mel den Straßennamen nicht zuordnen kann.

»Oh«, macht sie. »Das ist so weit draußen, dass du genauso gut weiterhin aus Lansberg pendeln könntest.«

»Ich …« Doch meine Rückfrage wird von einem Rufen unterbrochen.

»Polly!«

Vom gegenüberliegenden Bürgersteig ist ganz deutlich mein Name zu hören. Mel und ich heben im Gleichtakt den Kopf und drehen uns zu der Stimme. Nur zwei Fahrspuren von mir entfernt steht … Jonas?

Ja. Es ist Jonas Jagoda, Annas älterer Bruder. Und ich habe keine Ahnung, was er hier macht. Das Wintersemester beginnt offiziell erst nächste Woche …

Ich kann seine weißen Zähne bis hierher blitzen sehen, als er den Mund zu einem breiten Grinsen öffnet. Er hebt den Arm auf diese typisch lässige Art zum Gruß, die man sich nur aneignet, wenn man das ganze Leben auf der Sonnenseite verbracht hat. Dann setzt er zu einem leichten Joggen an, überquert die Straße und hebt den Arm erneut, um einen anbrausenden Pkw-Fahrer zu besänftigen. Die Jagodas sind alle so lächerlich gut gelaunte und gut gebaute Menschen, dass Jonas bei diesem kleinen Run über die Straße aussieht, als würde er für Shampoo modeln. Der Gegenwind weht ihm das dunkelbraune Haar in die Stirn, von wo er es mit einer fließenden Handbewegung wegstreicht. Wenn Obelix in den Zaubertrank plumpsen musste, um lebenslang verdammt stark zu werden – in welchen Kessel sind dann die Jagodas gefallen? In einen voller Anti-Aging-Creme?

»Was machst du denn hier?«, fragt er mit ausgebreiteten Armen.

»Äh, was machst du hier?«, frage ich verdattert.

»Mein Kumpel Adem leitet so eine Ersti-Gruppe und ich wollte ihn fürs Gym einsammeln.« Natürlich ist er gerade auf dem Weg zum Gym.

Obwohl Jonas sonst nichts mit ihm gemeinsam hat, erinnere ich mich bei seinen Worten an einen anderen Typen, der immer auf dem Weg zum Gym, dem Fußballplatz oder dem Kraftraum war. Bei dem Gedanken an Ich-spreche-seinen-Namen-nicht-mehr-aus erschauere ich. Ich weiß, dass es keinen Unterschied macht, ob man Menschen nun wegen zu viel oder zu wenig Fitness verurteilt – aber Laurenz hat mich diesbezüglich einfach verdorben.

Ich überspiele meinen plötzlichen Flashback und die Tatsache, dass ich seinen Namen nun blöderweise gedacht habe, mit einem extrabreiten Grinsen: »Oh, Adem! Ich erinnere mich. Ist er wieder nüchtern?« Anna, Anouk und ich sind erst vor Kurzem bei Jonas auf einer Hausparty eingeladen gewesen, auf der wir seinen Kumpel Adem kennengelernt haben. Er hat ein Trinkspiel nach dem anderen vorgeschlagen, sich dabei aber als miserabler Kartenspieler erwiesen. Ich habe ihn regelrecht unter den Tisch getrunken.

Jonas zeigt erneut sein Hunderttausend-Watt-Lächeln und legt in Erinnerung schwelgend eine Hand auf meinen Oberarm. Mein Oberarm ist verwirrt, freut sich aber auch irgendwie, von Jonas so freundschaftlich behandelt zu werden.

»Ach stimmt, du kennst ihn ja. Es geht ihm wieder besser. Aber er musste lange seine Wunden lecken. Und ihr?«, fragt er und schaut erwartungsvoll von mir zu Mel und wieder zurück. Mir wird bewusst, dass ich viel zu lange auf ein Muttermal über seinem Schlüsselbein gestarrt habe, das sich an seinem dünnen Strickpullover und dem Kragen der Lederjacke vorbei einen Weg ans Tageslicht gebahnt hat.

»Wir sind auch zur Ersti-Woche hier«, springt Mel für mich ein und hält ihm die Hand hin. »Hi. Mel.«

»Freut mich.« Jonas nimmt die Hand von meinem Arm, ergreift Mels und stellt sich vor. »Polly und meine Schwester sind seit Jahren beste Freundinnen.«

»Wie schön«, kommentiert Mel mit einem spitzbübischen Grinsen und lässt ihren Blick einmal an Jonas auf und ab und dann zu mir herüberwandern.

»Also, Ersti-Woche?« Er streckt verheißungsvoll und einladend die Finger nach mir aus. »Denk dran, Pollyschmolly. Du schuldest mir ein Date beim Libanesen.« Eine Sekunde lang habe ich keine Ahnung, was er meint. Doch dann spielt mein Kopf die passende Erinnerung ab: Jonas hat seinen Lieblingslibanesen erwähnt, als wir uns beim Abiball über meinen Umzug nach Köln unterhalten haben. Bevor ich etwas erwidern kann, berührt er mich noch einmal am Arm und tippt sich dann an den nicht vorhandenen Hut – eine weitere Geste aus dem Katalog der mühelos coolen Sonnenscheinmenschen, die gleichzeitig Aufbruchswillen und Bedauern darüber ausdrückt.

Ich und mein irritierter Arm nicken ihm hinterher und sagen: »Ja, klar. Demnächst dann.« Als ob. Das, was er da so mir nichts, dir nichts als Date bezeichnet, wird niemals stattfinden. Vom Leben übervorteilte Männer wie Jonas können so etwas einfach daherreden, ohne es je in die Tat umsetzen zu müssen. Er ist bloß aufmerksam und lädt am Tag bestimmt zwei Dutzend entfernte Bekannte zu Verabredungen ein, die nie verwirklicht werden.

»Lass mich raten … Klarer Fall von: Du bist seit Kindesbeinen in den hotten großen Bruder deiner besten Freundin verliebt?«

Ich sehe Mel mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich hoffe, du beweist später im Gerichtssaal bessere Menschenkenntnis. Jonas und ich? Nicht in diesem Universum.«

»Wieso? Da lagen so krasse Funken in der Luft – wenn ich Haare hätte, hätte ich mich in eine menschliche Wunderkerze verwandelt.« Mel schlenkert mit den Armen über ihren Stoppeln, als würde ein lichterloh brennender Schopf sie in Panik versetzen.

»Glaub mir. Das waren keine Funken, das ist die Magie der Jagodas. Und ich hab wirklich keine Zeit für so einen Charmebolzen.«

Ihr Gesicht verwandelt sich in einen Mensch gewordenen Sabber-Emoji. »Oh Gott. Jetzt denke ich an seinen Bolzen.«

»Mel! Pfui!«

abs

Dreimal gleiche ich die Daten aus der E-Mail mit der Realität vor meiner Nase ab. Das … das kann doch … das muss doch ein Fehler sein? Zum vierten Mal mustere ich die Fotos, die dem digitalen Wohnungsexposé beigefügt sind, und komme zu dem Schluss, dass ich meine Augen gar nicht so eng zusammenpetzen kann, als dass sich die Bruchbude vor mir in das darauf abgebildete Kleinod verwandeln könnte. Wo bin ich hier gelandet?

Schon die Info Nur fünfzehn Minuten bis zur Uni war mehr als glatt gelogen. Ich habe fünfzehn Minuten im Bus gesessen – so viel ist korrekt. Nur war ich anschließend noch eine halbe Stunde zu Fuß unterwegs, um diese Hütte hier zu erreichen. Dass ich nicht viel zu spät bin, habe ich einzig meinem Organisationstalent zu verdanken, das mich zu wichtigen Terminen grundsätzlich mit ordentlichem Zeitpuffer aufbrechen lässt.

Mitten im Grünen: Schickes Ein-Zimmer-Apartement im Hinterhaus am Kölner Stadtrand. Die Headline der Wohnungsannonce ist ein schlechter Scherz. Der Bus hat auf meinem Weg hierher wortwörtlich das Ortsausgangsschild passiert. Vom Hinterhaus ist nichts zu sehen, der Zustand des Gartens spricht mehr für ein Leben Mitten im Braunen und das Schickste weit und breit ist meine durchsichtige Bibliothekshandtasche.

Na ja. Vielleicht verurteile ich das hier alles zu schnell. Vielleicht entpuppt sich das Ein-Zimmer-Apartement doch noch als Präsidentensuite. Ich drücke beherzt auf die Klingel am Gartentor, das so ausschaut, als würde es den nächsten Windhauch nicht überleben. Einbruchsicher ist das nicht. Aber da kein Einbrecher eine halbe Stunde durch die Gegend trotten wird, um diesen Ort zu finden, muss ich mir darum wohl keine allzu großen Sorgen machen.

Die Wohnung wird von einer Privatperson vermietet, die sich mir in unserem kurzen E-Mail-Kontakt als Herr Schmitt vorgestellt hat. Plötzlich überkommt mich bei dem Namen ein Schauer. Was, wenn es das einfallsloseste Alias der Welt ist und ich gerade in einen Hinterhalt tappe? Zwar wollte ich Sabine Rückert schon immer mal meinen Namen sagen hören, aber sicher nicht als Mordopfer in einer neuen Folge des ZEIT-Verbrechen-Podcasts.

Jemand öffnet die Milchglastür des Bungalows, hinter dem sich angeblich noch ein zweites Haus befindet. Heraus tritt ein Mann um die fünfzig – Herr Schmitt, wie ich annehme –, der aussieht wie ein Physiklehrer, der niemals bei seiner Mami ausgezogen ist. Angegilbtes Kurzarmhemd, dazu eine beige Bundfaltenhose und Slipper, die irgendwann einmal cognacfarben gewesen sein müssen.

»Sie sind die Studentin?«, fragt er, noch bevor ich das Gartentor hinter mir geschlossen habe. Wen hat er denn noch zur exakt gleichen Uhrzeit einbestellt, dass daran Zweifel bestehen?

»Ja?«, antworte ich zögerlich.

»Gut. Kommen Sie.« Er winkt mich zur Haustür und tritt ein. Ich nutze die Gelegenheit und werfe ein digitales Sicherheitsnetz aus.

Polly
Falls ich mich innerhalb der nächsten Stunde nicht bei euch melde, leitet der Polizei diesen Standort weiter. Sie findet dort dann vermutlich meine Leiche.

Ehe Anna oder Anouk antworten können, stecke ich das Handy weg und traue mich hinter Herrn Schmitt ins Haus.

»Ihre Tasche können Sie …« Ohne den Satz zu Ende zu führen, deutet er auf eine Garderobe neben der Eingangstür. Im Haus riecht es nach Muff und alten Menschen. Eine Vliestapete verkleidet die Wände, die bis auf ein einziges Schwarz-Weiß-Foto vollkommen kahl sind. Das Bild zeigt ein Paar bei der Eheschließung, die, der Mode und der Fotoqualität nach zu urteilen, irgendwann in den Sechzigern stattgefunden haben muss. Fangen so Horrorfilme an oder fangen so Horrorfilme an? Anouk könnte aus dem Stegreif mindestens fünf Titel nennen, die dasselbe Intro haben.

»Ach, kein Problem, ich nehme sie einfach mit.« Ich klammere mich an meine Tasche, als befände sich darin ein Revolver, mit dem ich mich zur Not selbst verteidigen könnte. Aber ich habe keinen Revolver. Und eine Tasche aus Klarsichtmaterial wäre auch kein besonders cleverer Aufbewahrungsort für einen solchen.

»Kommen Sie …?«

Sätze zu beenden, scheint nicht zu den Stärken des Physiklehrers zu gehören. Ebenso wenig wie Inneneinrichtung. Denn als er mich in den Wohnraum führt, offenbaren sich mir noch mehr gähnende Leere und noch mehr Vliestapeten. Und, wie ich mit einem erschrockenen Zucken feststelle, eine sehr alte Frau, die mittig auf einem Sessel sitzt und sich an einer Kaffeetasse festhält. Sie sieht so verloren aus in dem nur spärlich möblierten und gänzlich schmucklosen Raum, dass sie mich an eine Kunstinstallation erinnert.

»Ähm. Guten Abend«, wünsche ich.

Die Oma guckt auf und lächelt mich an. Wenigstens etwas. Der kalte Schauer auf meinem Rücken wärmt sich ein kleines bisschen auf. Doch dann sieht mich Herr Schmitt an, als hätte er vergessen, wieso ich hier bin. Ich möchte ihn gerade an die bereits jetzt recht offensichtlich erlogene Annonce auf dem Immobilienportal hinweisen, da tippt er sich an die Stirn und erinnert sich.

»Ah, der Raum …«

Etwas, das als Ein-Zimmer-Apartment deklariert war, einen Raum zu nennen, zerstört das klitzekleine Gefühl von Wärme, das das Lächeln der Oma in mir ausgelöst hat.

»Mutti, bleib sitzen«, weist er die alte Frau im Vorbeigehen an, bevor er noch einmal an mich gerichtet sagt: »Kommen Sie.« Irgendwie werde ich das ungute Gefühl nicht los, dass er sich gleich in eine Schlange verwandelt. Oder in einen bösen Clown. Oder … na ja, falls ich überlebe, kann ich Anouk fragen, welche Horrorgestalt in so einem Fall zuständig ist.

Wir gehen an seiner Mutter vorbei, die uns stumm mit den Pupillen verfolgt, und treten auf die Verandatür zu. Herr Schmitt schiebt sie auf. Das irritiert mich zunächst nicht, schließlich befindet sich das Apartment – der Raum? – laut Anzeige in einem Hinterhaus. Doch als ich ihm in den Garten folge, reiße ich meine Lider schockiert so weit auf, dass ich mich schon blind auf dem vertrockneten Gras nach meinen herausgefallenen Augäpfeln tasten sehe. Denn auf dem struppigen kleinen Grundstück befindet sich kein Hinterhaus, dort ist nur …