Kapitel

EIN HERRENGEDECK

KÖLN, 11. OKTOBER
BAR ZUM PONY

Kapitel

»Ein Schuppen?«

Mel kringelt sich vor Lachen. Sie hatte schon die Fassung verloren, als ich mit meiner Geschichte bei dem alten Hochzeitsfoto angekommen war, aber jetzt schüttet sie sich regelrecht aus.

»Ja!«, brülle ich. »Ein Holzschuppen!! So einer, wie man ihn für ein paar Hundert Euro im Baumarkt kaufen kann!«

»Ein Schuppen«, wiederholt sie noch immer kichernd und trinkt dabei von ihrem etwas zu voll geratenen Kölsch ab.

Ein Gutes hat es, dass ich bei Herrn Schmitt und seinem Fertigbauholzschuppen von Hornbach einem Betrug aufgesessen bin: Ich musste mich nicht einmal beeilen, um mich meiner Einführungsgruppe wenigstens für eine Stunde anschließen zu können. In der Bar angekommen habe ich mir direkt drei Tequila-Shots bestellt und begonnen, Mel, die sich gefreut hat, mich wiederzusehen, mein Leid zu klagen. Eigentlich gebe ich Anouk und Anna immer das Vorrecht auf alle Anekdoten aus meinem Leben, aber die beiden sind nicht da. Und manche Geschichten taugen einfach nicht für eine WhatsApp-Nachricht. Meine Fassungslosigkeit darüber, dass Herr Schmitt mir allen Ernstes eine Gartenlaube mit Strom- und Wasseranschluss für zweihundert Euro im Monat vermieten wollte, lässt sich nicht mal in einer Voice Message ausdrücken. Man muss dieses Erlebnis live vorführen.

»Das kann echt nur mir passieren.« Ich halte mir nervös die Stirn, unter der seit einer Stunde ein Nerv schmerzhaft zuckt. »Die Uni hat angefangen und ich bin immer noch obdachlos. Das war die zwanzigste Wohnung, die ich mir angesehen habe. Die ZWAN-ZIGS-TE.«

»Na ja.« Mel nimmt ein wenig weißen Schaum von ihrer schmalen Bierkrone mit dem Finger auf und steckt ihn sich in den Mund. »Streng genommen war es der erste Gartenschuppen, den du dir angesehen hast.«

Ich sehe sie verzweifelt an, aber dann kann auch ich nicht mehr an mich halten und breche in Gelächter aus. Als ich wieder zu Atem komme, begieße ich mein Leid mit dem dritten und letzten Tequila.

»Kopf hoch! Du findest etwas.« Mel klopft mir auf den Rücken.

Die Kneipe, in die wir uns gestopft haben, ist klein und urig. Sie heißt Zum Pony, was an der lebensgroßen Pferdefigur liegen muss, die mitten in dem begrenzten Raum steht. Justus und Konrad genießen es sichtlich, dass sie – im Gegensatz zu den meisten anderen nicht-kölschen Erstis – die Gepflogenheiten hier kennen, und bestellen erst einmal für jeden ihrer fünfundzwanzig Schützlinge ein Herrengedeck. Wie sich herausstellt, ist das eine Kombi aus einem Kölsch und einem Schnaps. Das bedeutet wohl, dass ich gleich einen vierten Kurzen trinken werde, den ich dann auch noch mit einem Bier hinunterspülen muss. Zum Glück bin ich einigermaßen trinkfest, denke ich und erinnere mich an Jonas’ Einweihungsfeier mit dem sturzbesoffenen Adem zurück. Es war ein ziemlich cooler Abend – nicht nur wegen des Trinkspiels. Jonas hat eine neiderregend schöne Wohnung im Belgischen Viertel, in der wir zu Machine Gun Kelly Discofox getanzt haben.

»Wo war eigentlich das Klo?«, fragt Mel in meine Gedanken hinein.

»Was?«

»Na, das Klo! Sag bloß, da stand einfach ’ne Schüssel in der Ecke? Oder gab es im Garten ein kleines Häuschen mit herzförmigem Loch in der Tür?«

Ich lache wahnwitzig auf. »Halt dich fest: Ich hätte das Badezimmer seiner Mutter mitbenutzen sollen! Was ich, by the way, zweimal die Woche hätte sauber machen dürfen. Ich wäre also deren Putzfrau geworden und hätte dafür auch noch zweihundert Euro im Monat gezahlt. Der Deal meines Lebens!«

»Die wollten zweihundert Euro für einen Schuppen?«

»Nein. Für ein Ein-Zimmer-Apartment im Grünen. Prost, sag ich da nur.« Mit diesen Worten werfe ich den Kopf in den Nacken und genehmige mir den Shot.

Eine halbe Stunde später kennt die halbe Gruppe meine Leidensgeschichte. Es sieht mir nicht ähnlich, Trübsal zu blasen, also schaffe ich es irgendwie, dabei ein heiteres Gesicht zu bewahren. Nach vier Schnäpsen und einem kleinen Bier finde ich Herrn Schmitt und seinen Gartenschuppen zugegeben auch ganz amüsant. Aber die näher rückende Abfahrtszeit des Zuges, der mich zurück ins Haus meiner Mutter bringen wird, erinnert mich daran, dass es eigentlich nicht zum Lachen ist.

Ich will schon immer zu Hause raus. Lange bevor meine Mutter anfing, Dildos zu verticken, bevor ich morgens dem ersten fünfundzwanzigjährigen Liebhaber in die Arme lief. Ja, selbst bevor sie mir immer häufiger diskrete Ohrfeigen in Bezug auf mein Gewicht verpasste. Sie und ich – wir haben noch nie harmoniert. Weil sie allen um jeden Preis gefallen will und dennoch so umstrittene Lebensentscheidungen wie eine Karriere als Sexy Hexy fällt. Weil sie die Steuererklärung von halb Lansberg macht, um den Lebensstandard zu halten, an den sie sich in ihrer lange zurückliegenden, kurzen Ehe gewöhnt hat, das Geld dann aber für Partynächte und glitzernde Schuhe ausgibt. Weil sie beim Blick auf Speisekarten nicht darüber nachdenkt, welches Gericht ihr am besten schmecken könnte, sondern mit welchem sie ihren Kalorien-Intake am besten im Griff hat.

In meinem Nacken räuspert sich auf einmal jemand. »Du bist Apolonia-nennt-mich-nur-meine-Mutter, hab ich recht?« Konrad ist zwischen uns aufgetaucht, in jeder Hand einen Klaren. Seinen Schal hat er abgelegt und das blaue Hemd ein wenig aufgeknöpft. Damit wirkt er nun deutlich jünger – und deutlich attraktiver. Mit seinem breiten, kantigen Kiefer und den schönen braunen Augen sieht er aus wie ein konservativer Teddybär aus gutem Hause.

»Genau die bin ich.«

»Gefällt es euch hier?«

»Auf jeden Fall. Ich bin ein besonders großer Fan von … dem Pferd«, antwortet Mel.

»Das ist schön.« Keine besonders originelle Antwort – das muss ich zugeben, aber irgendwie schmeichelt es mir, dass Konrad ausgerechnet mit uns sprechen will. Ich habe keine Probleme mit meinem Selbstwertgefühl – und Mel ganz sicher auch nicht –, aber dass sich der Vorzeigejurist zu uns gesellt, statt zu den Mädchen mit den Louis-Vuitton-Täschchen, kommt mir nicht wie eine Selbstverständlichkeit vor.

Manchmal verabscheue ich mich für solche Gedanken. Sie sind ein klassischer Silke und sollten somit niemals Einzug in meinen Kopf halten. Aber mein Kopf ist nun mal auch mit den Medien des einundzwanzigsten Jahrhunderts aufgewachsen. Ich habe keine Vorbilder für heterosexuelle Anzugmänner, die sich das Mädchen mit dem zu engen Blazer oder das Rock Chick mit dem tätowierten Schädel raussuchen. Dabei dürfte sich Konrad glücklich schätzen, eine von uns beiden abzukriegen.

Er reicht uns je einen der Shots, die er mitgebracht hat, und nach einem vorsichtigen Nippen erkenne ich, dass es sich um Tequila handelt. Uff. Kein Abend, der mit fünf Tequila vor einundzwanzig Uhr begonnen hat, hat jemals ein gutes Ende genommen.

»Ladys and gentlemen, this is Tequila No. 5«, proste ich den beiden zu – in Anlehnung an diesen uralten Neunzigerjahre-Chartstürmer.

»Na dann … in welche Richtung wollt ihr Ladys später mal gehen?« Mir entgeht weder, dass er meinen durchaus passablen Witz einfach ignoriert, noch dass er sich zwar meinen Namen, nicht aber den letzten Teil meiner Vorstellung heute Vormittag gemerkt hat.

»Wirtschaftsrecht«, wiederhole ich also und sehe mich nach einer Abstellmöglichkeit für mein Gläschen um.

»Strafrecht«, ist Mels Antwort.

»Also willst du den bösen Jungs helfen«, er deutet auf Mel, »und du den richtig bösen Jungs.« Er lacht laut auf und auch Mel und ich können uns ein Schmunzeln über diesen etwas klischeehaften Spruch nicht verkneifen. »Irgendwelche tiefgründigen Erklärungen für eure Wahl?«

»Zu tiefgründig für ein Gespräch am ersten Abend. In diesem Sinne: Cheers.« Mel leert ihr Schnapsglas.

»Ich will Karriere machen und niemals finanziell von einem Mann abhängig sein.« Als mich beide ein wenig fragend ansehen, ergänze ich: »Ja, ich weiß, Frauen sollten nicht laut aussprechen, dass sie auf Geld und Titel aus sind, aber let’s face it: Wir sind es doch alle.«

»Darf ich dich vielleicht küssen?«, fragt Mel.

»Uh, darf ich da vielleicht zusehen?« Konrad spitzt die Lippen zu einer erwartungsvollen Schnute.

»Nicht mal in deinen Träumen.« Ich mache eine Husch-husch-Geste mit den Fingern, die sich gleich im Anschluss wieder um das warme Schnapsglas schließen.

»Ihr habt keine Macht über meine Träume.« Konrad zwinkert. Mhm. Ich mache mir eine gedankliche Notiz: Bei Gelegenheit mal darüber nachdenken, ob ich Konrad mag. Ja, er hat einen Scheitel, als wäre er der Leadsänger einer K-Pop-Band, und eine Schwäche für Altherrenwitze. Aber er hat auch irgendetwas, das mich anspricht. Er ist nicht vor meiner Ehrlichkeit zurückgeschreckt. Er wirkt ebenfalls zielstrebig. Und da liegt zweifellos etwas Flirtendes in seinem Blick, das mir gefällt.

Moment … Ich wollte mir doch keine Gedanken über Männer im Allgemeinen oder Beziehungen im Besonderen machen. Wohnungssuche, Nebenjob, Uni. Das sind die Sieger, die auf dem Treppchen meiner Prioritäten stehen. Kein Platz für die Konrads dieser Welt.

»Hey, Polly? Ist das da vorne nicht dein spezieller Freund?«

Ich hebe den Blick von dem leeren Schnapsglas, in dem ich erfolglos versucht habe, meine abwegigen Gedanken zu ertränken, und sehe erst Mel an und dann in die Richtung, in die sie zeigt. Die Rückfrage »Mein spezieller Freund?« erübrigt sich, als ich neben der Theke Jonas Jagoda sehe.

Wie seltsam … Obwohl Jonas der Bruder meiner besten Freundin ist, habe ich ihn in der vergangenen Woche häufiger gesehen als in den letzten fünf Jahren zusammen. Er ist in Begleitung eines großen, stämmigen Kerls, der ähnlich viele Tattoos hat wie Mel. Nur stechen die Motive auf seiner dunklen Haut weniger deutlich heraus als auf ihrer hellen. Ich erkenne Adem sofort wieder.

Ich überlege noch, ob ich ihn und Jonas irgendwie auf mich aufmerksam machen oder sie lieber in Ruhe lassen soll, da kreuzt Jonas plötzlich meinen Blick und nimmt mir die Entscheidung ab. Mit ausgebreiteten Armen und einem glasklaren Das-gibt-es-doch-nicht!-Gesichtsausdruck kommt er auf mich zu und legt vertraut einen Arm um mich. Konrad tritt einen Schritt nach hinten, um ihm Platz zu machen, und schaut dabei auffallend pikiert.

»Pollyschmolly!«, begrüßt mich Jonas lautstark. Ob er in einer anderen Kneipe schon ein wenig vorgetankt hat? Oder gehört auch diese überschwängliche Begrüßung nur zum Charme der Jagodas? »Adem? Hey, Adem! Schau mal, dein Endboss!« Jonas wedelt durch die Luft und deutet auf mich.

Ich merke erst jetzt, dass ich übertrieben doll grinse, weil meine Wangen sich anfühlen, als hätten sie eben ein anstrengendes Pamela-Reif-Workout absolviert. Adem folgt dem Wink und verbeugt sich mit großen Gesten vor mir. Dann stellt er sich Mel vor, die ihm allem Anschein nach auf den ersten Blick gefällt. Obwohl ich glaube, Adem ist so ein Typ, dem fast jede Frau erst einmal gefällt.

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr ins Pony gehen würdet. Mega! Wie geht es dir?« Viel zu charmant. Gott, diese Jagodas.

»Gut, ja, mir geht’s gut.«

»Sie hat sich eine Gartenhütte angesehen.« Mels Kopf schiebt sich wie eine kahl geschorene, eichhörnchenbemalte Schranke zwischen uns.

»Du hast was?« Jonas schält sich aus seiner Lederjacke und rollt die Pulloverärmel über seine glatten, gut trainierten Unterarme. Kann man auch am Unterarm einen Bizeps haben? Weil ich glaube, auf Jonas trifft das zu.

Ich verdrehe die Augen und winke ab. »Nur ein neuer Tiefpunkt bei der Wohnungssuche.«

»So tief, dass du in eine Gartenhütte ziehen willst?«

»Wollen ist das falsche Wort. Aber wenn es so weitergeht, bleibt mir vermutlich nichts anderes übrig.« Ich erzähle Jonas in Stichworten mein Erlebnis vom frühen Abend nach. Er lacht genau an den richtigen Stellen. Und zwar mit einem positiven, offenen HAHAHA. Sein Lachen könnte einer Comicsprechblase entstammen und ist genauso perfekt wie seine Zähne, seine Unterarme und das Muttermal über seinem Schlüsselbein.

Adem, der ebenfalls zugehört hat, fragt: »Und als Klo gab es ein Scheißhaus im Garten, oder was?«

»Das habe ich auch gesagt!« Mel hebt den Zeigefinger.

»Wunderbar, ihr tickt gleich.« Ich bugsiere die beiden aufeinander zu und übernehme die Vorstellung. »Mel – Adem, Adem – Mel. Ich weiß nichts über ihn, außer dass er nicht besonders viel verträgt. Und sie kenne ich erst seit heute Vormittag, aber ich liebe sie schon jetzt. So. Unterhaltet euch.« Und genau das tun die beiden dann auch prompt.

»Du hast also immer noch kein Glück auf dem Kölner Wohnungsmarkt?« Wieder ist da Jonas’ Hand auf meinem Oberarm, die mich sanft zur Seite dreht, damit wir uns etwas leiser unterhalten können. »Ich würde dir Martins Zimmer anbieten.« Stimmt ja. Jonas hat ein Zimmer seiner Wohnung an einen Kumpel untervermietet, der zum Zeitpunkt der Einweihungsfeier noch im Ausland studiert hat. »Aber er kommt am Wochenende von seinem Erasmusjahr zurück und schaut bestimmt ziemlich doof, wenn da jemand in seinem WG-Zimmer sitzt und Paragrafen reitet.«

Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass Konrad sich nun doch zu den Louis-Vuitton-Mädels gesellt hat, was sich ein kleines bisschen enttäuschend und doch gleichzeitig wie ein Ins-Lot-Bringen des Universums anfühlt.

»Ich möchte eh nicht in einer WG wohnen«, sage ich dann wieder an Jonas gewandt. »Ich bin eher der Typ Singlehaushalt.«

»Oh.« Er wirkt überrascht. »Ich habe dich immer für einen geselligen Menschen gehalten.«

»Das bin ich auch. Aber ich will in meinem Zuhause mit niemandem mehr streiten. Du weißt schon: Ich möchte keine Witze darüber hören, dass ich nicht mal Wasser kochen kann, ohne dass es anbrennt. Ich möchte nicht diskutieren, ob man Klopapier vorne oder hinten abrollt. Niemand soll mein Outfit kommentieren, wenn ich das Haus verlasse, und schon gar nicht die Menge an Sriracha-Sauce, die ich auf alles draufhaue, was keine Süßspeise ist.« Genervt und überspitzt lasse ich die Augenlider flattern.

»Die Antwort ist ganz klar hinten.« Jonas nimmt einen entschlossenen Schluck aus seinem Glas, das dem Anschein nach Cola oder eine zuckerfreie Variante derselben enthält.

»Hinten was?«, frage ich verwirrt nach.

»Klopapier rollt man entgegen der Mehrheitsmeinung eindeutig hinten ab.«

Ich spule gedanklich noch einmal meinen Monolog zurück, um die Puzzleteile zusammenzusetzen, als es mit einem Mal Klick macht. »Danke!«, pflichte ich ihm schließlich bei. »Das sehe ich auch so. Aber bring das mal diesen militanten Vorne-Abrollern bei.«

Jonas hält mir mit einem verschmitzten Grinsen den Boden seines Glases hin, an den ich in Ermangelung eines vollen Getränks mein leeres Shotglas klirren lasse.

»So«, mache ich mit finalem Unterton in der Stimme und einem dramatischen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk.

»Du willst doch nicht ernsthaft um kurz vor neun schon gehen?« Jonas wirkt ehrlich enttäuscht darüber.

»Bist du so lange raus aus Lansberg, dass du vergessen hast, wann unter der Woche der letzte Zug fährt?«

»Aber das geht nicht. Wir haben keinen miteinander getrunken.« Jonas trinkt demonstrativ die Cola leer und verschränkt dann die Arme vor der Brust.

»Jonas. Hier sind ungefähr fünf Dutzend Frauen in der Bar. Irgendeine wird sich schon erbarmen und sich von dir auf einen Drink einladen lassen. Immerhin bist du einigermaßen tageslichttauglich.« Um zu untermalen, wie ernst es mir ist, ziehe ich die Jacke an, die ich bis eben über dem Ellbogen getragen habe, und schwinge die durchsichtige Tasche über die Schulter.

»Aber ich will nur dich!« Jonas faltet nun inbrünstig die Hände vor seinem V-Ausschnitt, wobei er das Glas umständlich zwischen den Fingern einklemmt.

Ich ziehe halb skeptisch, halb amüsiert die Augenbrauen hoch. Kein Wunder, dass in meiner Schulzeit so ziemlich jedes Mädchen – und auch einige Jungs – in einen der Jagoda-Brüder verknallt war. Vor allem Jonas erfreute sich größter Beliebtheit, weil er sportlich, gut aussehend und konventionell stylisch ist und noch dazu über diese besondere Gabe verfügt, dich wie eine gottverdammte Prinzessin zu behandeln. Ich wette, er hatte schon reihenhaft Verehrerinnen, die geglaubt haben, dieses ach so nette Verhalten gelte nur ihnen.

Jonas lacht ein weiteres HAHAHA über meinen ambivalenten Gesichtsausdruck und überlegt sich schließlich eine andere Taktik. In strengerem Ton sagt er: »Wirklich, Polly. Dein erster Abend an der Uni kann nicht so enden, dass du um neun Uhr nach Lansberg abzischst.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Den Gartenschuppen anmieten? Nein danke.«

Jonas wedelt spielerisch mahnend mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum. Dabei stelle ich fest, dass er dafür kein bisschen den Arm strecken muss. Obwohl ich eins achtzig groß bin. Gut aussehender, stylischer Good Guy im Bad-Boy-Dress und hochgewachsen noch dazu. Also echt: Die Lansberger Schülerschaft hatte nie eine Chance.

»Du schläfst bei mir. In Martins Butze.«

»Nein, ich …«

»Das war keine Frage, Polly.«

»Oh, ach so.« Ich stemme die freie Hand in die Hüfte. »Entschuldigung, ich wusste nicht, dass ich deine Leibeigene bin.«

»Es ist zu deinem Besten.« Jonas zuckt mit den Schultern und grinst dabei so überzeugend verführerisch, dass selbst ich um ein Haar weiche Knie bekomme.

»Genau das würde auch ein mittelalterlicher Großgrundbesitzer sagen.«

»Halt die Klappe, Pollyschmolly. Du bleibst. Wir sind Klorollen-Buddys, das müssen wir feiern.«

Meine Brille verrutscht ein wenig, so skeptisch ziehe ich die Brauen hoch. »Mit Cola light?«

Jonas wiederholt sein Modellächeln und fährt sich mit der freien Hand durchs Haar. Seine Frisur sieht ein bisschen so aus, als wäre er mit einem Bild von Shawn Mendes zum Friseur gegangen. Wobei … eigentlich sieht der ganze Typ so aus, als wäre er mit einem Foto von Shawn Mendes zu seinem Schöpfer gegangen und hätte gesagt: Einmal so, bitte.

»Weil du bleibst, mache ich was richtig Wildes und bestelle mir eine mit Zucker.« Er zwinkert mir zu, als hätte er gerade etwas gesagt, das sehr sexy oder verboten ist. »Bleib hier. Bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten verabschiedet er sich zur Bar, wohin Adem ihm folgt.

Als ich mich zu Mel drehe, um mir von ihr einen freundschaftlichen Rat bezüglich des angebotenen Obdachs einzuholen, sieht sie mich lausbübisch an.

»Keine Funken? Ja nee, ist klar.«

»Er ist der Bruder meiner längsten Freundin.«

Mel verschränkt die Arme und lässt den Kopf demonstrativ zu einem genüsslichen Nicken sinken.

»Er ist bloß nett«, insistiere ich. »Ist so ’ne Art Zwang von ihm.«

Mels Nicken wird noch ausladender. Dann greift sie sich erneut an den nicht vorhandenen Schopf, zieht eine Fratze und schüttelt panisch die Hände, als stünde ihr Kopf in Flammen.