EINE ART HOBBY-BARISTA
KÖLN, 11. OKTOBER
JONAS’ WOHNUNG
»Esss war der sssechste Tequila. Der sssechste isss immer das Problem. Wenn man den einfach weglassen und gleich sssum sssiebten gehen würde – easssy. Aber so … upsss.«
Die hintere Autotür wird urplötzlich geöffnet und ich purzle fast von der Rückbank. Bevor ich jedoch auf der Straße aufknallen kann, fängt mich ein starker, mit Bizeps ausgestatteter Unterarm auf, hilft mir hoch und schlägt die Tür hinter mir zu.
Ich mache einen mutigen Schritt nach vorn, bin dabei jedoch schon wieder auf den schönen Unterarm angewiesen. Denn der kurze Absatz meiner Ankle Boots verträgt sich überhaupt nicht mit meinem Pegel und dem groben Pflaster auf dieser fremden Straße. »Noch mal upssss.«
»Alles okay?«, fragt Jonas.
Ich rapple mich auf, puste mir den Pony aus der Stirn und schiebe meine Brille den Nasenrücken hoch.
»Natürlich isss alles okay. Ich hab allesss im Griff. Ich bin trinkfessst, schon vergessen?«
Jonas lacht leise. Gar nicht dieses HAHAHA von vorhin. Sondern ruhig und irgendwie … ehrlich.
»Was gibsss da zu lachen?«
»Nichts, Pollyschmolly. Du hast recht. Du bist eigentlich sehr trinkfest, aber der sechste Tequila hat es dir versaut.« Mit einem Signalton und dem zweimaligen kurzen Aufleuchten der Frontlichter verriegelt sich Jonas’ Auto.
»So siehsss ausss. Und den hasss DU mir gebracht, wenn ich daran erinnern darf.« Vor meinen Augen taucht ein erhobener Zeigefinger auf. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das mein eigener. Der ovale, weinrot lackierte Nagel entlarvt ihn eindeutig.
»Ich glaube ja eher, der fünfte war schlecht. Der von diesem Juraschnösel.«
»Konrad? Neee, der jubelt mir nixsss Schlechtesss unter. Sonst verknack ich ihn. Und mit ’ner Vorstrafe kann er ssseine Karriere knickennn.«
»Egal, wie blau du bist, die Juristin in dir ist immer am Start, oder?«
»Ruhe, Jagoda, sssonst verknack ich dich!«
Eine Hand legt sich auf meinen Rücken. Ich kann sie zwar nicht sehen und somit auch nicht die Farbe der Nägel überprüfen, aber ich bin auch so sicher, dass es dieses Mal nicht meine eigene ist. Und weil die schicke Straße, in der wir geparkt haben, ansonsten ausgestorben ist, kann es nur die von Jonas sein.
»Jetzt komm erst mal mit hoch, Frau Anwältin. Ich pump dir eine Matratze auf und stell dir Aspirin ans Bett.«
»Sssoso. Kannst du das mit der Luftmatratze Mel erzählen? Sonst muss ich mir morgen von ihr anhören, zwischen uns wäre etwas gelaufen.« Ich warte darauf, dass meinem betrunkenen Ich diese Worte peinlich werden, aber die Scham bleibt aus.
»Wird gemacht. Und jetzt rein mit dir.« Die Hand auf meinem Rücken schiebt mich durch die Pforte eines historischen Altbaus und geleitet mich unter der stuckbesetzten Decke das Treppenhaus hoch.
Anouk
Hey, Anna, kannst du dich noch erinnern, wann Polly das letzte Mal nicht binnen einer halben Stunde auf Nachrichten geantwortet hat?
Anna
Gab es da nicht diesen einen Zwischenfall vor vier Jahren, als ihre Mutter sie gezwungen hat, mit in einen Spinning-Kurs zu gehen?
Anouk
Ich erinnere mich. Casa Spinning.
Anna
Außerdem beim ersten Date mit Laurenz.
Anouk
Sagen wir seinen Namen wieder? Ich dachte, der wäre tabu.
Anna
Ups. Sorry, Polly.
Wieso bist du schon wach?
Anouk
Muss gleich den Hofladen aufsperren.
Aber jetzt mal im Ernst: Polly? Polly, bist du da?
Anna
Ich mache mir auch langsam Sorgen, dass sie am ersten Tag aus dem Studiengang geflogen ist und jetzt weinend in einer Ecke sitzt.
Polly
Ich sitze weinend in der Ecke, aber aus anderen Gründen.
Das leere Zimmer in Jonas’ Wohnung, das in ein paar Tagen ein gewisser Martin beziehen wird, hat keine Einrichtung. Nicht einmal Vorhänge, weshalb ich um Punkt halb acht von der aufgehenden Sonne geweckt wurde.
Meine Lebensgeister sind davon alles andere als beeindruckt. Dort, wo gestern noch mein Kopf war, sitzt jetzt ein dröhnender Basslautsprecher. Wie kann man nur so einen Schädel haben? Heißt es nicht immer, dass man sich in jungen Jahren ungestraft volllaufen lassen kann? Na ja. Es heißt ja auch, dass man erst im Alter zulegt. Mein Körper hat die Dinge eben schon immer gern etwas anders gemacht.
Anna
SIE LEBT!
Polly
Aua. Schrei nicht so.
Anouk
Polly, wie war der erste Tag? Und die Besichtigung?
Polly
Erzähl ich euch heute Abend. Pizza bei Anouk auf der Wiese?
Anna
Boah, machst du es spannend. Ich könnte dich in ’ner halben Stunde abholen und mit nach Köln nehmen. Erzählst du es mir dann direkt?
Anouk
Hey!
Polly
Nettes Angebot. Aber ich bin schon in Köln. Hab gestern die Bimmelbahn verpasst und bin zufällig in Jonas reingerannt. Er hat mir ein Dach über dem Kopf gewährt.
Dass ich die Bimmelbahn streng genommen nur wegen Jonas verpasst habe, scheint mir ein unwichtiges Detail zu sein. Erst vor ein paar Wochen wurde Anna der Sommerurlaub davon verdorben, dass sich eine Bekannte in Paul – den ältesten Jagoda-Spross – verknallt hat. Anna ist seit Jahren froh darüber, dass Anouk und ich die einzigen Freundinnen sind, die niemals für einen ihrer Brüder Gefühle gehegt haben. Und daran möchte ich auch jetzt keinerlei Zweifel aufkommen lassen.
Anna
Oh, okay. Na, dann Gruß an mein Bruderherz und bis heute Abend bei Anouk!
Die Luftmatratze macht ein ohrenbetäubendes Furzgeräusch, als ich mich aufrichte. Vielleicht ist es auch ein Furzgeräusch in annehmbarer Zimmerlautstärke, aber mein Lautsprecherkopf multipliziert den Sound mit tausend.
Ich versuche, auf die Füße zu kommen, und fühle mich dabei merkwürdig eingeengt. Ein Blick nach unten verrät mir, wieso. Ich trage nicht wie sonst zum Schlafen ein XXL-Shirt aus der Männerabteilung, sondern ein tailliert geschnittenes Exemplar mit V-Ausschnitt. Nur aus der Männerabteilung dürfte es ebenfalls stammen, denn gerade kehrt die Erinnerung daran zurück, in der Jonas es mir in der vergangenen Nacht zum Schlafen in die Hand gedrückt hat. Ich hasse es so sehr, wenn Frauen in Filmen die Oberteile von Männern tragen, weil sie ihnen auf der Mattscheibe immer locker wallend bis kurz über die Knie fallen. Dabei geht dieses Schönheitsideal von Frauen in Herrenkleidung nur auf, wenn sich eine zarte Elfe mit einem Typen zusammentut, der nebenberuflich als Riese in Game of Thrones mitspielt.
Mein Bauch, die Oberarme und vor allem meine Brüste fühlen sich unwohl in Jonas’ Shirt, das für einen fitten Oberkörper ohne Wölbungen geschneidert wurde. Ich ziehe es schnell aus – oder zumindest so schnell, wie es das Karussell in meinem Oberstübchen zulässt – und lege es auf der Luftmatratze zusammen.
Jetzt, wo ich stehe, scheinen ein paar Dinge in meinem Gedächtnis wieder an ihren angestammten Platz zu fallen. Um zehn geht die Einführungswoche weiter und ich werde dort im selben Outfit wie gestern auflaufen.
Das wird schon niemandem auffallen.
Aber was, wenn doch?
Der Muffin-Blazer ist dem ein oder anderen vielleicht ins Auge gesprungen … Na und? Dann fällt es eben auf. Ich bin ans Auffallen gewöhnt. Das bleibt nicht aus, wenn man eine Figur jenseits von Größe vierzig hat und sich trotzdem nicht damit abfinden will, Sackklamotten zu tragen.
Also halte ich meiner inneren Kritikerin, die ich neunzig Prozent der Zeit gut im Griff habe, den Mund zu und schlüpfe erhobenen Hauptes in meine Kleidung von gestern. Da ich, Gott sei Dank, ein Kontrollfreak bin, habe ich in meiner transparenten Tasche ein vollgestopftes Etui mit Notfall-Make-up.
Mit einem Taschentuch und Wasser aus dem Glas, das Jonas mir gestern zusammen mit der Aspirin ans provisorische Bett gestellt hat, entferne ich notdürftig die Reste der gestrigen Kriegsbemalung und pinsle mir neue Farbe ins Gesicht. Und siehe da – als ich fertig bin und mich in dem kleinen Spiegel in meiner Puderdose mustere, fühle ich mich nur noch halb so verkatert wie zuvor. Ich ignoriere die Tatsache, dass meine Beine anscheinend durch Götterspeise ersetzt wurden und mein Rachen pelzig und iiih ist, und verlasse das Zimmer.
Jonas studiert BWL, aber da er schon im fünften Semester ist, geht die Uni für ihn erst nächste Woche los. Gestern Abend hat er mir erzählt, dass er nebenbei ein paar Stunden die Woche in einer Werbeagentur jobbt, wo er irgendwelche Datenbanken pflegt. Ob er dafür um kurz nach acht schon wach sein muss? Ein bisschen unangenehm ist es mir durchaus, dass er mich gestern derart betrunken erlebt und bei sich aufgenommen hat. Kontrollfreak und so. Ihm aus dem Weg zu gehen, kommt aber nicht infrage. Ich bin schließlich kein reumütiger One-Night-Stand, der sich aus seiner Wohnung schleicht.
Also verlasse ich das Zimmer beschwingt mit frisch lebendig geschminktem Gesicht, nur um direkt wieder grün vor Neid zu werden. Jonas’ Zuhause ist einfach nur wunderschön. Da die Jagodas ziemlich viel Kohle haben, erwarte ich kaum etwas anderes von ihnen. Doch in diesem Altbau ist nicht nur die Hardware hochwertig, Jonas scheint zusätzlich ein Händchen für Einrichtung zu haben. Das Mobiliar ist geschmackvoll – vom Teppich über die riesige Sofalandschaft bis hin zu der Pendelleuchte an der Decke, von der aus sich zwölf bauchige Industrialglühbirnen im Raum verästeln. Alles ist in Beige- und Grautönen gehalten, mit einem grünen Klecks hie und da, wo Jonas erstaunlich grüne, kein bisschen knusprige Zimmerpflanzen aufgestellt hat.
Ich gehe auf die offene Küche zu, die definitiv ein Designerstück ist und geradewegs von einem Pinterest-Board stammen könnte. Stylish, ohne Oberschränke, mit matten Fronten in edlem Anthrazit unter blendend weißen Metrofliesen. Der Herd befindet sich in einer frei stehenden Insel, über der ein Gitter angebracht ist, von dem gusseiserne Pfannen, Kräutertöpfe und kleinere Küchenutensilien baumeln. Kurz glaube ich, in das neue Fernsehset von Jamie Oliver geraten zu sein. Doch hinter dem Herd steht nicht der britische TV-Koch, sondern Jonas höchstpersönlich. An seiner Brust klebt ein Funktionsshirt und in der Stirn das sichtbar verschwitzte Haar. Hat dieser Angeber etwa schon Sport getrieben?
Bevor ich der Sache auf den Grund gehen kann, steigt mir ein absolut betörender Duft in die Nase. Zwei Düfte, um genau zu sein. Der eine stammt von frisch aufgebrühtem Kaffee und lenkt meinen Blick auf eine chromglänzende Siebträgermaschine, der andere kommt aus der Pfanne auf dem Herd, in der Jonas gerade etwas Buttrig-Zuckriges mit einem Pfannenwender umdreht.
»Guten Morgen«, sagt er mit einem breiten Lächeln.
Mein Magen ist mit der Mischung aus leckerem Frühstücksgeruch und den Nachwirkungen der gestrigen Nacht überfordert und verkrampft sich bei Jonas’ Worten.
»Morgen.«
»Oh weh. Kater?«
»Eher eine Raubkatze.«
»Dieser verflixte sechste Tequila.« Jonas zwinkert mir zu und hebt dann etwas aus der Pfanne auf einen Teller, auf dem sich bereits ein kleiner Stapel goldbrauner Gebäckstücke befindet. »Ich hoffe, du bist nicht der Typ, der bei Kater den Appetit verliert.«
Die Stimme meiner Mutter lacht laut in meinem Kopf und kommentiert: Apolonia verliert niemals den Appetit.
»Wie trinkst du deinen Kaffee?«
»Äh«, bringe ich heraus. Mein Kopf fühlt sich sowieso schon an, als würde er sich noch immer in der Bar befinden. Aber all das Gewusel am frühen Morgen in dieser ultratollen Wohnung gibt mir das Gefühl, ihn nicht nur zurückgelassen, sondern durch das Haupt der lebensgroßen Pferdestatue ersetzt zu haben. »Ich wusste nicht, dass ich gestern in ein All-inclusive-Hotel eingecheckt habe. Was kostet mich der Spaß?«
»Vielleicht brauche ich mal eine Anwältin. Dann bist du mir was schuldig.« Ich ziehe schmunzelnd die Augenbrauen hoch. »Und wenn du hier fertig bist«, er nickt zu dem brutzelnden Pfanneninhalt, »ich habe dir im Bad eine Zahnbürste hingelegt. Unbenutzt natürlich.«
»Das ist besser als all-inclusive. Danke!«
Doch Jonas geht gar nicht auf meinen Dank ein. »Also? Americano? Flat White? Cappuccino? Latte?«
»Cap…puccino?«, wähle ich mit einem Zögern.
»Fantastisch.« Jonas klatscht in die Hände und macht sich an der Siebträgermaschine zu schaffen. Das Krachen einer Kaffeemühle ertönt, gefolgt von dem Dröhnen, mit dem das braune Glück in eine Tasse fließt, und einem lauten Rauschen, als Jonas Milch in einem kleinen Kännchen aufschäumt.
»Was bist du, so ’ne Art Hobby-Barista?«
»Willst du mich beleidigen, Pollyschmolly?«
»Nein. Streng genommen wollte ich dir ein Kompliment machen. Hobbys, die Kaffee involvieren, sind so ziemlich die besten Freizeitaktivitäten.«
»Ich bin Profi, verstanden?!« Er dreht sich kurz zu mir um und droht mir spielerisch mit dem Milchkännchen, ehe er es zweimal fest auf die hölzerne Arbeitsplatte seiner Stylo-Küche aufklopft.
Ich nehme auf dem Barhocker Platz, den Jonas mir zuvor mit einer flüchtigen Geste zugewiesen hat, und sehe fasziniert dabei zu, wie er den Milchschaum zu den Espressi in zwei ebenfalls verdammt stylische Tassen aus grober Keramik gießt. Dabei schwingt er das Kännchen locker aus dem Handgelenk. Puh. Er zieht ja eine ganz schöne Show ab, dieser selbst ernannte Profi!
Doch als er die Tasse vor mir abstellt, erkenne ich, dass er keine Spur übertrieben hat. Er hat einen formvollendeten Cappuccino mit Herzchen auf der Schaumkrone gezaubert.
»Verscheißerst du mich? Wie geil ist das denn?« Ich nehme das Getränk in beide Hände und bewundere diese Mona Lisa unter den Latte-Art-Kreationen.
»Tja. Ich hab’s dir gesagt.« Jonas hebt grinsend die Schultern, stellt seine Tasse ebenfalls auf dem Tresen ab und verteilt dann den Inhalt der Pfanne ungleichmäßig auf zwei Teller. »Ich bin übrigens auch French-Toast-Profi. Willst du das ebenfalls anzweifeln oder glaubst du mir diesmal sofort?« Ein Teller voller gebräunter, Zimt-Zucker-klebriger und himmlisch duftender Toastscheiben landet vor mir. Es ist die größere Portion, wie mir auffällt, aber ich bin zu verkatert und das Gericht zu wohlduftend, als dass ich daraus irgendwelche Schlüsse ziehen würde.
»Rutsch rüber.« Jonas setzt sich neben mich und erwartet offenbar eine Reaktion. Doch ich bin sprachlos. Erstens, weil ich damit gerechnet hätte, dass Jonas nach dem Frühsport nur einen Eiweißshake trinkt. Zweitens, weil es mich total überfordert, dass er nicht nach Schweiß riecht. Seine Wohnung ist abnormal schön, sein Frühstück sieht aus, als könnte man es einem König servieren, und seine Schweißdrüsen produzieren offenbar keine Duftstoffe. Wahrscheinlich pupst Jonas Jagoda Zuckerwatte.
»Tja. Da fällt nicht mal dir Großmaul mehr etwas ein.«
»Hey!«, protestiere ich, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden habe.
Jonas streckt mir die Zunge raus, reicht mir Messer und Gabel und sagt anschließend scherzhaft: »Iss, Kind, damit etwas aus dir wird.«
»Hahaha«, mache ich. »Dürfte ich mal meine Mutter zum Frühstück mitbringen? Ich will ihr Gesicht sehen, wenn du das zu mir sagst.« Ich schneide kichernd eine Ecke von meinem ersten French Toast ab und stecke sie mir in den Mund.
Jonas schaut drein, als könne er sich überhaupt keinen Reim auf meinen Kommentar machen. »Also, du und deine Mutter, ihr seid nicht gerade die engsten Freunde, oder?«
Ich möchte gern antworten, dass das sogar noch eine schmeichelhafte Umschreibung ist, doch in diesem Moment machen meine Geschmacksknospen Bekanntschaft mit dem Frühstück und erleben so etwas wie einen kulinarischen Orgasmus.
»OH GOTT«, stöhne ich.
»Was?« Jonas wirkt alarmiert und streckt reflexartig die Arme nach mir aus.
Ich beginne zu lachen. »Hey, keine Sorge, du musst kein Heimlich-Manöver an mir durchführen. Es schmeckt nur einfach verboten sexy.«
Jonas stimmt in mein Lachen ein – erneut keine Spur von seinem HAHAHA –, schiebt sich selbst einen Bissen rein und hakt dann mit vollem Mund nach: »Darf ich mir das in den Lebenslauf schreiben?«
»Hobby-Barista und Koch verboten sexyer Brunchspeisen.« Ich male meine Worte mit einer ausladenden Geste in die Luft. »Ich werde dir Visitenkarten drucken. Wenn du die bei deiner nächsten Kneipentour an die Ladys verteilst, kannst du dich vor Handynummern nicht retten, glaub mir.«
»Guter Punkt.« Er tut so, als würde er überlegen, während er eine weitere Toastecke zwischen seinen bartumschatteten Lippen verschwinden lässt. »Oder ich schreibe es direkt in meine Tinder-Bio. Visitenkarten sind so 1990.«
»Du bist auf Tinder?«
Jonas schielt kurz zur Seite – ist er etwa verlegen? – und prustet dann: »Wieso klingst du auf einmal so ernst? Ist Tinder etwas Schlimmes?«
»Nein, nein, also … Ich habe da echt nichts gegen.« Das habe ich wirklich nicht. Online-Dating ist eine legitime, für beschäftigte Menschen oft sogar die einzige Methode, um Liebe zu finden. Oder eine Affäre. Oder was auch immer sie suchen. Nur dachte ich, dass ein Typ wie Jonas es nicht … nun ja, ich will nicht sagen nötig hätte. Aber ich bin einfach davon ausgegangen, er würde schon durch sein Auftreten in der analogen Welt unzählige Angebote erhalten. Jonas ist ein bisschen wie eine Zwei-Zimmer-Altbauwohnung im Herzen der Stadt mit Badewanne und Balkon für fünfhundert Euro warm. So etwas geht nicht über Anzeigen im Netz weg. Solche Raritäten werden unter der Hand an Auserwählte vergeben, bevor sie überhaupt auf dem Markt sind.
»Du hast nichts dagegen. Puh.« Er stößt gespielt erleichtert die Luft aus und macht die passende Handbewegung dazu. »Da habe ich ja Glück gehabt.«
»Ach, du weißt, was ich meine. Wie auch immer. Du solltest das mit der Bio ausprobieren. Aber wenn die Frauen dann hier am Wochenende ein und aus gehen, musst du natürlich auch liefern.«
»Ein und aus gehen?«, wiederholt Jonas mit einem Stück French Toast im Rachen. Er schiebt die Hand vor den Mund und fragt etwas gedämpft: »Für wen hältst du mich denn? Casanova?«
Ich sehe ihn ein wenig streng an und deute mit der Gabel auf ihn. »Du willst echt, dass ich es ausspreche, oder?«
»Wapfff?«, mampft er.
»Na, dass du ein gut aussehender Kerl mit dem magischen Jagoda-Charme bist, der in jedem Hafen fünf Frauen haben könnte.«
Jonas sieht einen Moment lang aus, als würde er sich an seinem Happen verschlucken. Doch er ringt ihn nieder und sieht mich dann mit etwas glasigen Augen an. »Ähm. Danke … denke ich. Und gleichzeitig: hey!« Er schauspielert eine angepisste Miene und geht nur auf den zweiten Teil ein: »Fünf in jedem Hafen … wie kommst du darauf?«
»Mhm …« Ich schwenke theatralisch meine Kaffeetasse. »Du kannst das mit dem gut aussehenden Charmebolzen anscheinend nicht oft genug hören.« Mels Worte hallen in meinem Kopf wider: Jetzt denke ich an seinen Bolzen.
»Also ist man automatisch ein Fremdgeher, wenn man gut aussieht und charmant ist? Pollyschmolly, wir müssen an deinem Männerbild arbeiten.«
»Mit meinem Männerbild ist alles okay. Das basiert auf empirischen Fallstudien.«
»Oje, oje, wer hat dir nur wehgetan?« Seine blauen Augen glitzern mich von der Seite an. Diese Kombination aus blauen Augen und braunem Shawn-Mendes-Haar sollte verboten werden. Das ist ja, als säße man einem Welpen gegenüber.
»Mir? Mir hat niemand wehgetan.« Bis auf Laurenz. Aber der ist immerhin nicht fremdgegangen. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Wobei es gut ins Bild passen würde. Ich war für ihn schließlich nur die Frau fürs Schlafzimmer. Vielleicht hatte er noch eine Ausgehdame, die … mehr seinen Vorstellungen entsprochen hat. »Männer haben gar nicht die Fähigkeit, mir wehzutun, ganz einfach.«
»Oh. Also bist du nicht nur, was deine Wohnsituation angeht, überzeugter Single?«
»So kann man es vermutlich ausdrücken.« Weil ich ich bin und ich nun mal nicht so gut mit Tiefgründigkeit und Emotionen umgehen kann, kompensiere ich die aufkeimende Offenheit zwischen uns mit einem Scherz: »Für dich würde ich natürlich eine Ausnahme machen. Und mit für dich meine ich für so ein Frühstück am Morgen.«
Jonas legt einen Ellbogen auf dem Tresen der Kücheninsel auf, stützt sein Kinn darauf und berührt es mit zwei Fingern in einer Art Denkerpose. »Jetzt, wo du es sagst … Wieso bleibst du nicht die ganze Woche? Die Luftmatratze gehört dir. Auf die Weise kannst du deine Einführungswoche so verbringen, wie es sein sollte, ohne jeden Abend nach Lansberg tingeln zu müssen.«
Ich verschlucke mich, muss husten und wehre prompt ab: »Ich weiß schon, dass du ein netter Kerl bist, Jonas. Aber du musst nicht SO nett sein.«
»Ob das Zimmer nun bis zum Wochenende leer steht oder …« Er lässt den Satz versanden und fragt stattdessen: »Also, was steht heute in der Ersti-Woche an?« Jonas legt sein Besteck zur Seite, obwohl noch zwei unangerührte Toastscheiben auf seinem Teller liegen.
Damit stellt er die Frage, die ich früher gern häufiger von meiner Mum gehört hätte. Doch es war nie ihr Ding, ihr Interesse an mir in Form von einem Wie war die Schule heute? oder Was hast du am Wochenende vor? zu äußern. Stattdessen hat sie lieber von ihrer Arbeit, ihren Problemen oder ihren Männern erzählt.
»Justus und Konrad wollen uns heute die Bib zeigen, glaube ich.«
»Justus und Konrad«, schnaubt Jonas in seinen Kaffee. »Ich glaube, darüber habe ich mich gestern nicht ausreichend lustig gemacht.«
»Adem und du, ihr habt ihre Namen mindestens ein Dutzend Mal wiederholt.«
»Ich sag ja: nicht ausreichend.«
»Spinner.« Ich kichere und sehe auf die Uhr. »So langsam sollte ich los.«
»Du hast mir noch nicht erklärt, was du vorhast – und ob du mein Angebot annimmst.«
»Heute Abend gehe ich mit deiner Schwester zu Anouk.«
»Flechtet ihr euch gegenseitig Zöpfchen und redet über die Jungs, in die ihr verknallt seid?«
»Genau! Woher weißt du das?«
Jonas’ HAHAHA-Lachen ist zurück. »Also kann ich die Luftmatratze anderweitig untervermieten?«
Ein Teil von mir würde sich am liebsten auf besagte Luftmatratze in dem schönen, lichtdurchfluteten Zimmer in der stylischen Altbaubude schmeißen, laut fauchen und wie Gollum »Mein Schatz« zischen. Aber ich werde das Zimmer wohl oder übel wieder abtreten und das Angebot somit ausschlagen müssen. Jonas will sowieso nur nett sein. Auf eine – zugegeben – recht hartnäckige und überzeugende Weise.
»Ja, tut mir leid. Obwohl ich weiß, wie gern auch du mit mir Zöpfchen geflochten und über deinen Schwarm geredet hättest.«
»Ein andermal?«
Es klingt eher wie eine Frage als eine Aussage. Also setze ich ein großherziges Gesicht auf und antworte: »Versprochen.«