Kapitel

EIN BEKLOPPTER PLAN

LANSBERG AN DER WUPPER, 12. OKTOBER
VOGELHOF

Kapitel

Der Bauernhof von Anouks Familie kommt den lustig bunten Zeichnungen vom Landleben in Kinderbüchern erstaunlich nahe. Ein hellblau gestrichenes Wohnhaus, Traktoren in der Auffahrt und Scheunen aus Fachwerk, aus denen dann und wann das Muhen von einigermaßen glücklichen Kühen zu hören ist.

Als ich ankomme, schließt Anouk gerade den kleinen Hofladen ab. Über der Tür des umgebauten Stalls hängt ein handbemaltes Schild mit der Aufschrift Feines von Vogels. Anouk rammt den Schlüssel mit einer solchen Wucht ins Schloss, dass es bedrohlich schwankt.

»Schlechter Tag?«, rufe ich über den Hof. Anouk wird auf mich aufmerksam und dreht sich um. Sie trägt noch das dunkelgrüne Poloshirt mit dem Hoflogo auf der Brust. Die abstehende Strähne an ihrem Hinterkopf sowie ihr miesepetriger Gesichtsausdruck verraten mir, dass meine Vermutung zutrifft.

»Was hat mich verraten?« Wenn sie mies drauf ist, schafft Anouk es erstaunlich gut, ihrer zarten Elfenstimme den Charme eines Death-Metal-Sängers zu verleihen.

»Na, dein sonniges Gemüt.« Ich schließe zu ihr auf und nehme sie zur Begrüßung in den Arm. »Hey, Babe!«

In diesem Moment biegt Anna in ihrem kleinen babyblauen Fiat auf den Hof ein und stellt ihn hinter einem der Traktoren ab. Nachdem der Motor verklungen ist, schwingt sie die langen schlanken Beine heraus und lässt ihren ebenso langen schlanken Körper folgen. Anna trägt eine weit ausgestellte weiße Jeans, die eng ihre Taille umschmeichelt. Dazu ein geknotetes schwarzes T-Shirt, unter dem ein Streifen ihres braun gebrannten Bauchs herausblitzt.

»Ist das nicht dieser Fetzen, den du nach eurer temporären Trennung tagelang vollgeheult hast?« Ich deute auf Annas T-Shirt, das einen Sänger bewirbt, von dem ich vor Annas Trennungsdepression noch nie gehört hatte. Die kurze Phase am Ende des Sommers, in der Fynn und Anna sich zerstritten hatten, war wirklich grausam. Ich hasse es, meine Freundinnen leiden zu sehen – und dass ausgerechnet Anna, die bisher keinem Kerl je eine Träne nachgeweint hat, so am Boden zerstört war, hat mein Weltbild ein bisschen erschüttert.

»Hab dich auch lieb, Polly«, flötet sie nun jedoch gut gelaunt und drückt mir im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange. Sie strahlt so breit, dass man jeden einzelnen Zahn auf Plaque untersuchen könnte. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass sie genau dasselbe Lächeln hat wie Jonas. Dabei dachte ich bisher immer, Anna und Paul sähen sich ähnlich, während Jonas ein wenig aus der Art geschlagen wäre.

»Was ist los, Anouk? Du hast ja deine Stresspalme.« Anna versucht, die störrische Haarsträhne auf Anouks Kopf anzudrücken. Doch das hellbraune Haar ihres Pixie-Cuts steht widerborstig ab wie ein klitzekleiner Irokese.

»War bloß ein langer Tag.« Anna und ich tauschen einen Blick aus. Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Oder zumindest eine stark simplifizierte Antwort ist. Gefühle zu teilen, gehört nicht unbedingt zu Anouks Stärken. Aber wir wissen auch, was in einem solchen Moment zu tun ist: Wir werden die drei größten Pizzen ordern, die wir finden können, es uns auf der Weide hinter dem Haus mit vielen Decken gemütlich machen und so lange Details aus unserem Leben teilen, bis Anouk bereit ist, es uns gleichzutun.

Ich habe gerade meine Horrorstory vom Gartenschuppen zu Ende erzählt, als ein verwirrter Pizzabote auf der Suche nach einer Klingel über den Hof auf die Wiese gelaufen kommt und uns drei Pappschachteln aushändigt.

»Das ist alles nicht dein Ernst?« Anna hält sich die Hand vor den Mund.

Anouk, der bereits ein Käsefaden aus dem Mundwinkel hängt, legt den Kopf in den Nacken, um den gleichzeitigen Verzehr von heißer Pizza und Gespräch besser koordinieren zu können. »Wo hättest du aufs Klo gehen sollen?« Ich bin wirklich froh, dass es allen so sehr am Herzen liegt, wo ich mein Geschäft verrichtet hätte, wäre ich diesen Deal eingegangen.

»Im Haus. Im Bad der Oma. Wo auf der Toilette übrigens so ein Gestell angebracht war, an dem alte Menschen sich festhalten können, während sie ihrem Business nachgehen.«

Anouk kringelt sich vor Lachen. Anna schaut komplett desillusioniert drein. »Ich glaube, ich kann es nicht mal mehr lustig finden«, sagt sie kopfschüttelnd. »Du hast uns doch die Anzeige geschickt. Die sah komplett seriös aus.«

»Hinterhaus im Grünen«, wiederhole ich nickend und schäle das erste Stück meiner Pizza Rucola aus dem Karton. »Auf den Wohnungsmarkt!« Ich erhebe das Teigdreieck und proste meinen Freundinnen damit zu.

»Vielleicht probierst du es doch mal mit einer WG?«, schlägt Anna vor. Ihr ist deutlich anzusehen, dass sie sich Sorgen um mich macht.

»Nein. Ich krieg das schon hin. Außerdem: Wer würde es mit mir in einer WG aushalten?« Ich schnaube selbstironisch, denn Humor ist das einzige Mittel, das ich kenne, um mit Niederlagen klarzukommen. »Ich kann nicht kochen, brauche viel Platz – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn, schaue viel zu viele True-Crime-Serien auf Netflix und wenn ich für eine Prüfung lerne, hänge ich an jeder glatten Fläche Post-its auf.«

»Mach dich nicht immer so runter.« Jetzt tropft Anouk der Käse sogar von beiden Händen.

»Ich mach mich nicht runter. Ich finde mich so, wie ich bin, ja ganz gut, aber welcher WG-Mitbewohner würde diese Ansicht teilen?«

»Ich.« Anouk zuckt mit den Schultern.

»Same«, stimmt Anna zu.

»Tja. Wie gut, dass ihr das nicht unter Beweis stellen müsst. Denn du«, ich deute mit meinem Pizzaachtel auf Anna, »ziehst doch wahrscheinlich eh in ein paar Wochen zu Fynniboy nach Köln und du«, das Stück zeigt nun auf Anouk, »folgst Kaya nach München, sobald du eine passende Kunsthochschule gefunden hast.« Ich war sowieso verwundert, dass Anouk nicht sofort nach einer Uni in München gesucht hat, als ihr Freund dort einen Platz an einer renommierten Filmhochschule bekommen hat. Doch ihre Verpflichtungen auf dem Hof und die strengen Anforderungen von Kunstunis haben ihr – wie sie sagt – einen Strich durch die Rechnung gemacht. Dabei ist es eine Schande, dass eine talentierte Person wie Anouk hier auf dem Land rumhängt, obwohl sie viel lieber ihre Kunst mit der Welt teilen würde.

»Das ist nicht so wahrscheinlich, wie du glaubst.« Anouk spricht leise, aber bestimmt. Der Death-Metal-Sänger in ihrer Stimme ist einer sachlichen Diplomatin gewichen.

»Ist … ist etwas passiert?« Anna zögert deutlich hörbar.

Ich frage mich das Gleiche. Mir fällt nur ein Szenario ein, in dem Anouk nicht Kunst studieren würde: wenn ihr auf einen Schlag beide Hände abfielen. Und selbst in diesem Fall würde sie wahrscheinlich einfach mit den Füßen oder dem Mund weiterzeichnen.

»Nein. Nur … man weiß ja nie, das ist alles. Vielleicht studiere ich nicht. Vielleicht gehe ich nicht nach München. Vielleicht …«

»Was vielleicht?«, imitiere ich sie mit vollem Mund. »Willst du etwa andeuten, dass Kaya und du euch trennen könntet?«

»Ich deute es nicht an, aber im Leben ist nun mal nichts in Stein gemeißelt.«

»In Stein gemeißelt«, imitiert nun Anna. »Wenn das irgendetwas ist, dann ja wohl eure Beziehung.«

»Neben den Zehn Geboten natürlich«, ergänze ich auf die Art, die meine Mum immer als Klugscheißerei bezeichnet.

»Wieso?« Anouk klingt, als wäre es geradezu beleidigend, dass wir sie und Kaya für so beständig halten.

»Weil ihr so was wie William und Kate seid.«

»Nur ohne die Skandale in der Familie«, werfe ich ein.

»Kannst du mal damit aufhören?«, schnauzt mich Anouk regelrecht an.

Ich will ein »Womit?« zurückblaffen, aber die Frage wird durch eine Portion besonders heißen Käse an meinem Gaumen erstickt.

»Ich könnte erzählen, dass Kaya und ich uns getrennt haben, und ihr würdet immer noch dumme Sprüche bringen. So funktioniert das hier«, sie fuchtelt mit den Händen über unserem Set-up aus Pizzaschachteln und Picknickdecken, »aber nicht.« Mir ist schon klar, was sie mit das hier meint. Es ist unser Zirkel der Ehrlichkeit, der Offenheit, der Pizzakäsigkeit und der unausgesprochenen Erlaubnis, jeden Mist zu artikulieren, sollte er noch so daneben sein. So funktioniert Freundschaft eben.

»Aber …«, flüstert Anna mit matter Stimme, »ihr gebt mir nun mal Hoffnung auf ewige Liebe.«

Anouk schnaubt. Und ich auch. Zumindest in Gedanken. Ich glaube nicht an die ewige Liebe. Es ist schwer, das zu tun, wenn man mit Silke Mühlford groß geworden ist, bei der die Ewigkeit oft nur bis zum nächsten Samstag reicht. Generell fällt mein Glaube an die Liebe eher in die Kategorie Atheismus. Meine einzige Erfahrung mit etwas, von dem ich dachte, es könnte romantische Liebe sein, war ein zu großer Reinfall. Manchmal vergehen Wochen, ohne dass ich ein einziges Mal an die Sache mit Laurenz denke. Dann wieder erinnere ich mich an unsere kurze Affäre, als wäre sie nicht mir, sondern einer guten Freundin passiert, der ich auf die Schulter klopfe und sage: Sei froh, dass du den los bist, er hatte dich nicht verdient. Doch hin und wieder sind der Schmerz und die Demütigung so präsent, dass ich die Worte, mit denen er unsere gemeinsamen sechs Wochen beendet hat, in meinem Kopf widerhallen höre: »Lass mal gut sein, Polly, du scheinst das hier für ’ne Beziehung zu halten. Aber ich kann nicht mit jemandem wie dir zusammen sein.« Und egal, wie selbstbewusst ich auch bin, es ist beschissen, wenn die Erinnerung an das erste Mal unweigerlich und für immer mit einem Kerl verknüpft ist, der ein gemeinsames Outing mit einem »Lass mal gut sein« abgeschmettert hat.

Laurenz war groß, gut aussehend, muskulös und Kapitän der ersten Mannschaft vom Lansberger FC. Er stand unverkennbar auf kräftige Frauen und liebte es, mir im Bett auf den Hintern zu hauen. Vor seinen Kumpels zeigte er sich jedoch ausschließlich mit hauchzarten Blondinen und klopfte sich brüllend vor Lachen auf die Schenkel, wenn seine Bros unsere übergewichtige Mathelehrerin als deutschen Panzer bezeichneten. Kurz: Seit Laurenz bin ich durch mit schönen Sportlertypen, die sich was auf ihre Männlichkeit einbilden, aber nicht Manns genug sind, zu ihren eigenen Vorlieben zu stehen.

»Aber es ist wahr«, beteuert Anna, und auf einmal bin ich wieder im Hier und Jetzt. Auf der Wiese der Vogels statt am Tiefpunkt meines Lebens, an dem ich das erste und letzte Mal überlegt habe, mich für einen Typen zu verändern. »Vor ein paar Monaten saß ich kreuzunglücklich in Portugal und habe mir etwas gewünscht, das so ist wie das, was du und Kaya habt. So geht’s dir doch auch, Polly? Oder, Polly? Polly?«

Ich blinzle hektisch, ringe mit meiner Aufnahmefähigkeit. Die Erinnerung an Laurenz hat mich wohl doch mehr aus dem Konzept gebracht, als ich zugeben würde. »Nun ja, also … Ich will nicht unbedingt dieses ganze … ihr wisst schon … dieses Feste-Beziehung-Ding. Also, nicht jetzt. Weil jetzt will ich erst mal studieren, in eine Kanzlei einsteigen und dort Partnerin werden, bevor ich dreißig bin. Aber danach … ja, danach strebe ich einen Kayanouk-mäßigen Lifestyle an.«

Anouk sieht mich eine Sekunde streng an, dann bricht sie in Gelächter aus und bewirft mich mit einer Peperoni, die von ihrer Pizza gefallen ist. »Hören wir auf, über mich und meine imaginären Probleme zu reden. Das heißt, du, Polly, darfst jetzt darüber sprechen, wie geil der Unistart war, und Anna darf schwärmen, wie hot Fynn ist.« Sie wedelt lapidar mit der Hand inklusive peperonilosem Pizzastück hin und her. »Oder was auch immer dir unter den Nägeln brennt, seitdem du so verdammt gut gelaunt aus dem Auto gestiegen bist.«

Anna und ich tauschen einen unsicheren Blick, doch dann hält auch sie es nicht mehr aus, kichert und fragt: »Darf ich echt?«

»Gleich«, unterbreche ich sie. »Vorher muss ich euch noch die Stellenbeschreibung meines neuen Jobs zeigen.« Ich hole mein Handy aus der Gesäßtasche und tippe auf den Browser, in dem derzeit hundertsiebenunddreißig Tabs geöffnet sind. Da ich in den letzten Wochen parallel nach einem Studentenjob und einer Bleibe gesucht habe, musste der Arbeitsspeicher meines Handys alles geben. Von der überraschenden Zusage habe ich den beiden schon erzählt, doch die Details des Jobs erfahren sie erst jetzt.

»Seit dem Schuppen-Fail zweifle ich an meiner Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, also müsst ihr mir helfen.«

»Moment«, höre ich Anouk sagen, nachdem ich die Ausschreibung fertig vorgelesen habe und meine Freundinnen abwechselnd Beifall heischend ansehe. »Als du was von Nebenjob erzählt hast, dachte ich irgendwie, es wäre … juristischer.«

»Juristischer, genau, das ist das Wort, nach dem ich auch gesucht habe.« Anna nickt bestärkend.

»Wieso? Es ist in einer großen Wirtschaftskanzlei.«

»Ja, aber als … wie nennen sie das?« Anouk beugt sich nach vorn, um die Headline auf dem kleinen Handydisplay lesen zu können. »Office Management Support? Ist Office Management nicht ein schicker Begriff für Mädchen für alles

»Ich glaube auch, du wirst da Konferenzräume aufräumen, Kaffee kochen und neue Druckerpatronen bestellen.« Anna legt besorgt eine Hand an die Wange.

»Genau«, erwidere ich und grinse diebisch. Dann offenbare ich ihnen meinen Plan, den ich von Anfang an bei der Bewerbung auf diese Stelle verfolgt habe. »Keine Kanzlei von dieser Größe und Reputation gibt mir einen Job, bei dem ich wirklich mit Klienten in Kontakt komme. Warum auch? Dass ich seit vierundzwanzig Stunden Jura studiere, wird sie bestimmt nicht beeindrucken. Also ziehe ich so eine Art Trojanisches-Pferd-Nummer ab.«

»Du infiltrierst sie in einem riesigen Holztier?« Anouk unterstreicht jede Silbe mit einem skeptischen Blinzeln.

»Zum ersten Teil: ja. Ich infiltriere. Aber … ich koche nicht einfach nur Kaffee. Ich koche Kaffee und networke dabei. Ich räume nicht einfach nur den Konferenzraum auf, ich bekomme dabei exklusive Einblicke in die Fälle von Gayleway & Gabel. Rein zufällig eine der größten internationalen Wirtschaftskanzleien und nur zehn Minuten von meinem zukünftigen Campus entfernt.«

Anna und Anouk sehen mich so an, wie sie es immer tun, wenn ich mich zu sehr in die Gedanken an meine zukünftige Karriere hineinsteigere. Ihre Blicke sagen irgendetwas zwischen »Wow, Polly ist echt zielstrebig« und »Scheiße, Polly hat komplett den Verstand verloren«.

»Also … bestimmt ist der Job als Office Managerin wichtig und lobenswert. Aber ich dachte, du wolltest etwas, das … na ja, imposanter im Lebenslauf wirkt.«

»Du lässt mich nicht ausreden, Anna.« Beide lachen, weil es zugegebenermaßen ironisch ist, dass ich jemandem vorwerfe, mich nicht aussprechen zu lassen. »Okay, long story short: Ich fuchse mich irgendwie durch, schleime mich bei den wichtigen Leuten ein, sage etwas irre Schlaues zum richtigen Zeitpunkt – und schwups! –, bekomme ich den Job, den ich wirklich möchte.«

»Das Verrückte ist«, Anouk klingt auf ihre einzigartige Weise trocken und humorvoll zugleich, »bei dir klappt so ein bekloppter Plan wahrscheinlich auch noch.«

»Oooh ja.« Ich grinse zufrieden.